Jüdischer Gottesdienst auf Hitlers Kanzel

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April 1945: Militärrabbiner betete mit jüdischen Kriegsgefangenen aus Palästina und US-Soldaten am NS-Reichsparteitagsgelände…

Von Jim G. Tobias

In den Morgenstunden des 20. April 1945, dem 56. und letzten Geburtstag Adolf Hitlers, marschierten US-Truppen in die Stadt der Reichsparteitage ein. Schon am Abend wehten die amerikanischen Flaggen inmitten der Nürnberger Ruinenlandschaft. Stolz paradierten GIs über den Marktplatz. Mit der 3. und 45. US-Infanteriedivision kam auch der jüdische Geistliche David Max Eichhorn nach Franken.

Seit 1942 diente der Militärrabbiner bei den amerikanischen Streitkräften. Eichhorn nahm auch an der Befreiung des Nürnberger NS-Lagers STALAG 13 teil. Dort waren Tausende russische, englische und amerikanische Kriegsgefangene eingesperrt gewesen. Darunter befand sich auch eine Gruppe jüdischer Soldaten aus dem damals noch von England verwalteten Palästina. Diese britischen Armeeangehörigen waren 1941 bei den Kämpfen um Griechenland von der deutschen Armee gefangen genommen worden. Zwei Tage später nahmen einige der nun befreiten Soldaten am vermutlich ersten jüdischen Gottesdienst im besetzten Nürnberg teil.

In seinen 1962 publizierten Erinnerungen „The Capture of Nuremberg“ beschreibt Rabbiner Eichhorn das denkwürdige Ereignis: Sonntagnachmittag, den 22. April 1945, erreichten zwei amerikanische Jeeps das Reichsparteitagsgelände. Am ersten Fahrzeug prangten zwei weiße Davidsterne. Neben dem Rabbiner saßen sein Assistent und fünf aus dem Gefangenenlager befreite palästinensische Juden. Der zweite Wagen war mit weiteren fünf jüdischen Soldaten besetzt; Amerikaner, die an den Kämpfen um Nürnberg teilgenommen hatten. Im überfüllten Jeep des US-Militärkaplans befand sich zudem noch ein Holzkasten mit einer Thora-Rolle. Langsam näherte sich die kleine Wagenkolonne der Zeppelin-Tribüne. „Ich stoppte den Jeep vor der Rednerkanzel, über der ein glänzendes, mit Blattgold überzogenes Hakenkreuz angebracht war“, berichtet David M. Eichhorn. Die Soldaten stiegen aus ihren Fahrzeugen, bildeten eine Ehrenformation und trugen die Thora-Rolle auf die Rednerplattform. Genau an den Platz, wo Hitler mit seinen Hasstiraden den Weg in den Holocaust vorbereitet hatte, las der Geistliche aus der Heiligen Schrift und zelebrierte einen jüdischen Gottesdienst.

Nachdem Lieder und Gebete verklungen waren, fassten sich die amerikanischen und palästinensischen Juden an den Händen und formten einen Kreis um den Rabbiner und die Thora-Rolle. „Wir versprachen uns“, so erinnert sich David M. Eichhorn „nicht eher zu ruhen bis der Tyrann Hitler endgültig zerschmettert wäre und das Volk Israel einen eigenen Staat in Palästina gegründet hätte.“


Die Zeppelintribüne auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände
Quelle: Bundesarchiv

Etwas später marschierten Einheiten der 3. und 45. US-Division auf das Reichsparteitagsgelände. In einer Ansprache beglückwünschte der Kommandeur der 7. amerikanischen Armee, General Alexander M. Patch, seine Soldaten und zeichnete einige der Männer mit der höchsten Tapferkeitsmedaille aus. Zum Abschluss der Siegesfeier legten GIs eine Dynamitladung an das riesige Hakenkreuz und sprengten das verhasste Nazisymbol in die Luft. Die Gefühle der zuschauenden Juden beschreibt Rabbiner Eichhorn so: „Von den Tausenden jubelnden Soldaten war sicherlich keiner emotional so aufgewühlt wie die sieben Amerikaner und die fünf ,Israelis‘, die sich um den Jepp mit den aufgemalten Davidsternen drängten.“

3 Kommentare

  1. Jim Tobias hat mit seinem erstklassigen Beitrag auch Klarheit über die Wiederaufnahme jüdischen Lebens in Bayern geschaffen. I. Offmann, seit langen Jahren Gemeindevorsteher für Niederbayern in Straubing, einst Mitglied im Direktorium des Zentralrats, war bisher der Meinung, der G´ttesdienst in der schwer geschändeten, aber nicht niedergebrannten Synagoge zu Straubing um 28. April 1945 sei der erste in ganze Bayern gewesen. Damals hatten sich der 19-jährige Offmann und weitere Überlebende des Flossenbürger KZ-Nebenlagers Ganacker bei Landau an der Isar und der im Straubinger Raum gestrandeten und von US-Soldaten befreiten Häftlinge aus Todesmärschen aus Flossenbürg im Tempel um einen US-Militärrabbiner versammelt und in stundenlangen Gebeten ihren Triumph über Hitler verinnerlicht. Wenn man Offmann heute darüber sprechen hört und seine tiefe Bewegung erlebt, kann man sich ein bisschen vorstellen, wie unglaublich tief die Gedanken und Gefühle damals gingen, welches Glücksempfinden inmitten des grauenvollen Elends sich einstellte, wie viele Hoffnungen sich entwickelten.Und es gehört zu den ganz großen Freuden jüdischen Lebens in der Gegenwart, dass ausgerechnet in Bayern, woher die meisten der übelsten Nazis stammten, eine niederbayerische Gemeinde mit rund 1.700 Mitgliedern existiert, mit Rabbiner, Lehrern, einem lebhaften Gemeindeleben. Gar nicht am Rande interessant: Heute leben in Niederbayern so viele jüdische Deutsche wie nie zuvor in der Geschichte, die hier schon seit dem 9./10. Jahrhundert Pogrome sah, in Deggendorf, Straubing, Passau, Landshut und in kleineren Gemeinden. Bald nach Nürnberg und Straubing gab es G´ttesdienste in den vielen DP-Camps der Region, häufig unter Leitung jenes US-Soldaten und Rabbiners Chaplain Lipmann, der mit unglaublicher Geduld und mit großem, Einfallsreichtum eine Art interner Postgesellschaft in die Gänge brachte, eine riesige Kontaktbörse vor allem für überlebende deutsche und osteuropäische Juden, die sich in den DP-Camps versammelt hatten und nun verzweifelt nach ihren Familien suchten, nach ihren Frauen, Männern und Kindern und sonstigen Verwandten. Rabbiner Lipmann bewältigte alle Schwierigkeiten.
    @Professor Eliahu Bronfmanns überraschende Schärfe verstehe ich nicht: Zum Beispiel im DP-Camp 7 Deggendorf mit bis zu 1.965 Ãœberlebenden wirkten zahlreiche zionistische Aktivisten auf vielen Gebieten des täglkichen Lebens und der zukünftigen Lebensplanung. Eines ihrer Hauptanliegen war es, die Menschen einerseits für „Palästina zu gewinnen“ und „für Palästina fit zu machen“. In der Lager-eigenen „Center Revue“ war in vielen Beiträgen von den „Möglichkeiten der Ausreise nach Palästina“ die Rede, die aus Berlin verschleppte Studienrätin a.D.Käthe Breslauer lud zu einem Vortrag über „meine Reise durch Palästina im Jahre 1937“ ein. Mir ist nicht klar, was ein inner-israelischer Streit vor allem über parteipolitische und damit staatspolitische und völkerrechtliche Grundfragen mit einer beachtenswerten Forscher-Entdeckung des Jim Tobias zu tun hat?

  2. Lieber Prof. Eliahu Bronfman,

    möglicherweise hätte Ihr Grossvater das Wort „palästinensisch“ nicht in den Mund genommen, geschrieben hat er’s :

    „…were a number of Palestinian Jews…“, „Americans and Palestinians joined hands…“.
    Später schrieb er sogar von „five Israelis“.

    Nach meiner Kenntnis waren diese Bezeichnungen umgangssprachlich auch in linkszionistischen Kreisen nicht unüblich.

    Jim G. Tobias

  3. Was keiner wissen kann, obwohl mancher se muesste:
    Rabbi Eichorn war mit einem der „palästinensischen“ Juden vwerwandt, und beide wussten es. Ich weiss es auch, da ich der gleichen Familie entstamme.

    Allerdings: weder mein Grossvater Eichhorn, noch mein Onkel, der gefangengenomene „palästinensicher“ Jude hätten die Bezeichnung „palästinensisch“ in den Mund genommen. Um nichts in der Welt. Mein Onkel betrachtete sich als links-sozialistisch-zionistischer Palästina-Einwanderer (Kolonist), der sich sowohl für eine jüdische Nationalheimstätte als auch für eine demokratische arabisch-palästinensische Heimstätte einsetzte. Rabbi Opa Eichhorn dachte (und schrieb es nieder!) ganz ähnlich …

    Sie sind sich danach, die beiden, auch ganz nah geblieben, was unsere private Archiv – mit über 400 Seiten Korrespondenz der beiden – belegt.

    Ich danke Ihnen, dass Sie meine Ahnen erwähnen, ich bestehe aber auf eine objektivere Darstellung: beide meiner oben genannten Verwandten hätten das heutige Israel von Bibi, Avigdor, Ehud, Siedler und extrem-nationalistischen Jungableger der faschistoiden Parteien entscheiden verdammt. Ich auch.

    Ich danke allen für die zum Lesen nötige Toleranz 🙂

    E.B.

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