Ernst Federn: Der therapeutische Umgang mit Gewalt

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Der therapeutische Umgang mit Gewalt ist ein komplexes Gebiet, mit dem sich die meisten unter uns lieber nicht befassen. Gewalt ist nicht einfach nur die Frage danach, warum Individuen gewalttätig werden; Gewalt ist vielmehr ein Verhalten, das der moderne Mensch bewältigen lernen muss. Ich erinnere mich an eine Nachricht in der New York Times, wonach die Kambodschaner – die sogenannten Blumenkinder – als das friedvollste Volk der Erde bezeichnet wurde. In Kambodscha ereigneten sich dann jedoch die schrecklichsten Gewalttätigkeiten, die die moderne Geschichte kennt, und die sogar schlimmer als der Terror des Nazi-Regimes waren…

Von Ernst Federn
Auszug aus: Ernst Federn: Ein Leben mit der Psychoanalyse. Von Wien über Buchenwald und die USA zurück nach Wien. Gießen (Psychosozial-Verlag) 1999

Ich war sieben Jahre lang in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald inhaftiert; dort begann ich, mich mit Gewalt zu befassen, was ich in meiner aktuellen Arbeit in zwei fortschrittlichen österreichischen Gefängnissen fortsetzte (E. Federn, 1982). Ich habe so lange und so intensiv unter Gewalt gelebt, dass ich ohne ungebührlichen Narzissmus behaupten kann, dass ich etwas von ihr verstehe. Ich war sehr vieler und großer Gewalttätigkeit ausgesetzt, zum Beispiel wurde ich eine Stunde lang an einem Baum aufgehängt. Ich weiß, wie es ist, Opfer von Gewalt zu sein, weiß aber auch, wie man sich fühlt, wenn man selbst gewalttätig sein will. Dies ging bei mir so weit, dass ich, weil ich frühstücken wollte, während ein Mithäftling totgeprügelt wurde, zu dem Gefangenen, der für die Baracke zuständig war, nur sagen konnte: „Kannst Du das nicht irgendwo anders machen und nicht gerade dann, wenn ich esse?“ Auch nach so vielen Jahren sind diese Bilder in mir noch lebendig. Und sie haben mich gelehrt, dass man bei genauer Introspektion Versuchungen zu hässlichem, gewalttätigen Verhalten auch bei sich selbst finden kann. Es ist daher wichtig, sich selbst zu kennen. Und damit Sie sich selbst kennen, müssen Sie lernen, Gewalttätigkeit zu verstehen.

Zum Anfang scheint es mir daher angebracht, dass ich einige der Ursachen von gewalttätigem Verhalten gegen andere Menschen und gegen sich selbst beschreibe:

Gewalt gegen andere Menschen

Der erste und wahrscheinlich häufigste Grund von Gewalt ist Frustration, und zwar im Sinne von Dollards Frustrations-Aggressionshypothese (1939). Es gibt Menschen, die aus allen nur erdenklichen Gründen so frustriert sind darüber, ihre Bedürfnisse oder ihren Ärger nicht zur Sprache bringen zu können, dass sie sich nicht länger zurückhalten können und in einen Wutanfall ausbrechen. Zu einem solchen Wutausbruch kann sich jede Person getrieben fühlen. Ich sah einmal eine Maus, die einer Katze direkt ins Gesicht sprang und sie damit vertrieb. Da gibt es eine überwältigende Angst oder Frustration. Es gilt, mit diesen umzugehen, denn man kann sie nicht steuern! Nur sollten sie in einem guten therapeutischen Setting nicht vorkommen. Sie sollten vorhersehen, dass wenn ein Jugendlicher über längere Zeit frustriert ist, es zu einem Ausbruch kommen wird, deshalb sollten Sie Ihre Einstellung ihm gegenüber vorausschauend ändern. Manchmal sind es wir selbst, die unbewusst diese Frustration anstacheln.

Die Unfähigkeit zu sprechen oder Ideen, Worte oder Gedanken auszudrücken, ist die zweithäufigste Ursache für Gewalt, wie sie von Nemiah (1977) als Alexithymie bei psychosomatisch erkrankten Patienten beschrieben worden war. Es handelt sich dabei um Erwachsene, die nicht sprechen können, die aber ebenso viel wie andere fühlen und leiden; die einzige Sprache, die sie haben, ist ihre Körpersprache. Aber auch ihre Freundlichkeit zeigt sich in einer guten Körpersprache, insbesondere in ihrem Umgang mit Tieren. Es handelt sich dabei um sehr aggressive Menschen, die zu Tieren sehr gut sind. Sie würden kaum glauben, zu was allem solche Kriminelle fähig sind, obwohl sie andererseits sehr gut zu Tieren sind. Und Sie können sich kaum vorstellen, was einige dieser Kriminellen alles tun, um ihre Lieblingstiere zu hegen und zu pflegen. Ich hatte einmal einen Patienten, der todunglücklich war, weil seine Maus umkam, als er sie fangen wollte. So etwas kann einer Maus zustoßen. Es gibt also diese Art von Ausagieren der Liebe zu Tieren; aber Menschen, die ihre Liebe zu anderen Menschen ausagieren, sind sehr selten gestört. Menschen beginnen vielmehr, Störungen wegen Beziehungsschwierigkeiten zu haben. Wir haben mit Jugendlichen gearbeitet, die nie Zuneigung oder Liebe erfahren haben, und wir wissen nicht, wie sie überleben konnten. Man muss diese Jugendlichen verstehen, um zum richtigen Umgang mit ihnen zu finden. Die Technik für den Umgang mit dieser Art junger Leute wurde sehr gut von Bruce Bona in den beiden letzten Ausgaben von Milieu Therapy (Northrup, 1982 und 1983) beschrieben. Es könnte nötig sein, dass Sie so einen jungen Menschen in Schranken halten müssen, aber man muss den Grund für sein Verhalten verstehen, und indem Sie ihm dazu verhelfen, sich auszudrücken, wird er weniger gewalttätig sein.

Ein dritter Grund für Gewalt ist die Unfähigkeit zur Empathie mit dem Opfer. Es gibt Menschen, die ganz einfach nicht verstehen, was es für einen anderen Menschen bedeutet, wenn er geschlagen wird. Werden sie aber selbst geschlagen, sind sie ungemein entsetzt und schreien wie Babys! Einige sind so gestört und befinden sich auf einem derart infantilen Niveau, dass sie einen Menschen töten können und dann sehr erstaunt sind, dass dieser nach dem Töten nicht wieder aufsteht und sagt „Schon gut!“ Sie würden vielmehr ausrufen: „Was, er ist tot! Wie kommt es, dass er tot ist! Ich habe doch nur mein Messer in ihn hineingesteckt, aber ich wollte ihn doch nicht töten!“  Studieren Sie diese Menschen, dann werden Sie herausfinden, dass einige von ihnen tatsächlich nicht wissen, was Töten bedeutet. Dabei handelt es sich jedoch um eine sehr schwerwiegende Störung, die sowohl kognitiv wie emotional sein kann. Einerseits kann ein Sechzehnjähriger mit dem geistigen Entwicklungsstand eines Dreijährigen, der seine Puppe auseinander nimmt, bitterlich weinen, weil er sie nicht wieder zusammensetzen kann. Andererseits halten gewisse Jugendliche, deren Leben sich ausschließlich auf der Straße abspielt, das Leben für eine Fernsehshow. Sie sind unfähig, Empathie zu entwickeln, d.h. mit ihrem Opfer zu fühlen. Wenn Sie versuchen, solch einen Burschen zu behandeln, müssen Sie sich darüber im klaren sein, dass es ziemlich lange dauern dürfte, bis er dahin kommt, Mitgefühl zu entwickeln. Diese therapeutische Aufgabe darf nur mit einer einzigen Person, auf die er sich bezieht, stattfinden, weil er begreifen muss, dass er jemanden, den er liebt, nicht verletzen darf. Ein Jugendlicher, der diesen ersten Schritt gemacht hat, wird jemanden, den er liebt, nicht mehr verletzen – aber bei einem anderen Typ tut das nichts zur Sache! Als nächsten Schritt wird er dann begreifen lernen, dass jeder, den er schlägt, verletzt ist.

Furcht oder Angst sind weitere Ursachen für Gewalttätigkeit. Solche Menschen leben aufgrund ihrer Lebenserfahrung – oft liegt Kindesmissbrauch vor (Silver et al., 1969, Lewis et al., 1979) – ständig in der Furcht, geschlagen zu werden. Ihr Überlebensmuster heißt: Wer zuerst schlägt, ist seiner Haut sicherer. Dies betrifft natürlich nicht nur Jugendliche; es gibt auch Erwachsene, die erst schießen und dann fragen.

Schließlich und endlich möchte ich noch die sexualisierte Gewalt nennen als Ausdrucksform des „Männergehabe“ so manches Großstadt-Jugendlichen. Sein Dominieren anderer hat auch ein sexuelles Element, das man deshalb hieraus erkennen kann, weil seine Gewalttätigkeit einen Höhepunkt, eine orgastische Qualität hat. Es muss nicht unbedingt sadistisch sein; es ist etwas anderes, denn es geht eher einher mit rigider Kontrolle. Wenn Sie aber beobachten, dass der gewalttätige Akt von Absicht geprägt ist, jemanden anderen ebenso Gewalttätigen unbedingt unterdrücken zu wollen, und dies mit einem Klimax einhergeht, dann haben Sie es mit einer sehr ernsten Perversion zu tun.

Selbstverletzendes Verhalten

Ich will mich nun den Gründen zuwenden, warum Jugendliche gegen sich selbst gewalttätig werden. Es gibt viele Formen von Gewalt, von Sich-Schneiden, vom Dach Springen bis zur Essensverweigerung. In dem Gefängnis, in dem ich arbeite, ist folgendes ein alltägliches Problem, d.h. eines der ungelösten Probleme: Es ist nicht allzu schwer, jemanden daran zu hindern, einem anderen eine Verletzung zuzufügen; aber wie kann man eine Person daran hindern, sich selbst etwas anzutun? Wir haben Häftlinge, die im ganzen Gefängnissystem dafür bekannt sind, dass sie sich selbst schneiden. Sie werden zornig und aufsässig und fügen sich dann selbst sofort so schwere Schnittwunden zu, dass sie ins Krankenhaus verlegt werden müssen. Ich habe einmal einen Mann in seiner Gefängniszelle behandelt, der auf seinem Bett lag und seinen Zehen in eine Schlinge gesteckt hatte in der Absicht,  diesen abzuschneiden. Er hatte fürchterliche Schmerzen! Es handelte sich um einen älteren Mann, einen Alkoholiker. Ich ging hinein und sagte: „Mein Gott, was tun Sie sich da selbst an! Warum tun Sie das?“ Und er sagte: „Schauen Sie, dieser Schmerz in meinem Zehen ist nichts verglichen mit dem Schmerz in meinem Herzen!“ Also befasste ich mich mit seinem inneren Schmerz und er gab sein selbstzerstörerisches Verhalten auf. Nicht immer ist es möglich, mit Psychotherapie erfolgreich zu sein, weil es da noch folgenden Aspekt gibt: nach einer Selbstverletzung erfährt der Betroffene viel Zuwendung und Aufmerksamkeit, denn er ist krank und muss behandelt werden. Das kann zu einem ernsten Problem werden, weil eine solche intensive Zuwendung das selbstverletzende Verhalten erst recht stärken kann. Schenken Sie ihm aber andererseits keine Aufmerksamkeit, könnten Sie als unmenschlich beschuldigt werden. „Was, Sie lassen ihn leiden! Armer Kerl, er ist doch krank!“ Dies ist eines der schwierigsten Probleme, und man muss einen Ausgleich finden. Sie müssen ihm erklären, warum Sie ihm nur ein Minimum von Pflege angedeihen lassen, aber ohne Mitleid: „Warum tust Du Dir so etwas an? Warum bist Du so dumm! Ich will alles für Dich tun, was ich kann, aber ich werde mit Dir nicht nachsichtig sein! Es wäre anders, wenn Du krank wärest; aber Du tust es Dir ja selbst an!“ Sie müssen ihm gegenüber aussprechen, dass Sie das Spiel durchschauen; schließlich und endlich versteht er, dass er Sie nicht zum Narren halten kann und damit durchkommt.

Eine andere Variante selbstverletzenden Verhaltens spielt sich bei Personen ab, die Frustration nicht ertragen können. Es verhält sich ähnlich wie bei der Ursache von Gewalt, die ich zuvor beschrieben habe, nur dass jetzt eine Sperre dagegen aufgerichtet wird, es einem anderen anzutun, so dass der Betreffende sich selbst anstelle eines anderen verletzt.  Es gibt einige sehr gestörte Jugendliche, die in zwei Selbst gespalten sind: wenn sie sich selbst schlagen, bedeutet das, dass der gute Hans den schlechten Hans schlägt. Dies ist eine Art ausagierter Depression. Wir wissen, dass in der Depression unser gutes Gewissen das böse Gewissen in uns „überwindet“; diese Jugendlichen tun es körperlich. Dies liegt sehr nahe bei einem Suizid oder schwerer depressiver Selbstverletzung; viele dieser Jugendlichen sind schwer depressiv. Sie halten nichts von sich selbst, sie meinen, das Leben sei nichts wert, aber sie scheuen davor zurück, Selbstmord zu begehen, und deshalb verletzen sie sich eben selbst.

Bei Jugendlichen, die, wenn sie krank sind und nicht gesund werden können, besteht eine versteckte, selbstzugefügte Verletzung. Wenn Kranksein der einzige Weg ist, auf dem sie Aufmerksamkeit bekommen können, wie es in einigen Familien vorkommt, entsteht daraus ein psychosomatisch immer Kranker. Wenn Sie in Ihrer Schule eine Reihe von kranken Schülern haben und diese nicht so schnell, wie zu erwarten wäre, gesund werden, sollten Sie Selbstverletzung in Betracht ziehen. Selbstverletzung kann aber auch ein Akt der Rache sein: „Ich tue mir was an, damit Du leidest“. Es gibt Kulturen, in denen Menschen sich selbst verbrennen, damit andere für immer leiden sollen. Ein anderes wichtiges Motiv kommt bei Jugendlichen vor, die kein Gefühl für ihren eigenen Körper haben. Ihre Vorstellung von ihrem Körper ist so schwach, dass sie denken, sie können ihm egal was antun, es macht ihm nichts aus. Dies liegt, meine ich, sehr nahe bei der Schizophrenie, wo manche Körperteile nicht zu einem selbst gehören. Ich behandelte mit großem Erfolg einen Mann, der beinahe sein Bein abgeschnitten hätte. Er sagte: „Dies ist nicht mein Bein. Ich kann dem Bein antun, was ich will!“ Andere tun so etwas mit anderen Körperteilen, wie z. B. unglaublichen  Selbstverletzungen an den Augen. Analog zu dem Patienten, der sexuelle Befriedigung daraus zieht, anderen Schmerzen zuzufügen, gibt es den Masochisten, der Sie so lange zu provozieren versucht, bis Sie ihn schlagen, weil dies das ist, was er erreichen will. In einem Gefängnis behandelte ich einen Englischlehrer und Rechtsanwalt; er stellte sich selbst als „Professor Doktor Soundso“ vor. Er saß wegen seiner sexuellen Beziehungen mit Knaben ein, Verfehlungen, die er so ausgeübt hatte, dass er gewiss sein konnte, erwischt zu werden. Er war die absolut unerträglichste Person, der ich jemals begegnet bin. Er war widerwärtig zu jedem und provozierte andere Gefangene solange, bis er buchstäblich in den Hintern getreten wurde, was ihm sexuelle Befriedigung verschaffte. Nachdem dies bestätigt war, diagnostizierte ich Masochismus. Solch ein Patient ist unbehandelbar, weil er Sie – um Befriedigung zu erzielen – provozieren wird; und etwas anderes will er nicht. Solche Patienten sind selten, aber Sie sollten um sie wissen.

Der Umgang mit Gewalt

Ich werde mich nun mit dem praktischen Umgang mit Gewalt im Milieu befassen:

Es gilt als oberstes Gebot, dass das Betreuungspersonal nie gewalttätig und verletzend im Umgang mit Patienten sein darf. Dies wäre unter gar keinen Umständen gerechtfertigt. Wie immer als versteckte Bestrafung oder als ein es „hinter sich bringen“ anstelle einer langatmigen konsequenten Arbeit es auch gemeint sein könnte, ist es doch nicht ich-stützend. Dies hilft niemals, es verdrängt nur die Schuldgefühle. Es verhindert niemandens Fehlverhalten, wenn der andere denkt, „er bekam seine Strafe, aber ich nicht“. Vielleicht haben Sie von den Taschendieben von Highgate in England gehört, die Taschen ausraubten, während die Opfer zusahen, wie andere Taschendiebe gehängt wurden. In dem Gefängnis, in dem ich arbeite, kennen wir die „therapeutische Ohrfeige“ nicht; sie ist gesetzlich verboten. Es können jedoch Schläge bei Konflikten zwischen Wärtern und Gefängnisinsassen vorkommen. Beschuldigt ihn der Gefangene, wird der Wärter niemals zugeben, dass er ihn geschlagen habe, selbst dann nicht, wenn sich der Wärter dieserhalb schlecht fühlt. Ich bin sicher, dass dies auch in Behandlungszentren vorkommt. Die Antwort darauf ist, vernünftig zu sein. Das Zulassen von Gewalt ist eine Sache, eine andere Sache aber ist es, sich mit ihr zu befassen, wenn sie einmal geschehen ist. In einem therapeutischen Milieu ist Ersteres nicht möglich; das Zweite muss durch Durcharbeiten dessen, was zwischen beiden, Täter und Opfer, geschehen ist, bereinigt werden.

Es gibt viele Wege, Gewalt zu vermeiden. Das, was Sie tun müssen, ist reden und der Versuch, keinen körperlichen Zwang auszuüben. Eigentlich sind Sie beinahe nie der realen Gefahr ausgesetzt, geschlagen zu werden, es sei denn, der Gefangene ist psychotisch. Ist er psychotisch und gewalttätig, muss er mit einem Minimum von Zwang solange zurückgehalten werden, bis der Psychiater ihn medikamentös versorgt; und danach wird er wie ein Patient behandelt.

Bei der Kontrolle von Gewalt ist es wichtig, einen kühlen Kopf zu bewahren, keine Feindseligkeit zu empfinden und sehr klar eine fraglos überlegene Stärke zu zeigen. Solche Stärke zu zeigen, könnte sogar dazu führen, dass überhaupt kein Zwang ausgeübt werden muss.

Vorbeugen von Fehlverhalten

Wir wollen zum Thema zurückkehren: Es steht fest, dass Gewalt gegenüber anderen Menschen auf gar keinen Fall zulässig ist; sie muss unterbunden werden. Gewaltanwendung gegenüber Dingen jedoch ist eine andere Frage. Ist es zum Beispiel klug, einen Jungen sein Zimmer zerstören zu lassen? Darüber habe ich schon in meinem letzten Vortrag hier gesprochen (siehe Kapitel 10). Einige haben schon August Aichhorn gelesen und wissen, dass er, als er mit Jugendlichen anfing zu arbeiten, eine Gruppe Kinder hatte, die er einfach toben und ihre eigenen Dinge zerstören ließ; und nach einer Weile waren sie in Ordnung. Dies ist keine Technik, die man als Muster verwenden kann, denn es kann darauf hinauslaufen, dass alles in Stücken ist und niemandem geholfen. Sie müssen wissen, mit welcher Art von Kindern Sie sich befassen.

Eine weitere Frage stellt sich, ob man gemeinem Sprachgebrauch, Fluchen oder verbalen Gewaltandrohungen, Einhalt gebieten soll. Manchmal mag es besser sein, Kindern zu erlauben, all ihren Ärger in Worten auszudrücken, denn Worte ersetzen Fäuste und Messer; sie haben gelernt, nicht zu Agieren, sondern zu sprechen. Intervenieren wir bei ihren Reden aus moralischen Gründen, aus verletztem Stolz oder weil wir uns für besser erzogen halten oder was auch immer, glaube ich, machen wir einen therapeutischen Fehler. Aber das Reden kann, wie Sie wissen, auch ein Ausgangspunkt für Gewalt sein: die Beschimpfungen können dazu dienen, den anderen immer mehr zu erniedrigen, so dass er, wenn er nur noch ein miserabler Hund und weniger als Dreck zu sein scheint, geschlagen werden kann! Jeder Krieg beginnt auf diese Art; denn wie könnten Sie Krieg mit einem Volk führen, mit dem Sie in Frieden leben? Zuerst muss aus der anderen Person ein Unterlegener, ein Untermensch gemacht werden! Sobald Sie den Eindruck haben, dass ein solcher Prozess im Gange ist, müssen Sie die Kinder voneinander trennen, bevor es zu Gewalttätigkeiten kommt. Hier haben wir also wieder die Frage nach der Diagnose und dass man seine Kinder kennt. Die Frage der Worte ist also eigentlich die Frage nach dem, was die Worte für den Jungen bedeuten und was für Sie.

Sanktionen

Sanktionen oder Konsequenzen sind für die Steuerung von Verhaltensweisen wichtig. Jugendlichen könnte es einfallen zu denken, „Eigentlich will ich keine Bestrafung, ich will nur meine Privilegien“. Dies ist dann eine Frage der Realitätsprüfung. Sanktionen können notwendig werden, um zu zeigen, dass Sie ein Vergehen ernst nehmen. Mit seltenen Ausnahmen, wie in dem von mir zitierten Beispiel von Aichhorn, ist es nicht gut für Kinder, wenn Sie ihnen nicht Regeln und Grenzen setzen und die Konsequenzen für ihr Verhalten aufzeigen, sondern sie tun lässt, was immer sie wollen. (Manche Eltern handeln auf diese Weise). Wer nie von jemand anderem bestraft worden ist, bestraft sich selbst – und zwar viel grausamer, als irgend jemand anderes es tun würde. Das ist nicht human.

Vor der Eröffnung der Diskussion möchte ich noch ein Wort über die Auswahl der Konsequenzen sagen. Zuerst muss darüber entschieden werden, ob das Kind überhaupt weiß, dass es etwas Falsches tut. Selbst vor Gericht kann der Angeklagte nicht bestraft werden, wenn er nicht weiß, dass er falsch handelte. Ich bin jedoch absolut davon überzeugt, dass Menschen für ihr falsches Handeln bestraft werden wollen. Ich glaube nicht daran, dass ein Mensch leben kann, ohne die folgen für seine Taten zu erfahren. Dass gewisse Menschen nicht wissen, wenn sie etwas Falsches tun – darin liegt das Problem. Ein Kind zum Beispiel, das impulsiv und aus Frust handelte, kann hinterher sagen, dass es ihm leid tue: „Ich konnte nicht anders! Irgend etwas hat mich dazu gebracht!“ In diesem Falle ist es offensichtlich, dass das Kind keine reale Vorstellung davon hatte, dass es falsch gehandelt hat, denn es handelte nicht mit Absicht. Besteht aber eine Intention zu Fehlverhalten, muss es bestraft werden. Wie ich schon sagte, halte ich körperliche Bestrafung für veraltet, denn sie befriedigt lediglich eine gewisse Pathologie und bewirkt nichts Gutes. Aber Konsequenzen müssen aufgezeigt werden. Das Streichen von Privilegien ist ein guter Ersatz für Strafe. So könnten Sie z. B. sagen: „Schau, wenn Du Dich auf diese Weise verhältst, kannst du nicht fernsehen“. Bestrafung ist nicht gleichbedeutend mit Gewalt.

Lassen Sie mich an dieser Stelle enden und Sie um Ihre Fragen bitten.

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Theresa M. Bullinger

Literatur

Aichhorn, A. (1935): Wayward Youth, Viking Press, New York.
Dollard J., Doob, L., Miller, N., Mower, O.H. und Sears, R.R. (1939): Frustration an Aggression, Yale, New Haven.
Federn, E. (1982): Humanizing Prisons: Experiences from the Austrian Model, Austrian Institute, New York City.
Federn, E. (1983): Some Challenges and Pitfalls of Milieu Therapy, in: Milieu Therapy, Heft 3, S. 2-11.
Federn, E. (1999): Ein Leben mit der Psychoanalyse. Von Wien über Buchenwald und die USA zurück nach Wien. Gießen (Psychosozial-Verlag).
Federn, E. (1999a): Gespräche zwischen Bruno Bettelheim, Dr. Brief und Ernst Federn. In: Federn (1999), S. 26-30.
Federn, E. (1999b): Versuch einer Psychologie des Terrors. In: Kaufhold, R. (Hg.) (1999), S. 35–75.
Kaufhold, R. (Hg.) (1999): Ernst Federn: Versuche zur Psychologie des Terrors. Material zum Leben und Werk von Ernst Federn. Gießen (Psychosozial-Verlag).
Lewis, D.O., Shanok, S., Pincus, J. und Glaser, G. (1979): Vioent Juvenile Delinquents, in: American Journal of Child Psychiatry, Heft 18, S. 307-319.
Nemiah, J.C. (1977): Alexithymia, in: Psychoter. Psychosom., Heft 28, S. 199-206.
Northrup,G. (1987): Restrains: An Interview with Bruce Boa, in: Residential Treatment for Children & Youth, Heft 5 (2), S. 25-50.
Silver, L.B., Dublin, C. und Lourie, R.S. (1969): Does Violence Breed Violence? Contributions from a study of the child abuse syndrome, in: American Journal of Psychiatry, Heft 126, S. 404-407.

Diese Studie wurde Ernst Federns Buch Ein Leben mit der Psychoanalyse. Von Wien über Buchenwald und die USA zurück nach Wien, Gießen 1999 (Psychosozial-Verlag), S. 86-97 entnommen und von Roland Kaufhold für diese haGalil-Veröffentlichung durchgeschaut. Wir danken dem Psychosozial Verlag und seinem Inhaber Prof. Dr. Hans-Jürgen Wirth für die freundliche Nachdruckgenehmigung.

2 Kommentare

  1. Gewalt entsteht, neben der persönlichen Prädisposition u.a. auch soziokulturell bzw. wird dort erheblich forciert.

    Hier ist ein interessanter Vortrag dazu, für mich einseitig dahingehend, dass amerikanische Gefängnisse zitiert werden und das Ganze nicht allgemeiner gehalten wird, aber beurteilt selbst: http://mitworld.mit.edu/video/459/

    Interessant auch, um soziokulturelle Phänomene zu beleuchten, folgender Artikel:
    http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/0,1518,688162,00.html

    Zitat:
    In ihrem Buch „Gestatten: Elite“ beschreibt Autorin Julia Friedrich die Begegnung mit einem Management-Coach, der das Menschenbild der meisten deutschen Wirtschaftsführer auf den Punkt bringt: ‚“Es gibt Menschen, die sind oben; das sind Gewinner. Und Menschen, die sind unten; die Verlierer.“ Und wenn man sich weigert, das zu akzeptieren? „Dann“, sagte der Coach, „heißt es schnell EDEKA: Ende der Karriere.“

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