1945 – 2002: Die Schoah im Bewusstsein der Israelis

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Für die Tausenden jüdischen Häftlinge, die den Tag der Befreiung aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern erlebten, endete die Shoah nicht mit dem Tag des Kriegsendes im Mai 1945. Diese Leute mussten jetzt ein neues Kapitel in ihrem Leben beginnen. Sie sind jeder für sich alleine geblieben, mit dem Schmerz, mit dem Verlust, mit dem Waisendasein und mit dem Vakuum, das die Shoah hinterlassen hat…

Stufen der Auseinandersetzung im Verständnis und Bewusstsein der Schoah in der israelischen Gesellschaft, 1945 – 2002

Von Gideon Greif

Die jüdische Bevölkerung in Eretz Israel (der Yishuv) musste sich zu dieser Zeit mit ganz anderen Problemen auseinandersetzen. Dieser kleine „Yishuv“ hat das Ausmaß der Tragödie, die in Europa geschah nur sehr spät verstanden, und hat erst gegen Ende des Krieges angefangen, Schuldgefühle und ein schlechtes Gewissen zu entwickeln, dafür, dass nicht genug für die inzwischen ermordeten Schwestern und Brüder in Europa getan worden war.

Zu dem schon sehr unruhigen Alltag in Eretz Israel kamen ab 1945 die Überlebenden der Shoah hinzu, und zusammen im israelischen Schmelztiegel begann das Volk in seiner alten Heimat die Wunden zu heilen und sein Leben neu aufzubauen. Obwohl die Auseinandersetzung mit diesem belastenden Thema seitdem einige Methamorphosen durchlaufen hat, hat sich die jüdische Bevölkerung in Israel bis heute nicht von dem schweren Druck und den schrecklichen Erinnerungen der Shoah-Zeit befreien können.

Die Begegnung zwischen den Überlebenden der Shoah und den Geschwistern in der Heimat war nicht so natürlich und unbeschwert, wie man sich das vielleicht denken würde. Noch viele Jahre nach dem Holocaust waren ihre Begegnungen durch Fremdheit geprägt und von Missverständnissen und Konflikten begleitet.

Die Überlebenden des Holocaust, die der Hölle entkamen und nach Israel immigrierten, fanden sich fast unmittelbar von einem neuen Krieg umgeben. Einige von ihnen kamen direkt zur Zeit des Unabhängigkeitskrieges 1948 in Israel an und nahmen an Kämpfen teil, ohne zuvor militärisch ausgebildet geworden zu sein. Viele kamen während des Krieges zu Tode oder wurden schwer verletzt.

Die Überlebenden des Holocaust in Israel waren überzeugt, dass sie an einem gerechten Kampf teilnahmen. Sie bewerteten es als einen patriotischen Akt und eine natürliche Fortsetzung ihres persönlichen Überlebenskampfes während des Holocausts. Die Araber, die sie bekämpften, wurden als ein weiterer Feind angesehen, der ihr Leben in Gefahr bringt. Dieser Krieg brach letztendlich nur ein paar Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs aus. Ähnlich wie der Unabhängigkeitskrieg wurde auch der Widerstand gegen die von der britischen Mandatsregierung, in den Jahren 1945-1948 auferlegte, begrenzte Immigration gesehen.

Jene, die Vernichtungslager wie Auschwitz und Treblinka oder die Ghettos überlebt haben, waren bereit ihren Kampf unter allen Umständen und mit aller Kraft fortzusetzen. Sie waren resolut, kühn und kompromisslos. Israel war der Ort, der im Kontrast zu den Orten des Todes in Europa, für sie Leben bedeutete. Deshalb kämpften sie bis auf den letzten Tropfen Blut.

Im Folgenden möchte ich ein neues Licht auf dieses Thema werfen und einige existierende Thesen mit neuen Schwerpunkten darstellen.

Eine zentrale These besagt, dass in den ersten 20 Jahren nach dem Ende des II. Weltkrieges keine öffentliche Debatte über die Shoah in der israelischen Öffentlichkeit stattfand, und dass das Thema allgemein unterdrückt wurde und nicht im Bildungswesen integriert war. Israels Ministerpräsident, Ben Gurion, war – dieser Theorie zufolge – einer der Hauptverantwortlichen, der die Richtlinien für diese Haltung gegenüber den Überlebenden vorgab, und kein Gespür für das Leiden und den Tod der europäischen Juden zeigte. In einigen Geschichtsbüchern und literarischen Werken wird eine Realität beschrieben, in der die Shoah in den 40er und 50er Jahren ein unerwünschtes Thema war. Im Bezug auf eine neue, erst in der Entstehung befindliche israelische Identität, wird die Shoah als ein unbedeutendes Element dargestellt, als ein Thema, das tabuisiert wurde. Zudem wird die Begegnung zwischen den eingesessenen Israelis und der Gesellschaft der Überlebenden als feindlich beschrieben. Diese ganze Epoche wird als eine Zeit des Schweigens charakterisiert. Aufgrund der Weigerung der Israelis, die Geschichten der Shoah-Überlebenden zu hören, entwickelte sich unter den Überlebenden ein Gefühl von Bitternis und Frustration.

Diese Annahme ist, wenn man die Geschichte gut prüft und recherchiert, nur teilweise richtig. Die Erinnerung an die Shoah hat die israelische Gesellschaft und den Staat Israel seit den Tagen vor der Staatsgründung ständig begleitet und geprägt. Diese Erinnerung und ihre Konsequenzen werden im öffentlichen Leben Israels wieder und wieder lebendig und wirken sich bis heute sehr prägend auf die israelische Gesellschaft aus. Die Erinnerung an die Shoah fließt immer wieder in Debatten und Diskussionen ein, seien sie nun ideologischer, kultureller oder politischer Natur. Diese Debatten erzeugen oft viel Unruhe in der israelischen Gesellschaft.

Die Shoah ist mit der Zeit eine zentrale Komponente und ein Zeichen der israelischen Identität geworden. Schon in den 40er Jahren war die Erinnerung an die Shoah ein wichtiger Teil des Gründungsmythos des Staates Israel. Doch die Art und Weise der Erinnerung und deren Inhalte haben sich seitdem in vielerlei Hinsicht verändert.

Die ersten Jahre nach Kriegsende

Die ersten Überlebenden die nach Ende des II. Weltkrieges nach Eretz Israel immigrierten, gehörten oft zur Führung der verschiedenen Widerstandsbewegungen, die die Kämpfe in den verschiedenen Ghettos organisierten. Diese Leute wurden schon bald nach ihrer Ankunft zu einer Sensation und wurden von vielen als Helden gefeiert. Sie reisten durch das ganze Land, um ihre Geschichten vor Versammlungen des Yishuv zu erzählen. Das Thema des Widerstands stieß unter den Mitgliedern des Yishuv auf reges Interesse. Diese Leute veröffentlichten in den 50er Jahren auch die ersten Bücher über die Shoah in Israel, zum Beispiel das „Buch der Ghettokämpfer“(1954), das „Buch der HaShomer HaZair“ (1956) – eine linksgerichtete, sozialistische Partei, die viel zum Widerstand gegen die Nazis beigetragen hat – und das „Buch der jüdischen Partisanen“ (1958). Man sieht schon an den Titeln, dass der Schwerpunkt auf dem Kampf gegen die Deutschen während der Shoah liegt. Kein Wunder, dass diese Leute mit Freude aufgenommen wurden, und die Gesellschaft gerne ihre Geschichten gehört hat. Der Aufstand wurde als der zentrale Fakt der Shoah aufgefasst, den man am meisten in Erinnerung behalten wollte. Der Kampf hat geholfen die jüdische Ehre während der Shoah zu retten, und andererseits war er sehr eng mit den Werten von Verteidigung und Heldentum der jüdischen Kämpfer in Eretz Israel verbunden. Zu dieser Zeit – von 45 bis Ende der 50er Jahre – entwickelte sich auch eine sehr kritische Haltung gegenüber der Masse der europäischen Juden, die den Deutschen keinen Widerstand leisteten und „wie die Schafe zur Schlachtbank liefen.“

Diese kritische Haltung gegenüber den Überlebenden basiert zum Teil auch auf Schuldgefühlen auf Seiten der israelischen Gesellschaft, die ihren Brüdern in Europa während des Holocausts nicht zur Rettung kommen konnte. Die Massenermordung von so vielen Juden wurde allgemein als ein Versagen interpretiert – ein Versagen an dem die israelische Gesellschaft keinen Anteil haben wollte.

Zusätzlich zu dieser kritischen Haltung gegenüber den Überlebenden kam es während dieser Zeit auch zu scharfen Angriffen und Vorwürfen gegenüber den Judenräten und ähnlichen jüdischen Körperschaften. Diese Kritik verstummte erst wieder gegen Ende der 80er Jahre.

Es ist wichtig zu erwähnen, dass die Persönlichkeiten aus dem jüdischen Widerstand eine ausgeprägte Tendenz an den Tag legten, ihre politische Partei, die linksgerichtete „HaShomer HaZair,“ zu fördern. Sie präsentierten ihre Organisation als eine Gruppe, die immer und überall Widerstand leistete und gegen jegliche Bedrohung kämpfte. Dies führte dazu, dass der Anteil rechter Kampfgruppen, wie zum Beispiel im Warschauer Ghetto, wo auch eine rechte Gruppe sehr mutig gegen die Deutschen gekämpft hat, geleugnet wurde. Die verschiedenen politisch orientierten Gruppierungen waren einander oft feindlich gesinnt und hatten sich selbst für die bitteren Kämpfe während des Warschauer Ghettoaufstandes nicht zusammen geschlossen, was eine große Tragödie war. (…)

Bei all diesen Verzerrungen in der Geschichtsschreibung während der Zeit direkt nach dem Zweiten Weltkriegs, ist es ist wichtig sich vor Augen zu halten, dass die Shoah die größte Katastrophe für das jüdische Volk darstellt – eine Katastrophe, die tiefgreifende ideologische Umwälzungen bewirkt hat und viele grundsätzliche Fragen, Diskussionen und innergesellschaftliche Krisen provozierte.

Diese einseitigen Stereotypen und oberflächlichen Bilder waren damals nur möglich, weil man im Yishuv nur relativ wenig über die Shoah wusste und auch keine große Motivation bestand, sich weiter dafür zu interessieren. Der lange Unabhängigkeitskrieg, der von Mai 1948 bis ins Frühjahr 1949 andauerte, verstärkte diese Tendenz um ein weiteres. Dieser Krieg betonte den Kampf mit der Waffe in der Hand, was die Kritik gegenüber dem „passiven Juden“ noch vertiefte. Dazu kamen noch Berichte von jüdischen Repräsentanten in den europäischen Dpa-Camps (displaced-persons), das waren die Lager, die von den Alliierten, speziell auf deutschem Territorium, für die Überlebenden des Holocaust nach Ende des Zweiten Weltkriegs errichtet wurden. (…)

Als sich die Tore von Eretz Israel für die Massenimmigration von Juden aus Europa öffneten, sahen sich ein Großteil der Überlebenden der Shoah einer sehr kritischen öffentlichen Atmosphäre des Yishuv gegenüber. Diese kritische Einstellung setzte sich aus mehreren Komponenten zusammen. Einerseits prangerte man die Passivität der Masse der europäischen Juden während der Shoah an; zudem kam der negative Stereotyp der Gesellschaft der überlebenden Juden in Europa; und weiterhin bestand von Seiten des Yishuv eine anhaltende äußerst befremdliche und ablehnende Haltung gegenüber der jüdischen Existenz in der Diaspora.

Nach der StaatsgründungDie zweite Hälfte der 40er sind die Jahre als die Ereignisse der Shoah in ihrer ganzen Dimension langsam ersichtlich wurden. Die jüdische Bevölkerung von Palästina erkannte, dass es kein europäisches Judentum mehr gab, das in den geplanten jüdischen Staat einwandern wird, der zionistische Traum ist ohne Juden geblieben. (…)

Die Beteiligung im 48er Krieg hat den Überlebenden geholfen ihre tragischen Jahre der Shoah etwas zu vergessen und mit neuem Mut und Kraft dem Leben ins Auge zu blicken. Viele haben diesen Prozess die „Rache des Wiederaufbaus“ genannt. Jedes Kapitel in ihrem Leben wurde als Sieg gewertet, gegen den Plan der Nazis die Welt „Judenrein“ zu machen. Aber der Unabhängigkeitskrieg endete, und die Alteingesessenen hatten viele existentielle Probleme zu bewältigen, die sie daran hinderten den Überlebenden richtig zuzuhören und deren traumatische Geschichte zu verstehen.

Die 1950er JahreIn den 50er Jahren traten zahlreiche Aktivitäten, Projekte und öffentliche Diskussionen verstärkt zutage, die von den verschiedenen Überlebenden-Organisationen organisiert und initiiert wurden. Die Überlebenden übten Druck auf die Regierung Israels aus, um der Shoah einen „offiziellen“ Status und eine zentrale Rolle im Leben des neuen Staates zu geben. Diese Aktivität beweist zweifellos, dass die Überlebenden nicht am Rande der Gesellschaft standen, sondern sehr zentral wirkten, und dass sie doch eine gewisse politische Macht und Einfluss hatten.

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In den 1950er Jahren wurden auch einige Prozesse gegen ehemalige jüdische Funktionshäftlinge geführt, die per Zufall von ihren früheren Opfern auf der Straße identifiziert worden waren. Diese schmerzhaften Fälle wurden schnell beendet, weil die israelische Gesellschaft für so eine empfindliche Beschäftigung unreif war. Tendenziell versuchte man, dieses dunkle Kapitel der Funktionshäftlinge und Fragen hinsichtlich Kollaboration möglichst schnell zu beenden. Man wollte sich in erster Linie den Hauptanliegen und nicht den, aus damaliger Sicht, Nebensächlichkeiten zuwenden. Man wollte den Toten gedenken und den Überlebenden helfen, ein neues Kapitel in ihren Leben aufzuschlagen und eine jüdische Heimstatt in Israel aufzubauen. Die Bestrafung von Kollaborateuren wurde in diesem Zusammenhang als nicht besonders wichtig erachtet.

Die 1960er JahreMan kann allgemein sagen, dass die israelische Bevölkerung bis 1961 mit den Überlebenden nicht immer geduldig umging, und kein offenes Ohr für die persönlichen Geschichten der Überlebenden hatte. Die verbreitete Tendenz der Menschen war es, sich von den Überlebenden und ihren tragischen Geschichten zu distanzieren, die als Last angesehen wurden. Es wäre falsch zu sagen, dass die Überlebenden während der ersten zehn bis fünfzehn Jahre nach ihrer Einwanderung überhaupt nicht von ihren schrecklichen Erlebnissen berichten konnten. Es ist ebenso unpassend diese Zeit als „die Zeit des großen Schweigens“ zu bezeichnen, ein Begriff der öfter in der Historiographie verwendet wird. Die Erlebnisse aus dem Holocaust wurden schon von Zeit zu Zeit erzählt, aber nicht als persönliche Erfahrungen – sondern eher als distanzierte, „neutrale“ Erzählungen. Da die persönliche Sphäre noch nicht erreicht war, blieben diese Erzählungen in den Folgejahren noch etwas Anonymes, Unfassbares und konnten dadurch von vielen Leuten innerlich noch nicht begriffen werden. Nur durch die persönlichen Erinnerungen der Überlebenden war es später möglich die Shoah näher kennen zu lernen. Doch damals, zu Beginn der 50er hatte der Prozess der persönlichen Erinnerung noch nicht begonnen in das allgemeine Bewusstsein und das kollektive Erinnern vorzudringen.

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Die israelische Gesellschaft hatte damals sehr klare und deutliche Erwartungen, was wünschenswert war und was nicht, wie zum Beispiel Hebräisch mit dem richtigen Akzent zu sprechen. Es galt sich der Tugenden der israelischen Arbeiterbewegung anzueignen. Das erwies sich vorteilhaft für eine gute und schnelle Eingliederung. Die Werte der Arbeiterbewegung hatten sich in der Gesellschaft, den linken Jugendbewegungen, den Kibbutzim usw. stark verbreitet, und ein Leben an der Grenze in einem Pionierposten war sehr angesehen. Auch die Überlebenden wollten Teil dieser Gesellschaft sein und es entsprach auch dem Interesse der Mehrheit, sie zu integrieren.

Der Eichmann-ProzessIm Jahre 1961 begann in Jerusalem der Prozess gegen Adolf Eichmann, dem Architekten der „Endlösung der Judenfrage“. Dieser Prozess verursachte eine radikale Veränderung in der Haltung der israelischen Gesellschaft zur Shoah. Die Wirkung dieses Prozesses war kolossal. Während des Eichmann-Prozesses erreichten die Medien eine riesige Öffentlichkeit, und das Thema „Shoah“ rückte ins Zentrum des Interesses in der israelischen Gesellschaft. Zum ersten mal hörten viele Israelis unmittelbar die persönlichen Geschichten des Leidens in der Shoah. Ob sie wollten oder nicht, sie mussten sich mit der Shoah auseinandersetzen.

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Dieser Prozess prägte das Erwachsenwerden einer ganzen Generation. Mit Ende des Prozesses, 1963, lässt sich eine Vertiefung des Bewusstseins im Bezug auf die Shoah und eine Stärkung des öffentlichen Ansehens von Überlebenden erkennen. Sofort nach dem Prozess begann auch ein neues nationales Projekt, dass in den Schulen unter dem Titel „Adoption der Gemeinden“ durchgeführt wurde. Dieses Projekt förderte ein konkretes Erinnern und Gedenkens des Lebens der europäischen Juden vor und während der Shoah und brachte zudem verstärkt die Erzählungen von Überlebenden mit ins Bewusstsein. Solche Initiativen reflektieren, dass das Thema „Shoah“ allgemein verstärkt in Lehrpläne integriert und mit Erziehungsfragen verknüpft wurde. Der Prozess hatte auch einen enormen Einfluss auf die Shoah-Recherche.

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Die 1970er Jahre: Israelische Realitäten im Wandel

Mit der Zeit hat sich die Lebensweise in Israel zunehmend gewandelt und westlichen Strukturen angepasst. Dadurch verloren die Werte der Arbeiterbewegung langsam ihre Hegemonie. Diese Entwicklung kam zu ihrer Reife in den 60er Jahren aufgrund von wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungen in der israelischen Gesellschaft. Das politische Ereignis, das diese Veränderung symbolisierte, war die Wende von ´77, das heißt der politische Regierungswechsel von der Arbeiterpartei zum Likudblock. Das Selbstbewusstsein der Israelis, das durch die militärischen Siege im Sechs-Tage-Krieg und dem Yom-Kippur-Krieg deutlich gestärkt wurde, ermöglichte die Legitimierung der persönlichen Erinnerung. Es ist also nicht verwunderlich, dass während der 70er viele neue Bücher veröffentlicht wurden, die sich nicht mehr länger mit der kämpfenden Minorität beschäftigten, sondern mit den existentiellen Erfahrungen der einfachen Leute, die tagtäglich um ihr Leben kämpften, die sich ihrem moralischen Dilemma stellten und die Gefühle der Erniedrigung und des Schmerzes erlebten.

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Die neue Haltung gegenüber den Überlebenden der Shoah, die Bereitschaft deren Aussagen zu hören, basierte auf der Kritik am Verhalten der alteingesessenen Israelis gegenüber den Neueinwanderern unter anderem auch den Sepharden, d.h. den Juden aus den arabischen Ländern. Die Gruppe der Überlebenden war ein Teil der Kritiker, da auch sie – ähnlich wie die sephardischen Juden – bei ihrer Einwanderung gezwungen wurden, eine israelische Identität anzunehmen, die stark von den alteingesessenen Israelis bestimmt wurde. Ihre ureigene Geschichte, ihre kulturellen Gewohnheiten, Normen und Werte ihrer verlorenen „Heimat“ mussten sie ersatzlos zur Seite legen. Als sie von Zeit zu Zeit ausgelacht wurden, reagierten sie oft nicht, um ihre Integration nicht zu gefährden. Nach vielen Jahren erfolgreicher Eingliederung in die israelische Gesellschaft, fühlten sie sich berechtigt und ausreichend selbstbewusst, um ihre Kritik darüber zu äußern, wie abweisend und unfreundlich sie in den 40ern und 50ern in Israel aufgenommen wurden, und dass Israel nicht so ohne weiteres die Funktion des Verlorenen übernehmen konnte.

Bedeutende Ereignisse

Wie ich versucht habe bis jetzt zu zeigen, gab es in Israel eigentlich keine längere Zeit, in der das Thema Shoah die öffentliche Meinung nicht beherrschte. Dennoch kann man einige Ereignisse identifizieren, die man als Wendepunkte für das Selbstbewusstsein der israelischen Gesellschaft bezeichnen kann.

Vier solche Daten kommen in Frage und werden von den Historikern erwähnt:
• Der Eichmann-Prozess1961, ein Ereignis, dass die Shoah in das Bewusstsein der israelischen Gesellschaft gebracht hat.
• Die unmittelbare Wartezeit kurz vor dem Sechs-Tage-Krieg 1967 und die Folgezeit.
• Der Yom Kippur Krieg
• Die politische Wende 1977

Jedes dieser Ereignisse stand in einem direkten Zusammenhang mit der Erinnerung an die Shoah und bewirkte eine grundlegende Veränderung des Selbstwusstseins der israelischen Gesellschaft

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Rabins Ermordung:

Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust hat schon immer eine zentrale Rolle im kollektiven Bewusstsein der Israelis gespielt und soziale und politische Prozesse mitunter stark beeinflusst. Im inner-israelischen politischen Diskurs spielen Assoziationen mit der Shoah eine nicht zu unterschätzende Rolle, was sich zum Beispiel am Rabin Mord veranschaulichen lässt.

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Die Shoah als kollektives Trauma:

Die Auswirkungen der Auseinandersetzung mit dem Holocaust, und vor allem die tiefe Verankerung des Holocaust als kollektives Trauma im israelischen Bewusstsein, hat auch immer wieder kritische Ansichten hervorgerufen.

Es wird zum Beispiel argumentiert, dass Israelis sich im Rahmen der Erinnerung an den Holocaust weiterhin in der Rolle des ständigen Opfers sehen und als Folge (beabsichtigt oder unbeabsichtigt) die Verantwortung bezüglich der Politik gegenüber den Palästinensern abweisen. Kritische Stimmen weisen in diesem Zusammenhang auf die Gefahr hin, dass durch die fortwährende Bestärkung einer kollektiven Angst vor einem neuen Holocaust die Kritik von außen, aber auch Selbstkritik von innen, automatisch als feindlich bewertet werden.

Zweifellos bestärkt die mahnende Erinnerung an die Shoah ein Gefühl von ständiger existentieller Bedrohung unter den Menschen in Israel. Dieses Gefühl der ständigen Angst kann als Folge einen flexibleren und offeneren Dialog mit den arabischen Nachbarn verhindern und vor allem eine friedliche Lösung des Konflikts mit den Palästinensern erschweren. Die Gefahr besteht letztendlich darin, dass Politik nicht mehr auf realitätsnahen Maßstäben basiert – das heißt nicht mehr Realpolitik ist.

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Bei einer kritischen Annäherung an das Thema, muss man sich jedoch eines immer wieder vor Augen halten: die Auseinandersetzung mit dem Holocaust hat sehr vielseitige und komplexe Folgenerscheinungen und man sollte sich in Acht nehmen, darüber vorschnell zu urteilen, denn als historisches Trauma wirkt die Erinnerung an den Holocaust zumeist nicht bewusst, sondern eben unbewusst auf die Wahrnehmung der Menschen in Israel ein.

Schlusswort:

Abschließen möchte ich diesen Vortrag mit ein paar Beispielen über die konkrete Art und Weise, wie man heute der Shoah in Israel gedenkt.
(…)

Neben der offiziellen wird die persönliche Erinnerung der Überlebenden weiterhin stark aufrecht erhalten. In diesem Rahmen stellen sich Überlebende heute oft die Aufgabe, ihre Geschichte bei Besuchen in Schulen und der Armee mitzuteilen, um die junge Generation an ihren Gefühlen und Erfahrungen teilhaben zu lassen und der Jugend das Thema Shoah näher zu bringen. Heute sind wesentlich mehr Überlebende dazu bereit als vor 20 Jahren, über die Erlebnisse ihrer schrecklichen Vergangenheit zu sprechen. Dies beweisen unter anderem auch die vielen Bücher, die heute von Überlebenden veröffentlicht werden.

Diese persönliche Erinnerung durch Überlebende wird nicht mehr lange möglich sein. Jedoch zeigt die Entwicklung der letzten Jahre, vor allem in der Literatur, auch eine neues Phänomen. Zunehmend äußert sich die zweite und dritte Nachkriegsgeneration zu ihren Empfindungen über den Holocaust. Vermehrt werden Biographien von den Kindern der Überlebenden-Generation veröffentlicht. Daran sieht man, dass, auch wenn die Überlebenden bald nicht mehr unter uns sein werden, die intensive Beschäftigung mit dem Holocaust ungebrochen weiter geht.

Diese sehr umfangreiche historische Studie des israelischen Historikers Dr. Gideon Greif – welcher in der israelischen Shoah-Gedenkstätte Yad Vashem an der Erforschung der Shoah, insbesondere an der Geschichte des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, tätig ist – ist zuvor in der Zeitschrift psychosozial, 26. Jg. (2003), Heft III (Nr. 93), S. 91-105 publiziert worden. Sie ist von Roland Kaufhold für die Veröffentlichung in haGalil sehr stark gekürzt worden. Wir danken dem Psychosozial – Verlag für die freundliche erteilte Nachdruckgenehmigung und empfehlen die Lektüre der sehr viel umfangreicheren Originalversion.

Weitere Themenschwerpunkthefte von psychosozial zum Thema:

Psychoanalyse als politische Psychologie, psychosozial Nr. 47 (1991).
Mediale Inszenierung rechter Gewalt, psychosozial Nr. 61 (1995).
Geschichte ist ein Teil von uns, Nr. psychosozial 67 (1997).
Generation, Unbewusstes und politische Kultur, psychosozial Nr. 68 (1997).
Deutsch-israelische Begegnungen, psychosozial Nr. 83 (2001).
Teitgemäßes über Krieg und Tod, psychosozial Nr. 84 (2001).
Leben im Kibbutz, psychosozial Nr. 87 (2002).
Über Lebensgeschichten. Trauma und Erzählung, psychosozial Nr. 91 (2003).
Kindheit im II. Weltkrieg und ihre Folgen, psychosozial Nr. 92 (2003).
Migration und Psyche, psychosozial Nr. 93 (2003).
Folter und Humanität, psychosozial Nr. 100 (2005).

Angaben zum Autor
Dr. Gideon Greif, geb. 1951, israelischer Historiker und Pädagoge, stammt aus einer deutschsprachigen, jüdischen Familie und arbeitet als Historiker und Pädagoge an der jüdischen Shoah-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, Israel. Dr. Greif widmet sich seit über 25 Jahren der Erforschung der Shoah. Im Zentrum seiner Recherchen steht die Geschichte des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Sein erstes, auf Deutsch veröffentlichtes Buch erschien 1995: ”Wir weinten tränenlos – Augenzeugenberichte der jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz” (auch Fischer TB 1999). 2000 Promotion an der Universität Wien. Gideon Greif hat eine Vielzahl von Dokumentationen über die Shoah für den israelischen Rundfunk und das israelische Fernsehen produziert.
Mehr von Gideon Greif: Die Jeckes: Deutsche Juden aus Israel erzählen; „Wir weinten tränenlos“