Jüdische Portraits ־ Ein Gespräch mit Bruno Bettelheim

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Ein Interview von Herlinde Koelbl mit Bruno Bettelheim aus dem Band „Jüdische Portraits“…

HK: Herr Professor Bettelheim, eines Ihrer vielen Bücher hat den schönen Originaltitel ,A home for the Heart“. Wo liegt, geographisch gesprochen, Ihre Herzensheimat?

BB: Ja, ich würde wohl sagen, wahrscheinlich ist das Chicago. Am ehesten noch Chicago, obzwar ich schon vierzehn Jahre nicht mehr dort lebe. Aber es war’s wahrscheinlich. Dort sind die Kinder geboren,
aufgewachsen. Aber wir sind ja alle entwurzelt.

HK: Bedeutet Ihnen die deutsche Sprache noch etwas?

BB: Na ja, die Muttersprache vergißt man ja nie. Obzwar es auch schon rostig geworden ist, mein Deutsch. Ich denke und schreibe englisch. Aber jetzt im Alter lese ich wieder mehr deutsch als früher.

HK: Aus welchem Grund?

BB: Ich glaube, im hohen Alter hat man eben das, was Nostalgie genannt wird, Heimweh nach der Jugend. HK: Wie hat die Entwurzelung Ihr Leben beeinflußt? BB: Ich glaube, die Entwurzelung hat jeden beeinflußt, jeden irgendwie anders, aber es ist eine Entwurzelung. Sagen wir mal, um psychoanalytisch zu sprechen, die Heimat, die Heimatsprache, die Heimatkultur zu verlieren, sich verpflanzen zu müssen. Andererseits bin ich ziemlich erfolgreich geworden, nicht wahr, ich habe hier in Amerika ein sehr gutes Leben gehabt. Aber trotzdem. Daß in Wien meine Nachbarn, meine jüdischen Schulfreunde verfolgt und zum Teil umgebracht wurden, das ist etwas, was man nicht vergißt. Warum sollte man vergessen, daß man als Untermensch behandelt wurde. Aber ich weiß ja gar nicht, was Sie wollen. Was ist der Zweck Ihres Buches? Was hat Ihnen die Idee eingegeben?

HK: Der Sinn dieses Buches ist es zu zeigen, wen die Deutschen eigentlich vertrieben haben, was verlorengegangen ist. Viele wollen das ja nicht mehr wahrnehmen, und viele wissen davon gar nichts.

BB: Es gibt ein altes Wort: „Für’s Vergangene gibt der Jud‘ nichts.“

HK: Ich glaube, es ist wichtig, daß immer wieder ins Gedächtnis gerufen wird, was man mit der Judenverfolgung eigentlich angerichtet hat. Wir tragen ein Stück Verantwortung.

BB: Nein, ich glaube, es ist keine Verantwortung. Ich glaube nicht an Gesamtschuld. Ich glaube, jeder Mensch ist nur für das eigene Leben verantwortlich, nicht für das Leben der Eltern oder der älteren Generation. Ich will Sie nicht desillusionieren, aber ich glaube auch, daß ein solches Buch gar keinen Einfluß hat. Denn diejenigen, die am stärksten beeindruckt werden, brauchen es nicht, die wissen es ohnedies. Und diejenigen, die beeindruckt werden sollten, weil sie noch nicht begriffen haben, an denen rinnt das wie Wasser ab. Der Wunsch zu vergessen ist so stark, daß es für sie schlechtes Benehmen ist, sie daran zu erinnern.

HK: Was, glauben Sie, wäre wichtig, um die Vergangenheit wirklich aufzuarbeiten?

BB: An der Vergangenheit kann man gar nichts ändern, man kann nur etwas in der Gegenwart machen. Der Antisemitismus ist ja noch nicht verschwunden. In Österreich ist er noch sehr stark, auch in anderen Ländern. Da könnte die jetzige Generation etwas machen. Aber Sie haben ja gesehen, was in Österreich geschehen ist. Sie haben den Waldheim zum Präsidenten gewählt, der ein klarer Kriegsverbrecher ist. Waldheim ist Gegenwart. Und seine Wahl hat gezeigt, wie die jetzige Generation die Vergangenheit bewältigt oder verarbeitet. Ich habe gerade vor der Wahl von Waldheim in Wien Verwandte besucht, im Wahlkampf, als seine Vergangenheit nach und nach publiziert wurde. Daraufhin wurde Wien mit Waldheim-Plakaten wirklich bepflastert, und auf die alten Plakate haben sie ein neues Spruchband geklebt: „Jetzt erst recht.“ Also jetzt, wo wir wissen, was er getan hat, werden wir ihn erst recht wählen. Und das ist ja auch geschehen.

HK: Glauben Sie, daß in Österreich der Antisemitismus besonders stark ist?

BB: In Österreich ist er viel stärker als in Deutschland. Ich habe die Frage zwar nicht eingehend studiert, das sind nur oberflächliche Eindrücke. Aber im allgemeinen gibt es in Österreich eine große Verleugnung. Niemand war Nazi, nicht wahr? Hitler war kein Österreicher, und Beethoven war ein Österreicher. Diese Einstellung ist typisch. Daß Wien die antisemitischste Stadt Deutschlands war, daran erinnert sich niemand. Als ich zum ersten Mal nach dem Krieg – es war in den fünfziger Jahren – durch die Straßen meiner Heimatstadt Wien ging, sagte ein Halbbetrunkener ganz laut zu mir: „Da ist wieder einer aus der Gaskammer herausgekommen, den hätten sie auch umbringen sollen.“ Das freut einen nicht. In Deutschland wird im allgemeinen doch zugegeben, daß Hitler ein deutsches Phänomen war. Und als Jude berührt es mich sehr positiv, daß Deutschland Wiedergutmachung versucht hat. Was Österreich nicht, gar nicht versucht hat. Ich habe ein großes Vermögen in Österreich verloren, was mir weggenommen wurde. Ich habe nicht einen Heller davon zurückbekommen. Das wurmt. Aber was soll ich tun? Meine Mutter hat sehr wertvollen Schmuck gehabt. Und den konnte sie ja nicht mitnehmen. In demselben Haus hat ein pensionierter österreichischer General gewohnt, unpolitisch eigentlich, katholisch natürlich. Und wir hatten ein freundschaftliches Verhältnis, aber nicht gar so nachbarlich, nicht eng. Und da hat meine Mutter, als sie Wien verlassen muße, der Familie des Generals den Schmuck anvertraut. Als ich in Wien war – meine Mutter war inzwischen in Amerika gestorben -, bin ich vor diesem Haus auf und ab gegangen, habe geschaut, ob diese Generalsfamilie noch da wohnt. Ja, sie wohnte noch dort. Da bin ich auf und ab gegangen, und nach einer halben Stunde habe ich gedacht: Warum soll ich da hinaufgehen? Soll ich die Leute zwingen, mir Lügen zu erzählen? Sie könnten ja sagen, die Russen haben ihn gestohlen. Oder sie haben ihn verkaufen müssen, weil sie sonst verhungert wären.

HK: Sind sie manchmal verbittert über das, was geschehen ist?

BB: Ja, nicht nur manchmal. Natürlich. Warum denn nicht? Man muß sich mit der Geschichte irgendwie abfinden, aber man muß es nicht gern haben.

HK: Empfinden Sie Haßgefühle?

BB: Haß? Ich bin nicht jemand, der haßt. Ich bin ein Psychoanalytiker, und meine Aufgabe ist es, zu verstehen und nicht zu hassen. Außerdem glaube ich, daß Hassen kein positives Gefühl ist. Es tut niemandem gut. Ich hasse nicht. Aber daß enge Freunde und einige Verwandte umgebracht worden sind, daß sie, wenn wir nicht geflohen wären, mich ermordet hätten und meine engere Familie, das vergißt man nicht. Und ich weiß aus eigenen Erfahrungen, daß viele Hunderttausende Deutsche damit einverstanden waren. Hat ihnen sehr gut gefallen, die Judenverfolgung. Aber das vergißt man nicht.

HK: Es erfordert Zivilcourage, dem Druck zu widerstehen.

BB: Dem Druck, aber auch den eigenen Wünschen, nicht wahr. Es wird gern übersehen, wie viele Deutsche sehr großen materiellen Vorteil von der Judenverfolgung gehabt haben, sehr praktische Vorteile, und sich dieser Vorteile sehr erfreut haben. Zum Beispiel unter Geschäftsleuten oder Rechtsanwälten: Die jüdische Konkurrenz wurde plötzlich abgeschafft. Ich persönlich könnte Ihnen zwanzig Leute nennen, die sich durch mich bereichert haben, dadurch, daß mein Vermögen beschlagnahmt wurde. Sie haben sehr praktische Vorteile davon gehabt. Das ist doch wunderbar. Diese unangenehme Wahrheit wird viel zu sehr vernachlässigt, auch in Deutschland.

HK: So klagen auch Sie doch über fehlende Bewältigung der Vergangenheit?

BB: Ja, in gewisser Weise. Ich will Ihnen ein Erlebnis erzählen. Es ist schon lange her. Nach dem Krieg haben der bayerische Ministerpräsident und einige Mitglieder der bayerischen Regierung die Universität von Chicago besucht. Und da hat die Verwaltung der Universität die Deutschsprachigen eingeladen, um die zu unterhalten. Mich haben sie neben den Minister für Kultus und Unterricht gesetzt.

HK: Wie hieß er?

BB: Ich weiß es nicht mehr. Er hat gar nicht gewußt, wer oder was ich bin. So beim Tischgespräch hat er zu mir gesagt, wie schrecklich die guten Deutschen gelitten hätten, so ein arbeitsames und tüchtiges Volk, und wie schrecklich diese Luftangriffe waren, und wie München zerstört wurde, und wie schrecklich die Alliierten die Deutschen behandelt hätten. Und darauf habe ich gesagt: Ja ja, ist schon richtig. Die Deutschen haben ja nicht den Krieg angefangen, die bösen Polen sind ja in Deutschland eingefallen, und da mußte sich Deutschland zur Wehr setzen.

HK: Hat er das verstanden?

BB: Er hat dann nicht mehr mit mir gesprochen, sondern mit seinem Nachbarn zur anderen Seite. Also das war einer meiner ersten Nachkriegseindrücke. Das habe ich dann immer wieder von Deutschen gehört, wie ungerecht und wie grausam diese Bombardierungen waren, wie unmenschlich. Große Bitterkeit, und keiner davon hat gesagt, daß Deutschland den Krieg angefangen, daß Deutschland auch mit der Bombardierung von Zivilisten in London angefangen hat. Das habe ich nirgends gehört. Verständlich. Aber nicht erfreulich. Einem alten Juden wie mir dreht sich da der Magen um.

HK: Wie hat die Erfahrung Ihr späteres Leben und Ihre Arbeit beeinflußt?

BB: Ich habe über die totalitäre Gesellschaft gearbeitet, ich habe über das Konzentrationslager geschrieben. Also war diese Erfahrung sicher von großem Einfluß. Meine psychologische Studie über das Phänomen Konzentrationslager war die erste, die je publiziert wurde. Sie hat mich in diesem Land fast über Nacht sehr bekannt gemacht.

HK: Hat Sie jemals auch die religiöse Fragestellung beschäftigt: Was ist das für ein Gott, der Auschwitz zugelassen hat?

BB: Nein, das muß man die Gläubigen fragen. Da ich Gott für eine Erfindung des Menschen halte, habe ich da nichts zu sagen.

HK: Eine Erfindung der Menschen?

BB: Eine Fiktion, die wie andere Fiktionen für manche Menschen sehr hilfreich ist. Aber ich kann nicht daran glauben. Ich bin Atheist. Freud hat ja die Religion eine Illusion genannt, und ich bin Psychoanalytiker und folge Freud in vieler Richtung. Nein, über Gott müssen Sie Gläubige befragen. Ich kann nur sagen, daß im Namen Gottes sehr viele Morde begangen wurden. Was mir nicht sympathisch ist. Ich habe mit Professor Janowitz in einem Buch über das Vorurteil gezeigt, daß Antisemitismus oder Vorurteile gegen Schwarze einen sehr wichtigen psychologischen Zweck erfüllen: daß man sich besser vorkommt. Besonders, wer sich inferior fühlt, hat es sehr nötig, sich besser als jemand anders zu fühlen, ihm überlegen zu sein. Man projiziert in den anderen die eigenen unakzeptablen Tendenzen und wird sie damit los, psychologisch, oder versucht, sie loszuwerden. In diesem Buch haben wir im Detail gezeigt, wie diese Projektionen funktionieren. Die Juden kamen den Christen da sehr gelegen. Sie haben diese psychologische Funktion erfüllt.

HK: Sind Sie denn religiös erzogen worden, haben Sie jüdische Wurzeln?

BB: Kaum. Schon meine beiden Eltern sind aus assimilierten Familien gekommen. Ich bin ganz assimiliert aufgewachsen. Aber taufen wollte ich mich nicht lassen. Als jungem Mann wurde mir das nahegelegt: Wenn ich Karriere an der Universität machen wollte, sollte ich mich taufen lassen. Aber es hat mir einfach nicht gefallen, daß ich vorgeben sollte, etwas zu glauben, was ich nicht glaubte, um Karriere zu machen. Das hat mir nicht gepaßt. Denn es ist ja nicht gerade eine natürliche Sache, sich denen anzuschließen, die einen verachten und hassen. Viele haben es ja getan. Aber mir hat es nicht gepaßt.

HK: Was waren denn die Gründe für diese Verachtung und den Haß, für den historischen Antisemitismus?

BB: In verschiedenen Zeiten waren es verschiedene Gründe. Ich glaube irgendwie, daß es die Christen den Juden nicht vergeben haben, daß ihre Religion im Ursprung jüdisch war, daß Christus selbst ein Jude war. Damit ist schwer fertig zu werden, nicht wahr? Aber unterschwellig ist dieses Bewußtsein immer dagewesen, daß Jesus Christus ein Jude war. Und dann ist es natürlich immer sehr angenehm, einen Sündenbock zu haben.

HK: Glauben Sie, daß Verfolgung und Unterdrückung in den Juden auch besondere Energien und Fähigkeiten mobilisiert haben?

BB: Eine diskriminierte Minorität muß sich natürlich viel mehr anstrengen, muß versuchen, besser zu sein als die Mehrheit, um irgendwo weiterzukommen. Und ich glaube, auch die jüdische Tradition des Lernens nach dem Buch der Bücher hat großen Eindruck auf die geistigen Leistungen der Juden gehabt. „The people of the Book“, wie die Juden genannt werden. Das ist ja auch genetisch zu verstehen. In einer verfolgten Minorität, wie das die Juden jahrhundertelang waren, sterben die Schwachen aus. Nur die Stärkeren überleben und pflanzen sich fort. Also man könnte schon denken, daß da eine genetische Auswahl stattfindet. Daß die weniger Lebensfähigen aussterben und die Lebensfähigsten sich fortpflanzen. Ich kann’s nicht beweisen, aber…

HK: Zum ersten Mal in der Neuzeit hat jetzt das jüdische Volk eine geographische Heimat und ist eine politische Nation. Was ist Ihre Meinung zu Israel?

BB: Eine sehr prekäre Situation, sagen wir einmal. Ich finde es ganz außerordentlich, was die Juden dort, wo Palästina war, geschaffen haben. Und in Wien – Herzl war ein Freund der Familie – waren wir natürlich zionistischen Ideen ausgesetzt. Aber der Nationalstaat, jeder Nationalstaat war und ist mir nicht sehr sympathisch, denn die Nationalstaatlerei führt ja nur zu Kriegen. Allerdings, Hitler hat gezeigt, daß die Juden einen Nationalstaat brauchten. Die heutige weltpolitische Lage Israels muß ich Ihnen nicht erklären. Höchst schwierig, höchst problematisch. Ein Fokus für Krieg. Und wir brauchen keinen neuen, davon gibt es ja schon genug.

HK: Wie sehen Sie die Zukunft des jüdischen Volkes in der Welt?

BB: Dunkel, dunkel. Trübe und dunkel. 

HK: Warum?

BB: Schauen Sie sich die Geschichte an! Warum sollte sich das plötzlich ändern? Wir haben einen Antisemitismus in Österreich, in Deutschland, in Rußland, in Frankreich. Nein, man muß für die Zukunft arbeiten, aber man darf nicht einem blinden Optimismus verfallen. Man muß versuchen, die Zukunft vielleicht ein bißchen besser zu gestalten als die Vergangenheit. Da gibt es in mancher Hinsicht Fortschritte, in mancher Hinsicht Rückschritte.

HK: Was wäre zu tun, um die Zukunft besser zu machen?

BB: Ja, in meinem Fach kann ich das sagen. Ich habe mit Kindern gearbeitet, mit schwer gestörten Kindern, und wenn die dann funktionsfähig werden, das ist gut für sie. Aber für die Welt habe ich keine Antwort.

Herlinde Koelbl, „Interview mit Bruno Bettelheim“. Aus: dies., Jüdische Portraits. © 1989 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.

Dieser Beitrag wurde dem von Roland Kaufhold herausgegebenem Buch „Annäherung an Bruno Bettelheim“ (Reihe Psychoanalytische Pädagogik, Bd. 13) (336 S.) entnommen. Wir danken dem Autor für die Nachdruckrechte. Das Buch erschien 1994 – vier Jahre nach Bettelheims Freitod – beim Matthias-Grünewald- Verlag, Mainz; es ist in einer kleinen Restauflage beim Verfasser für 12 € (plus Porto) erhältlich. Der Grünewald Verlag existiert nicht mehr. Bestellung über: rolandkaufhold (at) netcologne.de

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