KZ-Gedenkstätte Dachau: Von der Unfähigkeit angemessen zu gedenken

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Über das oberbayerische KZ Dachau sind eine Menge Bücher, Broschüren und Faltblätter gedruckt worden. Minutiös halten sie Begebenheiten, Ereignisse und Personen der Jahre 1933 bis 1945 fest; präzise, chronologisch und systematisch berichten sie über die Verbrechen auf diesem Stück bayerischen Bodens. Keinem vernünftigen Menschen käme es daher in den Sinn diese Aufklärungsarbeit zu kritisieren. Bedauerlicherweise, und hier ist Kritik mehr als nur angebracht, endete jedoch die Bereitschaft zur Aufarbeitung der KZ-Geschichte jeweils mit dem Jahre 1945. Denn bis zur Einrichtung der Gedenkstätte im Jahre 1965 vergingen zwanzig Jahre, zwanzig Jahre, in denen Dinge geschahen, die besonders uns Nachgeborenen zu fast ebenso großer Schande gereichen, wie das, was sich vor 1945 am Rand jener Kleinstadt vor den Toren Münchens ereignete…

Von Robert Schlickewitz

Über diese zwanzig Jahre hat noch niemand ausführlich und schonungslos berichtet. Dies hat seinen Grund. Es regiert nämlich in Bayern seit über einem halben Jahrhundert immer noch jene Partei, die die Hauptverantwortung am so beschämenden und gewissenlosen Umgang mit unserem braunen, bayerischen Erbe trägt.

Hätte es nicht beherzte und engagierte Männer wie den niederländischen Publizisten, Übersetzer und Kenner der deutschen Literatur, Nico Rost (1896-1967) und einige andere Aufrechte gegeben, wüssten wir wenig darüber Bescheid, was sich nach dem Ende des Holocaust in Dachau ereignete. Rost war in den Jahren 1944-1945 Dachau-Häftling und er verfasste ein Lagertagebuch, das zu den eindrucksvollsten und informativsten Dokumenten aus erster Hand über die Lagergeschichte zählt. Es wurde später mehrfach unter dem Titel „Goethe in Dachau“ aufgelegt, zuletzt 2001. Rost kam nach Kriegsende noch mehrere Male nach Dachau und berichtete über den jeweils angetroffenen Zustand des Lagers. Seiner Initiative ist es mit zu verdanken, dass später tatsächlich eine Gedenkstätte entstehen konnte.

Im Folgenden wird eine Gedenkrede, die Rost auf dem KZ-Ehrenfriedhof Dachau am 12. November 1960 hielt, wiedergegeben, abgedruckt in der „Deutschen Woche“ vom 23.11.1960. Sie enthält in ihrer ersten Hälfte einen Rückblick auf bestimmte zwischenmenschliche Aspekte des Lebens im Lager und vermittelt in der zweiten einen Eindruck davon, wie sehr menschlich enttäuscht der ehemalige KZ-Häftling Rost über die Verlogenheit und Gleichgültigkeit der Deutschen seiner Generation, über deren schäbigen Umgang mit der nahen Vergangenheit war und welch große Hoffnung er in die nachwachsende Generation setzte, es einmal besser zu machen. An keiner Stelle verurteilt dabei Rost ‚alle‘ Deutschen pauschal, vielmehr unterscheidet er sehr wohl zwischen Nazis, Neo-Nazis sowie „Faschisten“ (der damals bei linken Intellektuellen geläufigen Bezeichnung für den politischen Gegner) auf der einen und ‚anständigen‘ Deutschen auf der anderen Seite.

„Opfer für eine bessere Zukunft

Liebe Freunde, sehr verehrte Anwesende!

Hier auf dem Friedhof des ältesten deutschen Konzentrationslagers, das während zwölf langer Jahre in tragischem Betrieb war, gedenken wir heute wiederum in tiefer Ehrfurcht unserer Zehntausenden Toten.

Diese Zehntausende wurden hier ermordet, erschossen, gehängt, zertrampelt, erschlagen, vergiftet, abgespritzt, zum Vergasen nach Hartenstein geschickt, sie starben an Erschöpfung, sie starben an dem von der SS organisierten Hunger, und sie starben an den von der SS provozierten Infektionskrankheiten. Sie alle sind hier gestorben, weil sie Gegner eines Mordregimes waren. Die meisten von ihnen starben in voller Erkenntnis ihrer Aufgabe, ihres Opfers für eine bessere Zukunft.

‚Ich weiß nicht‘, schrieb später einmal Dr. Joseph Müller, ‚ob ich am Ende meines Lebens so ruhig sterben werde, wie ich damals gestorben wäre, denn ich hatte das Bewußtsein, für das höchste Gut zu sterben, das es für den einzelnen wie für die Menschheit gibt: für den Frieden.‘

Diese Worte des ‚Ochsensepp‘, der dem Tod hier damals unzählige Male von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hat, drücken genau aus, was wir, was Tausende Freunde genauso fühlten.

Hier starben Angehörige von 34 verschieden Nationen. Männer, Frauen und Kinder. Wie viele, wieviel mehr als wir wissen, hier ihr Leben lassen mußten, werden wir aber niemals wahrheitsgemäß erfahren, denn die sonst so pedantisch genauen Buchhalter des Todes haben in den letzten Tagen ihrer Schreckensherrschaft ihre Statistik des Grauens absichtlich und mit dem ihnen eigenen Verbrecherraffinement systematisch durcheinandergebracht und verfälscht, um ihre Untaten zu verschleiern und zu vertuschen.

Besonders gedenken möchte ich heute an dieser Stelle auch unseres vor kurzem verstorbenen Freundes und Lagerkameraden, des Pfarrers Roth. Er war ein tapferer, unerschrockener Kämpfer gegen Nazis und Neo-Nazis. Er war unser Freund und Verbündeter, ein Feind unserer Feinde, ein Gegner aller derer, die nur das Vergessen fördern möchten, aber die offene Wahrheit scheuen. Wir wissen nicht genau, auf welche tragische Weise sein Leben ein so frühzeitiges Ende fand, aber wohl wissen wir, daß er uns fehlen wird in dem Kampf gegen die Dunkelmänner aller Richtungen.

Meine Gedanken gehen heute auch noch zu einem anderen alten Dachauer, der damals die Nummer 77711 trug, einem Algerier, der jetzt – im Jahre 1960 – wieder in einem KZ sitzt! Und zwar diesmal in seiner Heimat Algerien, und nur, weil er wiederum für dieselben Ideale gekämpft hat wie damals, gegen Feinde, die dieselben sind, wie damals …’Es wird‘, schrieb er, ‚auch jetzt und hier gefoltert, diesmal nicht von deutscher SS, aber von französischen Ultras.‘

Wir, meine deutschen Freunde aus dem Lager, und Sie, die deutsche Jugend, haben – glaube ich – das Recht zu protestieren gegen diese Greueltaten, unserem algerischen Lagerfreund angetan – und nicht nur ihm allein.

Liebe junge deutsche Freunde! Ich habe – nachdem ich als alter Dachauer, als holländischer Schriftsteller und als Mitglied des Internationalen Dachau-Komitees von Ihnen aufgefordert wurde, bei dieser Gedächtnisfeier zu sprechen – mich immer wieder gefragt: ‚Was soll ich hier aussagen, das nicht nur ganz im Sinne unserer Toten ist, sondern das auch der deutschen Jugend etwas gibt. Das ihr helfen wird, nicht nur zu verstehen, was hier geschah, sondern das auch helfen kann zu verhindern, daß eine solche Tragödie sich jemals wiederholen könnte.‘ Erlauben Sie mir daher, möglichst konkret zu sein, und Ihnen, weil das meiner Meinung nach lange nicht bekannt genug ist, etwas über die Hilfsbereitschaft der Gefangenen untereinander berichten.
Zwölf lange Jahre hat hier im KZ Dachau (und in den anderen Lagern ist es genauso gewesen) die SS geherrscht; mit Mord, Folterungen und Grausamkeiten aller Art. In denselben Jahren sind hier aber von Häftlingen, mit einer Selbstverständlichkeit ohnegleichen, kaum vorstellbare Taten menschlicher Größe und Selbstaufopferung vollbracht worden. Ohne diese Beweise echter Zusammengehörigkeit, ohne diese Bereitschaft, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, um das eines anderen zu retten, wären hier noch unvergleichlich mehr Opfer gefallen. Zu diesen stillen Helden zählten Angehörige aller Nationen, doch die Wahrheit gebietet festzustellen, daß besonders viel Deutsche unter ihnen waren.

Ein holländischer evangelischer Geistlicher hat seinem Buch, in dem er die eigenen Erlebnisse im Lager beschreibt, den Titel gegeben: ‚Hölle und Himmel von Dachau‘. Dieser Theologe hat gesehen und gefühlt, daß es hier in Dachau beides gab, dicht nebeneinander: die Hölle, aber auch den Himmel. Lassen Sie mich Ihnen erst eine Geschichte aus der ‚Hölle‘ erzählen, eine der vielen, viel zu vielen: Im Gartenkommando des Lagers waren – vor dem Krieg – auch Juden beschäftigt, unter ihnen ein Vater mit seinem Sohn. Als der aufsichtführende SS-Mann, ein neunzehnjähriger Totenkopf-SSler, eines Tages sah, daß der Sohn seinem alten Vater bei den schwersten Arbeiten half, befahl er plötzlich: ‚Zurück zur Natur, du Affe! Rauf auf den Baum‘, und brüllte, den Karabiner im Anschlag: ‚Willst du wohl höher, noch höher‘, und jagte den Jungen bis in den höchsten Gipfel der Tanne, bis diese sich bog. Dann befahl der SS-Mann dem Vater, die Säge zu packen – und den Baum umzusägen.
Weinend fiel der alte Mann vor ihm auf die Knie, doch nun mißhandelte der SSler ihn aufs schwerste. ‚Tu es Vati; denk an Mutti und die Geschwister.‘ Zitternd ergriff der Vater die Säge und begann zu sägen. Dann ließ er sie wieder sinken, flehte wieder um Gnade, doch erneut wurde er geschlagen und getreten, und erneut rief der Sohn: ‚Tu es doch, bitte, tu es doch.‘ Und der Vater sägte aufs neue.
Plötzlich ein Schrei. Der Baum fiel – und der Sohn lag zerschmettert vor seinen Füßen.
Am gleichen Abend rutschte der Vater auf seinen Knien in das Revier – gehen konnte er schon nicht mehr – und bat, seinen toten Sohn doch noch einmal sehen zu dürfen. Er wurde hinausgeprügelt. Am Tage darauf starb auch er an den Folgen der erlittenen Mißhandlungen. Das war ‚die Hölle Dachau‘.
Neben dieser tiefsten Hölle, diesen Gemeinheiten der SS, gab es den Himmel der großen menschlichen Aufopferungsfähigkeit und Hilfsbereitschaft der Häftlinge untereinander. Hier nur ein Beispiel von den unzähligen, die ich nennen könnte:
Einer Tages ließ ein Arbeitskommando beim Abladen ein Betonrohr fallen. Es zerbrach – die Scherben lagen am Boden. Die SS schrieb das ganze Kommando auf, die Strafmeldung war fällig. Nach einigen Wochen kam aus Berlin der Befehl: Das ganze Kommando zum Strafrapport antreten! Strafe: 25 Stockhiebe für jeden Mann dieses Arbeitskommandos. Unter den betreffenden Häftlingen war aber einer mit hohem Fieber: 39, 5 Grad, und für ihn würden die Prügel den sicheren Tod bedeuten. Da trat ein anderer Gefangener vor, nannte Name und Nummer des Kranken und ließ sich an seiner Stelle auf den Prügelbock schnallen, die fünfundzwanzig Stockhiebe überziehen – und danach auch noch zwei Tage in den Bunker stecken. Dieser Häftling opferte sich, um das Leben eines anderen zu retten, wohl wissend, was er riskierte: kaputtgeschlagene Nieren und für sein ganzes weiteres Leben zum Krüppel zu werden. Auch der Blockälteste und der Stubenälteste, der Blockschreiber und alle Mithäftlinge halfen bei diesem ‚Betrug‘ – wohl wissend, welchen Grausamkeiten, Folterungen und ‚Repressalien‘ der SS sie sich aussetzten, wenn er entdeckt worden wäre.

Viele solcher Vorbilder verdienten eigentlich erwähnt zu werden, denn sie alle sind unwiderlegbare Zeugen dafür, daß man den KZ-Häftlingen alles nehmen konnte – nur eines nicht: die menschliche Freiheit, um sich zu bewähren.

Diese Dachauer KZ-Häftlinge, die hier unsagbar gelitten haben und von denen so viel die Befreiung nicht mehr erlebten, kamen fast alle aus der europäischen Widerstandsbewegung. Diese Widerstandsbewegung war – und darauf möchte ich besonders hinweisen – nicht der Kampf einer politischen Partei gegen eine andere, doch stellte sie zweifellos ein neues Element in der Geschichte dar. Denn noch niemals haben sich in den vergangenen Jahrhunderten so viele – beinahe ein ganzer Kontinent! –, noch niemals zuvor hatten sich Männer und Frauen aus den verschiedensten politischen und weltanschaulichen Lagern und aller Altersstufen so gemeinsam gegen einen gemeinsamen Feind erhoben. So bestand der allergrößte Teil dieser Häftlinge aus Patrioten, beseelt von dem innigen Wunsch, von dem leidenschaftlichen Verlangen, in ihrer gepeinigten Heimat die Freiheit wieder erstehen zu lassen.

Ich habe gemeint, heute und hier, da wir dieser Toten gedenken, besonders nochmals auf das meistens sehr hohe menschliche Niveau, auf die meistens sehr hohe Moral bei den Lagerhäftlingen hinweisen zu müssen, weil gewisse Kreise, besonders in Ihrem Land, der Jugend noch immer weismachen möchten, daß in den KZ, also auch in Dachau, hauptsächlich Kriminelle saßen, eine Behauptung, deren völlige Unrichtigkeit jene Kreise am allerbesten kennen.

Liebe junge Freunde! Die in den KZ und in den Gefängnissen erprobte tiefe Freundschaft mit den Männern und Frauen des deutschen Widerstandes stärkt unser Vertrauen zu Euch. Wir sind davon überzeugt, daß Sie, die deutsche Jugend, unsere besten Verbündeten sind und sein werden in dem Kampf, dem die hiesigen Toten zum Opfer fielen und der leider noch immer nicht restlos zu Ende ist, nämlich bei der völligen Vernichtung des Faschismus mit allen seinen Wurzeln und mit allen seinen noch immer wuchernden Ausläufern.

Leider sind noch immer große Teile der jüngeren Generation über die Hitlerzeit nicht genügend orientiert. Sicherlich sind auch unter Ihnen viele, denen weder die Eltern noch die Lehrer ausführlich von den KZ oder von der Ermordung der über sechs Millionen Juden erzählt haben. Und wahrscheinlich wissen noch sehr viele auch nichts von den Heldentaten des internationalen sowie des deutschen Widerstandes und schon gar nichts von dem heroischen Leben und Sterben, von der Hilfsbereitschaft in den Lagern.

Fordern Sie, möchte ich Ihnen darum zurufen, daß in den Schulbüchern, vor allem in den Lehrbüchern für den Geschichtsunterricht, die letzten 25 Jahre ausführlich behandelt werden, daß diese Zeit nicht mit ein paar Zeilen abgetan wird – und daß man Ihnen die volle Wahrheit sagt! Verlangt Lehrbücher, in denen man Euch erklärt, wie, aus welchen Ursachen es soweit kommen konnte und wer mitschuldig daran ist, wer mitgeholfen hat, daß die Republik von Weimar endete … bei Hitler. Verlangt, daß man Euch von den Taten des deutschen und auch des ausländischen Widerstandes erzählt, Heldentaten, woran die Erinnerung nie erlöschen darf.

Erich Kästner hat einmal, schreibend über die Haltung der deutschen Regierung gegenüber den Widerstandskämpfern, gefragt: ‚Hat man wenigstens versucht, diese Männer und Frauen in unserer vorbildarmen Zeit zu dem zu machen, was sie sind, zu Vorbildern?‘ Solche Vorbilder aus dem KZ Dachau sind, um nur einige aus vielen zu nennen: Heinrich Stöhr, Willi Bader, Karl Wagner, Hans Beimler und Pater Rupert Mayer.

Fragt eure Lehrer, eure Schulen und Organisationen um Biographien dieser Männer! Laßt euch auch die Geschichte erzählen von der ‚Bruderschaft der russischen Kriegsgefangenen‘. Die im Widerstand hier in Bayern eine so wichtige Rolle gespielt hat und über die damals der Leiter der Münchener Gestapo an Kaltenbrunner meldete: ‚Trotz zahlreicher Verhöre, Folterungen und der Drohung, erschossen zu werden, weigerten sich alle russischen Offiziere, entsprechend einem vorgefaßten Entschluß, irgend etwas über die illegale Organisation zu berichten.‘

Viele von uns alten Dachauern erinnern sich noch an den Montagmorgen vom 4. September 1944, an dem 92 von ihnen erschossen wurden. Ihre letzten Worte an uns lauteten: ‚Wir sterben für Rußland. Wir sterben für euch.‘

Studiert auch besonders, ihr, meine katholischen Freunde, das Leben und Sterben des französischen Jesuitenpaters Dillard, bei dessen Tod hier im Block I vom Revier ich anwesend war.

Laßt euch wieder und immer wieder die Geschichte des unbekannten Dachauer Häftlings erzählen – sein Leben – und Leiden – und Sterben.

Seid ihr, liebe junge deutsche Freunde, mit diesem Wissen, mit dieser Kenntnis ausgerüstet, dann werdet Ihr verstehen, welch eine tiefe Beleidigung es für alle alten Dachauer war, daß bei der Einweihung der hiesigen Sühnekapelle ein Mann wie Hjalmar Schacht, gegen den im Nürnberger Prozeß das Todesurteil beantragt wurde, weil er als Finanzmann Hitlers einer der Hauptschuldigen war, daß dieser Mann als ‚Ehrengast‘ vorn in der dritten Reihe saß!

Mit diesem Wissen, mit dieser Erkenntnis ausgerüstet, werdet ihr verstehen, welche tiefe Beleidigung es für alle alten Dachauer war, daß der 25jährige Rowdy, der im Dachauer Krematorium behauptet hat, daß alle Männer, die hier ermordet wurden, Verbrecher waren, und der dafür zu einer Gefängnisstrafe von sieben Monaten verurteilt wurde, schon zwei Monate später, gegen eine geringe Kaution, freigekommen ist …

Seid ihr mit diesem Wissen, mit dieser Kenntnis ausgerüstet, dann werdet ihr nachfühlen können, welche grobe Beleidigung es sowohl für die Toten als auch für uns Überlebende des KZ Dachau war, daß ein Mann wie der frühere Bürgermeister von Dachau, ein gewisser Zauner, ohne dafür von euren Autoritäten zur Rechenschaft gezogen zu werden, behaupten konnte, daß im KZ Dachau hauptsächlich Kriminelle und Homosexuelle eingesperrt waren. Daß dieser Mann es wagen durfte, angesichts der so unendlichen und nie abzutragenden Schuld gegenüber den KZ-Opfern zu erklären, daß die Erinnerung an das KZ die Geschäfte der Dachauer schädigt.

Mit diesem Wissen, mit dieser Kenntnis ausgerüstet, werdet ihr noch besser verstehen, daß es ein Schlag ins Gesicht für alle KZler war, was sich noch vor einigen Tagen, also im November 1960, ein deutsches Gericht leistete. Vor dem Schwurgericht in Hannover war einem ehemaligen SS-Mann unter anderem nachgewiesen worden, daß er einem Häftling die Mütze vom Kopf gerissen und diese über die Postenkette hinausgeworfen hatte. Danach hatte er den Häftling gezwungen seine Mütze wieder zu holen, der dabei natürlich von einem Posten, den Vorschriften gemäß, erschossen wurde.
Und nun die zwei ungeheuerlichen Motivierungen des Gerichts, warum der Angeklagte nicht wegen Mordes, sondern nur wegen Totschlags zu verurteilen sei: Erstens, weil ihm ‚keine niedrigen Beweggründe unterstellt werden konnten‘. Ich frage Sie meine deutschen Freunde, was sind für diesen Richter aus Hannover dann eigentlich wohl ’niedere‘ Beweggründe? Noch ungeheuerlicher aber ist wohl die zweite Motivierung, die wörtlich lautet: ‚Es war kein Mord, weil Töten durch Erschießen nicht grausam ist.‘ Also jeder Mörder, der sein Opfer erschießt, ist nach dieser neuesten deutschen Jurisprudenz kein Mörder.

Meine lieben jungen Freunde, ich glaube gerade hier und in dieser feierlichen Stunde, in der wir unserer Toten gedenken, auf diese Vorkommnisse hinweisen zu müssen, weil die Einstellung gegenüber den Widerstandskämpfern, sowohl den Toten gegenüber als auch gegenüber den Lebenden, ein wichtiger Prüfstein ist für die demokratische Erziehung eines Volkes. Ist doch die demokratische Erziehung besonders eures Volkes, von ausschlaggebender Bedeutung für die Zukunft von ganz Europa, ja der ganzen Welt. Sie berührt die Frage von Krieg und Frieden, von Leben und Tod.
Ihr deutschen Jungen und Mädchen, seid unsere Hoffnung. Hier, angesichts unserer Toten, appellieren wir an euch! Wir rufen euch auf, mit uns weiterzukämpfen für Frieden und etwas mehr Glück für alle: mit Mut und Zuversicht mitzuhelfen, daß das Ideal unserer Toten Wirklichkeit werde. Mit uns Dachauern unentwegt und unerschrocken weiter an dem zu arbeiten, was einer eurer am Galgen gestorbenen Widerstandskämpfer, Helmuth Moltke, genannt hat: ‚Die Wiederaufrichtung des Menschenbildes‘ “

Weitere Informationen zu Nico Rost und seinen Aktivitäten in Bayern, die zur Einrichtung der Gedenkstätte Konzentrationslager Dachau führten, enthalten die Webseiten:
http://www.zbdachau.de/fates/ger/rost.html
http://www.exil-archiv.de/html/biografien/rost.htm
http://www.munzinger.de/search/portrait/Nico+Rost/0/3361.html

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