Die Geschichte der psychoanalytischen Pädagogik kann man in drei Perioden einteilen: Vorgeschichte, Geschichte und Überleben. Nach Überleben kommt die Gegenwart, mit der ich mich ebenfalls beschäftigen werde…
Von Ernst Federn
Widerstände der Eltern
Die Vorgeschichte beginnt ungefähr mit Sandor Ferenczis Vortrag auf dem Salzburger Kongress 1908 über „Psychoanalyse und Pädagogik“. Es folgten 1910 Ernest Jones und 1912 Oskar Pfister. Bald darauf Otto Rank, Hans Sachs und vor allem Helmine Hug-Helmuth, die als erste mit einzelnen Kindern Psychoanalytische Pädagogik betrieb. Freuds Lehren hatten die Bedeutung der ersten Kindheitsjahre klar gelegt, und im Beginn war die Folgerung, man könnte durch Beeinflussung dieser Jahre vielleicht die Entwicklung der Neurosen verhindern, einleuchtend. Freuds Entdeckungen der Bedeutung der Kindheit des Menschen wiesen eindeutig auf die Wichtigkeit hin, die Erziehungsmaßnahmen hatten. Nun gab es aber noch sehr wenige Psychoanalytiker, viele unter ihnen waren Ärzte. Mit der Bedeutung der Erziehung beschäftigte sich 1912 einer der ersten Nichtärzte, der Pfarrer Oskar Pfister aus Zürich.
Zu den Schwierigkeiten, die zuerst offenbar wurden, gehörten die Widerstände der Eltern gegen die psychoanalytischen Erkenntnisse. Diese bestanden in den ersten zwanzig Jahren, also bis etwa 1920, in den Entdeckungen des kindlichen Sexuallebens, welches im allgemeinen von der Gesellschaft nicht angenommen wurde.
Hieraus erwuchs die Forderung, dieses Sexualleben von Strafen und Drohungen zu befreien; es wurde eine neue Erziehung gefordert. Freud selber sah frühzeitig die Schwierigkeiten bezüglich einer Vereinbarkeit von Freiheit des Trieblebens und notwendiger gesellschaftlicher Kontrolle. In den Anfangszeiten gab die Psychoanalyse der Entwicklung des Ichs wenig Aufmerksamkeit, ja, dieses wurde dem Bewusstsein gleichgestellt, man beschäftigte sich mit dem Unbewussten. Erst 1909, mit der Entdeckung des Narzissmus, beginnt die psychoanalytische Ich-Psychologie. Mit der Annahme des Ichs als wichtiger Instanz auch im unbewussten Seelenleben – im Buch über „Ich und Es“ – hat Freud die richtige Brücke über die Psychoanalyse gebaut, durch die sie in die Pädagogik eindringen konnte. Dass die Erziehung sich der Errichtung des Ichs zuwenden müsse, wurde langsam offenbar, und mit der neuen Lehre vom Ich und Überich wurde das Gebiet klarer abgesteckt. Erziehung zielt auf die Entwicklung des Ichs und psychoanalytische Erziehung tut das mit voller Berücksichtigung von Es und Überich. Als zweite Entdeckung kam hinzu, dass durch die kindliche Anamnese des sechsten Lebensjahres mit einem Ich gerechnet werden muss, das kein Verständnis für das Es aufbringt. Psychoanalytische Pädagogik entwickelte daher das Verständnis dafür, dass Kinder unter sechs Jahren anders zu behandeln sind als Jugendliche oder Erwachsene. Das wurde erleichtert durch das Hinzukommen von Lehrern zu der psychoanalytischen Bewegung. Am 19. November 1918 hielt Siegfried Bernfeld bereits einen Vortrag über „Die Dichtung der Jugendlichen“ vor der Psychoanalytischen Vereinigung Wiens, und damit beginnt die Psychoanalytische Pädagogik, sich auf die Periode der Adoleszenz auszudehnen. Der Vortrag erschien als Buch „Vom dichterischen Schaffen der Jugendlichen – Neue Beiträge zur Jugendforschung“ ( 1924) im Internationalen Psychoanalytischen Verlag.
Bernfeld gehörte überhaupt zu den Pionieren der Psychoanalytischen Pädagogik (vgl. den Beitrag von T. Erich, in psychosozial Nr. 53). Er war zwar kein Lehrer, aber ein bedeutender und charismatischer Jugendführer. Durch sein Buch „Sysiphos oder die Grenzen der Erziehung“ (1925) zeigte er die Grenzen psychoanalytischer Erziehungen auf und etablierte die Wichtigkeit des „sozialen Ortes“. Er hatte seine Erfahrungen in dem weniger als ein Jahr bestehenden Versuch des Kinderheimes Baumgarten – einem Pionierprojekt für jüdische Kinder und Jugendliche, die durch den Krieg zu Waisen geworden waren – 1919/1920 gemacht.
Der Durchbruch zu einer Psychoanalytischen Pädagogik kam 1925 mit August Aichhorns Buch „Verwahrloste Jugend„. Hier wendet ein Erzieher die Psychoanalyse auf die Erziehung und Behandlung verwahrloster Jugendlicher an. Die entscheidende Entdeckung war die Differenzierung zwischen latentem und manifestem Gehalt der Aktionen Jugendlicher, die Bedeutung des Einflusses der Übertragung auf das Überich und die Möglichkeiten, jugendliches Ausagieren in neurotische Konflikte umzuwandeln. In seinem Vorwort zu diesem Buch sagt Freud:
„Wo diese (besondere Einstellung) zum Analytiker fehlt wie beim Kind und beim jugendlichen Verwahrlosten, in der Regel auch beim triebhaften Verbrecher, muss man etwas anderes machen als die Analyse, was dann in der Absicht wieder mit ihr zusammentrifft.“
Damit hatte Freud der Psychoanalyse ein neues Gebiet erschlossen, die Psychoanalytische Pädagogik, deren Geschichte mit dem ersten Band der Zeitschrift dieses Namens im Jahre 1926 beginnt. Im Oktober 1926 erscheint die erste Nummer, herausgegeben von dem Arzt Heinrich Meng in Stuttgart und dem Universitätsprofessor Dr. Ernst Schneider in Riga. Der erste Verlag war Hippokrates, ziemlich bald ging die Zeitschrift in einen Eigenverlag, dann in den Psychoanalytischen Verlag in Wien über. Als Übereinstimmung sagt Schneider: „Die Psychoanalyse als Heilverfahren, die das Unbewusste bewusst macht und die verfehlte Ordnung zu stiften unternahm, wurde immer als eigentliches pädagogisches Verfahren gewertet.“
Mit dieser Zeitschrift beginnen zwölf Jahre der Ausdehnung der psychoanalytischen Bewegung, die allerdings in Deutschland nach sechs Jahren ihr Ende fand. Diese Bewegung wurde mit einer psychologischen Woche in Stuttgart vom 25. bis 31. August 1927 eröffnet. Vortragende waren Siegfried Bernfeld (Berlin), Karl Landauer (Frankfurt/Main), Heinrich Meng (Stuttgart), Oskar Pfister (Zürich), Ernst Schneider (Riga) und Hans Zulliger (Bern). Es waren also zwei Ärzte, Meng und Landauer, und vier Nichtärzte vertreten. Wir wissen auch, dass über 120 Zuhörer kamen und die Veranstaltung ein großer Erfolg war. Aus England gab es in diesem Jahr nur eine Mitarbeiterin, Mary Chadwick, die mit dem Aufsatz „Ein Experiment in einem Kindergarten“ zeigte, wie hilfreich psychologische Beratung im Kindergarten ist.
Internationales Interesse für die Psychologie des Kindes
Im zweiten Jahr kommt noch Isidor H. Coriat aus Boston mit einem Beitrag „Die Verhütung des Stotterns“ dazu. Wir lernen aus einer Fußnote, dass Coriat im Jahre 1926 einen Aufsatz über „The Psychoanalytic Approach to Education“ („Der Psychoanalytische Annäherungsversuch an die Erziehung“) im 31. Jahrgang von „Progressive Education“ verfasst hatte.
Zu einem rein psychoanalytischen Jahrbuch über das Kind kommt es in den Vereinigten Staaten aber erst 1945, darüber später.
1926 gab es eine Sonderschrift über sexuelle Aufklärung und 1927/28 zwei über Onanie und über Stottern. 1964 bringen Günther Bittner und Wilhelm Rehm in einem Band „Psychoanalyse und Erziehung“ 19 Beiträge aus den zehn Bänden der Zeitschrift. Dies war nach knapp drei Jahrzehnten der erste Versuch, wieder aufleben zu lassen, was 1926 begonnen worden war.
Im Jahrgang 1929 wird über die nationale Lage der Psychoanalytischen Pädagogik berichtet. Eine zweite pädagogische Woche zur Einführung in die Psychoanalytische Pädagogik findet vom 28. Juli bis 3. August 1929 in Stuttgart statt. Es sprachen wieder drei Nichtärzte und zwei Ärzte, Heinrich Meng und Willie Hoffer. Nelly Wolfheim berichtet über eine Weltkonferenz zur Erneuerung der Erziehung in Helsinki mit 200 Teilnehmern. Sie schreibt:
“ Die Psychologie ging zum Teil ganz andere Wege des Denkens als sie uns geläufig sind. Trotzdem: Die Erweckung der Tiefenpsychologie war auch hier vielfach nicht zu übersehen. Der Name Freuds, die mit seinem Namen verknüpften Gedankenrichtungen traten an den verschiedensten Stellen auf (III, 496).
Prynce Hopkins von der Universität London sprach über Freuds Stellung zu Erziehungszielen und Methoden. Es gab auch einen psychoanalytischen Erziehungskurs, der leider unter schlechter Organisation litt, jedoch viel Interesse fand. Aus Frankreich war zum Kongress René Laforgue gekommen, er sprach „Über die Mechanismen der Selbstbestrafung bei Kindern“.
Aus Kanada bringt die Zeitschrift einen Aufsatz des Psychoanalytikers Dorian Feigenbaum über „Psychologische Probleme der Kindheit und ihre Bedeutung für die Erziehung“, den er auf der Konferenz Weltverbindung der Erziehungsgesellschaften in Toronto gehalten hatte.
Wir sehen also, wie ein internationales Interesse für die Psychologie des Kindes in die Psychoanalyse einzudringen beginnt.
Für 1930 beabsichtigt der Berliner Stadtrat Dr. Vollrath einen Kurs über Psychoanalyse und Fürsorgearbeit für Fürsorgerinnen, 1931 hält Paul Federn einen Vortrag über „Psychologie der Familienfürsorge“ im Wiener Verein Settlement. Die Ausdehnung psychoanalytischen Wissens auf soziale Gebiete hatte ihren Anfang genommen; allerdings war nach zwei Jahren alles vorbei.
Für 1930/31 kündigt in Wien August Aichhorn ein Praktikum in Horten, Tagesheimstätten und Kinderheimen an. In Berlin leiteten Müller-Braunschweig und Siegfried Bernfeld eine pädagogische Arbeitsgemeinschaft.
Die Entwicklung in den Dreißigern
In der Zeitschrift selbst gibt es seit 1931 fünf Herausgeber. Zu Meng und Schneider kommen Paul Federn, Anna Freud und für ein Jahr A. J. Storfer dazu, der aber 1932 von August Aichhorn abgelöst wird. 1933 tritt Hans Zulliger bei, und es wird eine Veränderung in der Herausgeberschaft vorgenommen. Wilhelm Hoffer erscheint als Schriftleiter. Dahinter steht eine Differenz zwischen Freud und Federn, von der wir aus einem Briefentwurf von Federn an Freud vom 2. Mai 1932 wissen.
Federn bestand darauf, alle Artikel der Zeitschrift zu korrigieren, damit sie allgemein verständlich sind. Aichhorn und Anna Freud standen auf dem Standpunkt, jeder Artikel, wenn angenommen, soll so abgedruckt werden, wie er geschrieben ist. Freud entschied gegen Federn, und dieser trat von der Schriftleitung zurück. Die Zeitschrift erschien bis 1937. Im März 1938 vernichteten die Horden Hitlers die Psychoanalytische Pädagogik, wenn wir von den Versuchen der Schweizer, sie zu erhalten, absehen. Als Bewegung war sie tot, das heißt als auf Lehrer und Erzieher gerichtete Geistesströmung. Sie wurde durch die Kinderanalyse und Kleinkinderforschung ersetzt, vertreten zunächst einmal durch Anna Freud und Melanie Klein in England, von wo aus die Ideen nach 1945 von Nord- und Südamerika übernommen wurden. Die in der ersten Periode der Psychoanalytischen Pädagogik vertretenen Ansichten von einer Befreiung des Kindes, wie sie zum Beispiel in Friedrich Wittels gleichnamigem Buch dargestellt wurden, verschwanden zugunsten der Versuche, die Entwicklung des Kindes so früh wie möglich nachzuvollziehen und festzustellen, wo etwas falsch laufen könnte.
In England wurde während des Krieges von Anna Freud und Dorothy Burlingham, die sich der Blitzkriegsopfer annahmen, große Studien über Kinder im Krieg begonnen. Psychoanalytische Pädagogik war das aber nicht. Anna Freud, die einmal selbst Volksschullehrerin gewesen war, glaubte nicht an die Anwendung der Psychoanalyse in der Schulpädagogik, wohl aber im Kindergarten. Vor dem Einmarsch der Nazis in Wien im Jahre 1936 hatte sie einen Kindergarten am Rudolfsplatz eingerichtet. Da ihre kinderanalytischen Forschungen sehr viel Erzieherisches enthalten, worin sie sich von Melanie Klein unterscheidet, müssen sie in einem Bericht über Psychoanalytische Pädagogik erwähnt werden. Vor allem ist Anna Freuds 1963 erschienenes Buch „Wege und Irrwege in der Kinderentwicklung“, 1968 deutsch bei Huber und Klett herausgekommen, mit seinem Hinweis auf die Bedeutung der Ich-Entwicklung, Teil der psychoanalytischen Pädagogik.
Melanie Klein ging andere Wege, die zur Behandlung schwerst gestörter Kinder führte, aber weg von Schule und gesellschaftlichem Leben.
Donald Winnicott brachte uns zusammen mit anderen Engländern wichtige Erkenntnisse über frühe Mutter-Kind-Beziehungen und muss daher auch genannt werden. Aber die eigentliche Psychoanalytische Pädagogik gab es nur mehr bei Hans Zulliger in Bern. Eines seiner Verdienste ist, die Bedeutung des deutungsfreien Spieles in der Behandlung kindlicher Probleme aufgezeigt zu haben. Zulliger setzte seine Arbeiten während des Krieges in Bern fort und hatte bald nach dem Krieg wieder Einfluss auf deutsche Therapeuten, von denen vor allem Adolf Friedemann genannt werden muss. Er war Gruppentherapeut und Vertreter von Zulligers Ideen. In Deutschland gab es die Gruppe der Psychagogen, Vertreter von Ideen, die auf den Pfarrer Oskar Pfister zurückgehen. Sie übernahmen vieles von dem, was in den Anfängen der Psychoanalytischen Pädagogik gelehrt wurde.
Ich springe jetzt zeitlich vor: Die psychoanalytische Arbeit mit Gruppen gehört nicht direkt zur psychoanalytischen Pädagogik, weil Lehren und Therapieren zwei sehr verschiedene Tätigkeiten sind. Da der Lehrer vor allem mit Gruppen arbeitet und manches, was in der Gruppentherapie Bedeutung hat, auch für die Schulklassen gilt, sollte er etwas davon verstehen. Zulliger war einer der ersten, der auf diese Zusammengehörigkeit hinwies. Mehr kann in dieser geschichtlichen Skizze aber nicht gesagt werden.
Stillstand der Entwicklung
Mit dem Ende des Krieges bleibt die Psychoanalyse für einige Zeit bei dem stehen, wozu die Emigration sie gebracht hat: Behandlungen von seelischen Störungen. In Bezug auf verwahrloste Kinder und Jugendliche, bei denen Behandlung und Erziehung ineinander übergehen, wurden diese Zusammenhänge von Fritz Redl, Kate Friedländer, Sam Slavson und einigen anderen aufgezeigt. In einem gewissen Sinn gehört dieser Problemkreis auch in die Psychoanalytische Pädagogik. Er beginnt mit August Aichhorn und legt großen Wert auf die persönlichen Beziehungen zwischen Erzieher und Jugendlichen, also auch vom Lehrer zu seinen Schülern. Es liegt darin eine Anwendung Psychoanalytischer Pädagogik. Hier muss auch Erik Erikson genannt werden. Kinderanalyse im Sinne Anna Freuds, zu deren Schülern und Mitarbeitern er gehört hatte, ist in vieler Hinsicht auch Erziehung des Kindes. In seinem großen, erfolgreichen Buch „Kindheit und Gesellschaft“, 1950 in den Vereinigten Staaten erschienen, es wurde aber erst 1971 in das Deutsche übersetzt, zeigt Erikson die Beziehung zwischen individuellen und sozialen Entwicklungen auf. Nun ist aber die Schule der Platz, wo das Kind in die Gesellschaft eintritt, und daher ist Eriksons Werk Teil der Psychoanalytischen Pädagogik, mit der er ja in Wien auch seine Arbeit als Psychoanalytiker begonnen hat.
Ähnliches darf auch von Fritz Redl gesagt werden, der zuerst vom „Lebensraum Interview“ (Lifespace interview) geschrieben und wichtige Beiträge zur Gruppenarbeit geliefert hat. Wir verdanken es Reinhart Fatke, Fritz Redl in den siebziger Jahren wieder nach Deutschland gebracht zu haben. Über Reinhart Fatke noch einmal später.
Nun muss einiges über das Erziehungswesen in den Vereinigten Staaten gesagt werden. Es ist vollkommen anders als auf dem europäischen Kontinent, etwa ähnlich dem englischen System, aber auch von ihm unterschieden. Vor allem ist Erziehung nicht eine Angelegenheit des Staates, sondern ein privates Investment der Familie, finanziert von der Gemeindeverwaltung; es gibt Zeiten, in denen Schulen in manchen Gemeinden wegen Geldmangel im Jänner zugesperrt werden müssen. Die die Schulerziehung beherrschende Philosophie war und ist eine Verhaltenslehre von Hohn Dewey, einflussreicher Professor an der Columbia University von New York. Er war stark von den Verhaltensforschern John Watson und R. F. Skinner beeinflusst. Was erfolgreich ist, ist gut, alles kann erreicht werden. Die einzige Aufgabe der Psychologie ist, zu beschreiben, was man sieht. Sie hatten und haben einen großen Einfluss auf die Lehrerausbildung in den Vereinigten Staaten. Das soll nicht bedeuten, dass es nicht Ansätze zu psychoanalytischem Denken gab oder gibt. Man konnte diese in privaten Schulen finden und in der Behandlung verwahrloster Jugendlicher in einigen Heimen. Aber von einer Psychoanalytischen Pädagogik als anerkannte Ideenströmung kann man in den Vereinigten Staaten nicht sprechen.
Im Jahre 1945 erschien der erste Band von „The Psychoanalytic Study of the Child„, (Das psychoanalytische Studium des Kindes), die auch heute noch erscheint. Es handelt sich um das Erforschen der kindlichen Seele. In diesen Bänden wird education als Erziehung verstanden. Das ist eine falsche Übersetzung. Education heißt im Amerikanischen das Lehren in der Schule und nach der Schule. Erziehen zu Hause heißt „up-bringing“ und ist Angelegenheit der Eltern, hauptsächlicher der Mutter, gewesen und ist es wohl auch heute noch.
Diese Bände brachten vor allem die neue Entwicklung psychoanalytischer Ich-Psychologie wie sie Hartmann, Kris und Löwenstein entwickelt haben. Diese Richtung in der Psychoanalyse betont den konfliktfreien Teil des Ichs, der sich mit der Anpassung an die Außenwelt abgibt.
„The Psychoanalytic Study of the Child“ ist eine psychoanalytische Buchreihe, das seit 1945 jährlich erscheint, aber es ist nicht Psychoanalytische Pädagogik. Im zweiten Band gab es noch ein Kapitel über frühe Erziehung von Lilly Peller. Diese hervorragende Kinderanalytikerin widmete ihre Arbeit aber vor allem dem Kinde der Vorschulzeit.
Der Versuch in den Vereinigten Staaten, eine Fortsetzung der Tradition der Psychoanalytischen Pädagogik zu erreichen, wurde von Rudolf Ekstein, einem Psychologen, und Rocco L. Motto, einem Psychiater, mit dem Buch „From Learning of Love to Love of Learning, Essays on Psychoanalysis and Eduaction“ (Vom Lernen aus Liebe zum Lieben des Lernens) gemacht. Das Buch erschien 1969 mit einem Vorwort von Fritz Redl. Es ist der psychoanalytischen Erziehung gewidmet, blieb aber, zumindest nach meiner Meinung, ich verließ die Staaten drei Jahre nach seinem Erscheinen, ohne Bedeutung. Dasselbe darf von anderen Aufsätzen Eksteins zu diesem Thema gesagt werden. Heute, wo von einem Verfall des gesamten Schulwesens in den Vereinigten Staaten berichtet wird, kann von einer Psychoanalytischen Pädagogik – außerhalb einzelner privater Schulen – nicht die Rede sein.
Deutsche Entwicklung
Anders verlief die Geschichte in Deutschland. 1964 erschienen bei Huber, Bern und Stuttgart, ausgewählte Beiträge aus der Zeitschrift für Psychoanalytische Pädagogik unter dem Titel „Psychoanalyse und Erziehung“, herausgegeben und eingeleitet von Günther Bittner und Willi Rehm. Bis dahin gab es einzelne Vertreter einer psychoanalytischen Erziehung, vor allem Hans Zulliger in Bern, der aber Schwierigkeiten hatte, sich durchzusetzen.
Auch Julia Schwarzmanns Buch „Volksschule, Lebensschule“ 1978, soll genannt werden. Und in Wien versuchte Lambert Bolterauer mit einigen Mitarbeitern, Ideen der Psychoanalytischen Pädagogik zu vertreten. Eine Wendung trat erst in den achtziger Jahren ein. An mehreren Hochschulen begannen Professoren sich für die Psychoanalytische Pädagogik zu interessieren. Entscheidend waren unter ihnen Alois Leber in Frankfurt/Main und Reinhart Fatke, erst in Tübingen, dann in Fribourg in der Schweiz. Leber kam von der Sozialpsychologie, war ein Schüler von F. Schottländer und damit aus dem Kreis von Heinrich Meng und Paul Federn, den ersten Pionieren der Psychoanalytischen Pädagogik. Er beeinflusste durch seine Tätigkeiten und Bücher Sozialpsychologen und Sozialarbeiter. Wir sehen hier, wie durch kleine persönliche Kanäle eine Idee wieder zum Leben kommen kann.
Reinhart Fatke hatte durch einen Studienaufenthalt in den Vereinigten Staaten Fritz Redl kennengelernt und bei ihm studiert. Am 23. und 24. Oktober 1987 gründete er mit Mitarbeit von Günther Bittner, Burkhart Müller, Hans-Georg Trescher und Johann Zauner die wissenschaftlich Arbeitsgruppe „Pädagogik und Psychoanalyse“ in der Deutschen Gesellschaft für Erziehung. Damit war die Psychoanalytische Pädagogik in Deutschland wieder etabliert. In Frankfurt/Main ist 1984 ein Arbeitskreis für Psychoanalytische Pädagogik entstanden, unter der Leitung des Ehepaares Trescher, der sehr erfolgreich ist. An verschiedenen Universitäten und Hochschulen wird Psychoanalytische Pädagogik wieder vorgetragen. Das Thema ist heute wieder in Deutschland lebendig geworden.
Ernst Federn 1974, © Psychosozial Verlag & Roland Kaufhold
Unterschied zwischen den Zwanzigern und heute
Ich will nur noch kurz beschreiben, worin und wieweit sich das, was 1993 gemacht wird, von dem unterscheidet, was 1926 begonnen wurde. Damals waren es wenige Personen, die die Bedeutung der Psychoanalyse für die Pädagogik erkannt hatten. Heute sind es viele. Alte Widerstände, vor allem auf dem Gebiet der sexuellen Aufklärung, sind weitgehend verschwunden. Auch die Forderung nach freiheitlicher Erziehung ist in einer Demokratie nicht mehr aufregend und Widerstand erzeugend. Damals war man optimistisch und überzeugt: wenn man das Richtige tut, kann die Menschheit auch im allgemeinen ihre Lage verbessern. Die meisten dieser ersten Pioniere der Psychoanalytischen Pädagogik waren Sozialisten -, wenn auch nicht alle. Sie waren überzeugt von der Möglichkeit einer richtig organisierten Gesellschaft. Auch heute sind wahrscheinlich die meisten der psychoanalytischen Pädagogen irgendwie und irgendwo Sozialisten, aber mit dem Wissen, dass eine Verbesserung der sozialen Bedingungen selbst wieder andere Schwierigkeiten erzeugt und die Erfolge immer nur sehr relativ sein können. Darauf hat im übrigen Siegfried Bernfeld bereits 1926 in seinem „Sysiphos oder die Grenzen der Erziehung“ hingewiesen.
Heute ist die Psychoanalytische Pädagogik sehr weitgehend dadurch einen großen Fortschritt in der Kenntnis der Gruppenarbeit bereichert. Die Ich-Psychologie, das Wissen um die frühe Mutter-Kind-Beziehungen, eine fortgeschrittene Einstellung zu schweren Persönlichkeitsstörungen, haben sicher auch die Psychoanalytische Pädagogik beeinflusst. Ihre Zusammenarbeit mit Sozialarbeit, Heilpädagogik, Behindertenrehabilitation ist selbstverständlich geworden. So weiß man heute, dass ein Lehrer in einer Klasse schwerstgestörte Kinder nicht durchbringen kann. Diese Erkenntnis hat zu frühen Überweisungen an Sonderschulen geführt und damit vergebliches Bemühen ausgeschaltet. Viel neurotisches Geschehen hat sich stark verändert, die Sexualität, auch in der Kindheit, ist als mächtiger Faktor anerkannt, zumindest in den westlichen Ländern der Welt. Ein freieres Umgehen mit ihr ist seit der Mitte der siebziger Jahre allgemeiner geworden. Trotzdem weist gerade die Psychoanalytische Pädagogik auf die tieferliegenden, unbewussten Vorgänge im kindlichen Seelenleben hin, die der psychoanalytisch ausgebildete Lehrer nicht übersehen sollte. Das bringt mich zur letzten, allerdings entscheidenden Differenz mit 1926. Damals war man sich noch nicht so klar darüber, welch ein großer Unterschied zwischen psychoanalytischem Handeln und Verstehen besteht.
Das erste sollte, und darüber ist man sich im Klaren, nur auf eine abgesprochene Situation beschränkt bleiben. Es kann immer nur auf eine kleine Gruppe von Menschen ausgerichtet sein. Allerdings, und das ist heutige psychoanalytische Erkenntnis, in diesen psychoanalytischen Behandlungsprozess sollten Lehrer, Pädagogen und Sozialarbeiter mit eingeschlossen sein. Etwas anderes ist das Wissen von unbewussten Vorgängen und deren Macht und Wirkung. In anderen Worten: die heutige Psychoanalytische Pädagogik ist sich bewusst, dass Erziehung und Behandlung zwei verschiedene Tätigkeiten sind. 1980 schrieb der Psychoanalytiker M. Muck ein Buch über „Psychoanalyse und Schule“, dessen Titel bereits auf die von mir angedeutete Richtung hinweist. Was im menschlichen Seelenleben entdeckt wurde und noch wird, soll anerkannt und verwertet werden. Es soll der Erziehungslehre neue Richtungen und Anwendungen schaffen, es soll zeigen, wo und wie der Lehrer und Berater eingreifen kann und wann er solches Eingreifen besser unterlassen soll.
Dieses Wissen ist in der Psychoanalytischen Pädagogik von heute viel klarer geworden, als es vor siebzig Jahren war. Diese Entwicklung wäre früher gekommen, wenn nicht der Ausbruch des Nationalsozialismus so viel zerstört hätte. Er hat aber doch nicht alles vernichten können, und so darf man auf eine fruchtbare Weiterentwicklung hoffen und sie wünschen.
Dieser Beitrag Ernst Federns wurde 1993 in der Zeitschrift psychosozial Heft I/1993 (Nr. 53): Kaufhold (Hg.): Pioniere der Psychoanalytischen Pädagogik: Bettelheim, Ekstein, Federn und Bernfeld, S. 70-77, publiziert; er wurde von R. Kaufhold für diesen haGalil –Themenschwerpunkt durchgeschaut. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors sowie des Psychosozial-Verlages, Prof. Dr. Hans-Jürgen Wirth.