Auschwitz: Damals und für immer und ewig

1
21

Unsere Truppen attackierten im Morgengrauen in einem kombinierten dreiköpfigen Angriffszug: Staatspräsident Peres zündete eine Kerze am Gleis 17 in Berlin an, das Ehepaar Netanjahu legte einen Kranz am Umschlagplatz in Warschau nieder und zur selben Zeit, als Teil des strategischen Schachzugs, nahm eine zehnköpfige Delegation israelischer Abgeordneter vor den Toren von Auschwitz Stellung…

Zum Holocausttag brachte Jedioth achronoth einen bissigen Kommentar von Uri Misgav

Europa ist in unserer Hand. Wie fasste es Frau Sarah Netanjahu doch so schön im Gästebuch des Museums in Warschau zusammen: „Von Jerusalem nach Warschau, und von Warschau nach Jerusalem – das jüdische Volk lebt.“ Danach bewegten sich unsere Truppen auf das nächste, unvermeidliche Ziel zu: Dringende Treffen mit ihren Gastgebern zum Thema iranische Atombewaffnung.

Es handelt sich um die passende Fortsetzung eines stürmischen Jahres: Bei der UN-Vollversammlung wedelte Netanjahu mit den Auschwitz-Bauplänen und griff gleich danach Ahmadinedschad an. Kurz danach Aufregung und Proteste wegen des Diebstahls des Schilds „Arbeit macht frei“ vom Eingangstor in Auschwitz. Eine Reaktion, die mich an faschistische Zeiten erinnerte. Und diese Woche waren wir mit den Veranstaltungen des internationalen Holocausttags gesegnet, wobei wir uns schon jetzt auf die Luftbrücke freuen können, die uns im Frühjahr wieder zum „Marsch der Lebenden“ bringen wird. Manchmal hat es den Anschein, als sei die Holocausterinnerung zum besten Export des Staates Israel geworden, gleich nach den Waffenlieferungen und den militärischen Beratungen für zweifelhafte Regime in Afrika und Lateinamerika. In den letzten Jahren wird die Holocausterinnerung stets mit dem Thema Iran und dessen Atomrüstung begleitet.

Deshalb erlaube ich mir den Einwurf: Alle, denen die Holocausterinnerung wichtig ist, sollten doch bitte einmal einen Moment innehalten und nachdenken.

Die Umsetzung der Holocaustlehren ist die höchste Pflicht des jüdischen Staates und Volkes, ganz besonders in einem Jahr, in dem eine Rekordzahl antisemitischer Vorfälle zu verzeichnen war. Holocaustleugnung ist zwar keine weltweite Erscheinung, in einem Zeitalter von Oberflächlichkeit und historischer Unwissenheit sollte man sie jedoch sehr ernst nehmen. Deshalb ist es richtig, dass israelische Vertreter an Gedenkfeiern in Israel und aller Welt teilnehmen. Man kann jedoch über die Menge diskutieren. Immerhin sollte man das Risiko vermeiden, dass man uns überdrüssig wird. Zu viel Begeisterung verfehlt das Ziel, anstatt ihm zu dienen…

… Die israelische Einstellung zur Holocausterinnerung ist von Unreife geprägt. Diese Unreife ist vermutlich auf plumpe Slogans à la „Wie Lämmer zur Schlachtbank“ zurückzuführen. Die Offiziersdelegationen, die die Armee (ZaHaL, IDF) ständig in die Vernichtungslager schickt, nennen sich „Zeugen in Uniform“.

Hohe Stellen in der Luftwaffe bewerten die Luftshow von F-16 Maschinen über Auschwitz im Jahr 2003 als höchsten Ausdruck israelischer Stärke. Ehud Barak erklärte in Auschwitz als Generalstabschef, „Wir sind zu spät hierher gekommen“. Leider war die Wehrmacht 1939 die mächtigste Armee, die Europa jemals gesehen hatte. Auch wenn der Staat Israel 10 Jahre früher gegründet worden wäre, hätte die IDF die deutsche Kriegsmaschinerie sicherlich nicht bezwingen können.

Interessanter als solche Spekulationen anzustellen, wäre es, den Zusammenhang zu analysieren, den Israel heute zwischen dem Holocaust und der iranischen Bombe herstellt. Eine regionale Großmacht, die – nach ausländischen Berichten – bis auf die Zähne nuklear bewaffnet ist, die im Zusammenhang mit den Rechten der Minderheiten und der Behandlung von Flüchtlingen nicht gerade als moralischer Leuchtturm bezeichnet werden kann, die sich wegen einer seit vier Jahrzehnten anhaltenden Besatzung eroberter Gebiete zunehmend in Richtung internationaler Isolation bewegt, der Kriegsverbrechen vorgeworfen werden…, die noch nicht einmal dazu bereit ist, solche Vorwürfe ernsthaft zu überprüfen – sollte wirklich damit aufhören unermüdlich und penetrant vom „Schlimmsten“ Gebrauch machen.

Vielleicht sollten wir die sechs Millionen – ein bisschen, manchmal, hier und da – in Ruhe lassen und unsere Außen- und Verteidigungspolitik mit mehr rationaler Überlegung und weniger geschichtlich bedingter Hysterie führen. Die Lage ist auch ohne Auschwitz schon kompliziert genug.

1 Kommentar

  1. Was seit der frühen europäischen Geschichte stets Taug hatte als identitätsstiftendes Skandalon: die Gleichsetzung von Juden mit einer mal subtilen und am Fuße der Gesellschaft operierenden, mal scheinbar offenbaren, von oben steuernden Macht, die entweder Brunnen vergiften würde oder eben das Kapital bestimme, wirkt dialektisch fort in der gegenwärtigen Gleichschaltungstendenz bzw. politischen Abscheu, den Staat Israel und dessen Handeln zu kritisieren.
    „Die Juden“ werden hier als alles bestimmende Weltmacht wahrgenommen, deren Räson zu hinterfragen ein Tabu darstellt. Und damit bekommt Auschwitz den identitätsstiftenden Charakter für die deutsche Nation, die sich heute als Nation mit besonderer Verantwortung (gegenüber dem Staat Israel) versteht.
    Nun geht Uri Misgav davon aus, daß die selbe Funktion: Auschwitz als identitätsstiftendes Moment für den Staat Israel und die jüdische Nation, eben auch auf dieser Seite des politischen Banketts wirkt. So bedient er leider das  entsprechende Skandalon. Denn in der Vorstellung eines (militärisch) großmächtigen Judentums, der die Kinder anderer Nationen frißt, liegt der alte Hund des Judenhasses begraben.  Insofern ist dem Kommentar Misgavs entschieden zu widersprechen: Kritik an der Handlungsweise der Staates Israel darf nicht daraus hinauslaufen, zu „vermeiden, daß man uns (den Juden) überdrüssig wird“. Es sind nämlich nicht „DIE Juden“, die Land besetzen und gegen Menschenrechte verstoßen, wo das geschieht. Es sind immer Einzelne die so etwas tun, auch wenn entsprechende Befehle vorhanden sein sollten. Das eben ist ja die Lehre aus dem Nationalsozialismus und der Moderne überhaupt: in Herz und Hand des Einzelnen und in seiner Fähigkeit zu Vernunft sowie seiner Kraft zum Widerstand liegen die Waffen gegen Hass, Rassismus und Blutvergießen.
    Und genau das sollten beide Seiten, hier: die deutsche und die israelische stets wissen: weder waren es „DIE Deutschen“,die Juden hassten, noch sind es „DIE Juden“ oder „DIE Israelis“, die kritikwürdig agieren. So könnte aus besagten „zwei Seiten“ eines Tages ein Miteinander werden (auch ein Miteinander aus anderen Feindparteien), an Stelle des Skandalösen das immer einen Sündenbock braucht.

Kommentarfunktion ist geschlossen.