Gustav Landauer - Ausgewählte Schriften
Gesamteinleitung - Erinnerung an Gustav Landauer
Von Siegbert Wolf
I.
"Die Zeit Gustav
Landauers ist noch nicht da [...] Wir müssen uns, wollen wir an sein
Geistiges herankommen, an die äußerlichen Kundgebungen der menschlichen und
revolutionären Persönlichkeit halten, an die Eindrücke, die uns Freunden aus
Umgang und Gesprächen haften geblieben sind, an die Briefe, die die Spuren
seiner geistigen Schritte auf dem privaten Lebenswege bezeichnen, an die
Reden, die wir ihn vor Arbeitern und freiheitlich bewegten Bürgern mit
höchstem Kulturanspruch halten hörten, an die Kundgebungen zum Zeitgeschehen
und zu den gedanklichen Problemen der Welt, an sein unmittelbares Eingreifen
in die Dinge durch organisatorische Leistung und durch Teilnahme an
öffentlicher Tat, an seine häusliche Lebensführung und an sein
geschriebenes, geschehenes und geplantes Werk; endlich an den Ausklang
seines Schicksals."
Die vorliegende
Werkausgabe erinnert an Gustav Landauer (1870-1919), eine bedeutende
Persönlichkeit am Ausgang des 19. Jahrhunderts und in den ersten beiden
Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Nahe gebracht werden soll das Denken und
Wirken eines Handelnden, dessen Leben als Anarchist und polyglotter
Gelehrter maßgeblich von den Werten der Freiheit, sozialen Gerechtigkeit und
Emanzipation bestimmt war.
Aufgewachsen im zweiten
deutschen Kaiserreich unter Reichskanzler Otto von Bismarck ist an die
prägenden innenpolitischen Auseinandersetzungen mit der Sozialdemokratie
("Sozialistengesetze") und mit der katholischen Kirche ("Kulturkampf") zu
erinnern. Außenpolitisch sind als Eckpunkte die kleindeutsche Reichseinigung
nach einem Krieg mit Frankreich 1870/71, Kolonialismus, Aufrüstung und
Kriegsvorbereitungen (Stichwort: Schlieffenplan) zu benennen. Für den aus
einer jüdischen Kaufmannsfamilie stammenden Gustav Landauer war die
rechtliche Gleichstellung der deutschen Juden, die mit der Reichsgründung
von 1871 einherging, von erheblicher Bedeutung. Aufgewachsen in einer
assimilierten Familie, geriet er in eine für viele damalige Juden typische
Ausnahmerolle: "Sie wollten und durften dem jüdischen Volk nicht mehr
zugehören, aber sie wollten und mussten Juden bleiben [...] Sie wollten und
konnten in der nichtjüdischen Gesellschaft eine Rolle spielen, aber sie
wollten und konnten nicht in den nichtjüdischen Völkern untergehen; so
wurden sie die Ausnahmen der nichtjüdischen Gesellschaft."
II.
"Wenn denn eine Formel
sein muss, die der Gesamterscheinung Gustav Landauers gerecht werden soll,
so darf es nur eine sein, die selbst vielgestaltig begriffen werden kann und
von keiner programmatischen Festlegung aus in Anspruch zu nehmen ist.
Landauer war Anarchist; so hat er sich sein Leben hindurch selber
bezeichnet. [...] So bedeutet der Versuch, das Bild Landauers festzuhalten,
nichts anderes als das Bild des revolutionären Menschen unserer Zeit zu
zeichnen. Der revolutionäre Mensch ist der, der seiner Zeit vorausstrebt,
vorausdenkt, vorauslebt."
Als Literaturkritiker,
Übersetzer, Roman- und Novellenautor, Vortragsredner und Essayist, als
libertärer Sozialist und jüdischer Kulturphilosoph, genoss Gustav Landauer
hohes Ansehen. Er agierte als Anti-Politiker, Sprach- und Kulturkritiker
sowie Initiator zahlreicher libertärer Projekte. Er legte als erster eine
umfangreiche Übersetzung der mittelhochdeutschen Predigten des Dominikaners
und Mystikers Meister Eckhart vor (1903) und wirkte mit am Hauptwerk
"Beiträge zu einer Kritik der Sprache" (1901/02) seines langjährigen
Freundes, des Sprachphilosophen und Theaterkritikers Fritz Mauthner
(1849-1923). Aus dieser Kooperation entstand die Schrift "Skepsis und
Mystik. Versuche im Anschluss an Mauthners Sprachkritik" (1903), die
zusammen mit der geschichtsphilosophischen Monographie "Die Revolution"
(1907) und dem programmatischen "Aufruf zum Sozialismus" (1911) für das
Verständnis von Landauers Denken und Handeln grundlegend ist. Seine
libertäre Geschichtsphilosophie beinhaltet immer einen Rückbezug auf die
Geschichte und den darin nachzuweisenden Freiheitstraditionen; gemeint sind
hier etwa das Genossenschafts- und Zunftwesen im Mittelalter, die
häretischen und mystischen Bewegungen oder die Französische Revolution von
1789.
Die langjährige
Freundschaft mit dem libertären Religionsphilosophen Martin Buber
(1878-1965) sowie der "Bund" mit der Lyrikerin und Übersetzerin Hedwig
Lachmann (1865-1918) veranlassten ihn zu einer intensiven Auseinandersetzung
mit dem Judentum, dessen Regeneration er mit derjenigen der gesamten
Menschheit verband – es ist nicht aus seinem Leben wegzudenken und bildet
zugleich eine Grundlage seines gesellschaftlichen Wirkens. Juden und
Jüdinnen sprach er die große Aufgabe zu, bei der Erneuerung der Menschheit
und der Restrukturierung der Gesellschaft wesentlich mitzuwirken.
Landauers enge Anlehnung
an den Terminus "Bund" geht zurück auf die Hebräische Bibel. Sein
kommunitärer Anarchismus nimmt Bezug auf die Thora und die darin enthaltenen
ethischen Aussagen: vor allem das Nächstenliebe-, Gerechtigkeits- und
Solidaritätsgebot. Das ebenfalls dort einbegriffene Tötungsverbot spiegelte
sich wider in seiner Gewaltfreiheit, die, entsprechend dem Imperativ, wonach
mensch niemals durch Gewalt zur Gewaltlosigkeit gelangen könne,
personenverletzende Gewalt grundsätzlich ausschloss.
Gustav Landauer war eine
intimer Kenner der europäischen Geistesgeschichte. Seine zahlreichen, noch
heute lesenswerten Essays, Vorträge, Rezensionen, Zeitungs- und
Zeitschriftenartikel belegen dies deutlich. Viele Autoren (Michael Bakunin,
Étienne de La Boétie, Joseph Déjacque, Peter Kropotkin, Multatuli,
Pierre-Joseph Proudhon, Rabindranath Tagore, Leo N. Tolstoi, Walt Whitmann,
Oscar Wilde) hat er, häufig gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Hedwig
Lachmann, durch erstmalige Übersetzungen dem deutschsprachigen Kulturleben
zur Verfügung gestellt.
Die ausformulierte
Konzeption eines libertären und föderativen Sozialismus - Stichwort:
kommunitärer Anarchismus -, mit der er auf eine grundlegende Erneuerung des
Menschen und der Gesellschaft in Richtung Freiheit, sozialer Gerechtigkeit
und Humanismus zielte, gehört in das Zentrum seines Denkens und Handelns.
Während der Revolution
von 1918/19 engagierte sich Gustav Landauer von München aus für eine
freiheitliche Umgestaltung der Gesellschaft. Unablässig warb er für eine
föderatives und dezentrales Rätesystem. Während der ersten bayerischen
Räterepublik im April 1919 agierte er als "Volksbeauftragter für
Volksaufklärung", sprich: Kulturminister. Allerdings blieben ihm
substantielle Veränderungen versagt. Anfang Mai 1919 wurde er im Zuge der
Niederschlagung der Revolution brutal ermordet.
Gustav Landauers
Kulturphilosophie und Antipolitik wirkten auf so unterschiedliche
Zeitgenossen wie Martin Buber, Erich Mühsam, Margarete Susman, Walter
Benjamin, Ernst Bloch, Georg Kaiser, Ernst Toller, Hugo von Hofmannsthal und
Manès Sperber. Seine Schriften wurden in der deutschen Jugendbewegung
diskutiert und nahmen Einfluss auf die genossenschaftliche Siedlungsbewegung
in Palästina und auf viele Kulturzionisten.
III.
"Landauer hat das Wesen
dieser Zeit und das Mittel, ihren Wahnwitz zu bekämpfen in allen seinen
Arbeiten, in allen seinen persönlichen Äußerungen aufgezeigt und man mag
seine Bücher aufschlagen, wo man will, so findet man Anklage und Enthüllung
in der Beurteilung des Bestehenden und glühende Werbung zu Erneuerung,
Aufbau, Verwirklichung, Revolution und Sozialismus."
Dass es Gustav Landauer
längst verdient hätte, in einer mehrbändigen Werkausgabe gewürdigt zu
werden, ist unbestritten. Annähernd sämtliche seit den 1960er Jahren
erschienenen Werkneuauflagen und Aufsatzsammlungen sind inzwischen
vergriffen oder allenfalls noch antiquarisch zu erwerben.
Die erste im Verlag Lambert Schneider geplante Landauer-Werkausgabe
scheiterte Anfang der 90er Jahre.
Eine 1997 mit einem Band im Akademie Verlag eröffnete Werkausgabe hat die
hohen Erwartungen nicht erfüllt - bis heute ist kein Fortsetzungsband mehr
erschienen. Diesbezügliche Bemühungen im libertären Spektrum scheiterten an
Unzulänglichkeiten der Verlagsverantwortlichen. 1998 (im Oppo Verlag,
Berlin) und 2003 (im Unrast-Verlag, Münster) sind die beiden Hauptwerke
Landauer "Aufruf zum Sozialismus" (1911) und "Die Revolution" (2003), mit
ausführlichen Nach- bzw. Vorworten von Siegbert Wolf neu aufgelegt worden.
Der Herausgeber
vorliegender "Ausgewählter Schriften" Landauers ist seit Jahren bemüht, in
Veranstaltungen, Ausstellungen, Vorträgen und Publikationen dessen Œuvre
einer interessierten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Mit der vorliegenden,
die wichtigsten Essays und Abhandlungen vereinigenden Sammlung eröffnet sich
erstmals ein umfassendes Panorama von Gustav Landauers Werk. Zugleich
ermöglichen die Erst- bzw. Neudrucke bislang (oder auch bereits wieder)
vergessener Beiträge eine Gesamtschau von dessen Denken und öffentlichem
Handeln. Hinzu kommen zahlreiche Illustrationen des Frankfurter Fotografen
und Künstlers Uwe Rausch.
Die in den nächsten
Jahren in regelmäßigen Abständen vorgelegten Bände beschäftigen sich mit
Landauers Internationalismus, seinem Verständnis von Anarchie, seiner
Konzeption eines kommunitären Anarchismus, seinem Antimilitarismus, seinem
Engagement in der Revolution 1918/19, seiner Philosophie, seinem Judentum
und seinem literarischen Schaffen. Briefeditionen und ein Band mit Texten
über Leben und Werk Gustav Landauers sind ebenfalls geplant. Eine
biographisch-chronologische Zeittafel, ein Überblick über Landauers
Schrifttum sowie ausgewählte Sekundärliteratur ermöglichen einen ersten
raschen Einstieg. Eine Bibliographie mit den Primärquellen, den
Publikationen Landauers (Erstauflagen), seinen Übersetzungen (Buchausgaben),
seiner Herausgebertätigkeit sowie eine Liste der Sekundärliteratur (Auswahl)
sind angefügt.
Uneingeschränkt zu
begrüßen ist das in den letzten Jahren gewachsene Interesse an Gustav
Landauer in Wissenschaft, Publizistik und Politik. Kritisch anzumerken ist
allerdings eine mancherorts zu beobachtende ‚Vereinnahmung‘ Landauers als
bloßen ‚Literaten‘. Der Hinweis, dass diese verkürzte Perspektive zu
unzulässigen Interpretationen seines Lebenswerkes führt und damit eine
(noch) ausstehende Gesamtbewertung Landauers eher erschwert, erscheint an
dieser Stelle unerlässlich.
Verzichtet wird an dieser
Stelle auf eine biographisch-chronologische Darstellung von Landauers Leben
und Werk. Verwiesen sei auf den in der Junius-Reihe "Zur Einführung"
erschienenen Band über Landauer von Siegbert Wolf (1988) ebenso wie auf
einen vom Theatermuseum Düsseldorf vorgelegten Katalog (1995).
IV.
"Gustav Landauer war
himmelweit von einem Realpolitiker [...] entfernt; in ihm saß die Idee, die
er lebte, mit mächtiger Härte fest: die Idee der Freiheit und des
Sozialismus, die Idee der Vergeistigung und der Verwirklichung. Ihr diente
er, indem er sich mit den Gegebenheiten der Zeit befasste, an sie anschloss,
in sie eingriff. [...] Gustav Landauers Sachen aber waren die Sachen des
revolutionären Menschen, die Sachen der Menschheit also, die etwas anderes
ist als die oder jene Menschen, und ob es Millionen wären. Es waren die
Sachen, die er sonst öfter den Geist nannte, den Geist des Sozialismus und
der Verwirklichung [...]"
Gustav Landauers
Einspruch galt allen, die sein vielfältiges Engagement auf ein einziges
Betätigungsfeld reduzieren woll(t)en. Er selber definierte sich als eine
mannigfaltige, durch zahlreiche Interessen und Begabungen getragenen
Persönlichkeit und betrachtete sich zugleich als Süddeutscher, Jude,
Europäer und Anarchist.
Was ihn vor allem
antrieb, betraf die Unzufriedenheit mit der autoritären wilhelminischen
Gesellschaft und die Suche nach einer menschlichen Gemeinschaft freier und
gleichberechtigter Menschen in einer dezentralen und föderal vernetzten
Welt. Auf sämtlichen Betätigungsfeldern wird diese Sehnsucht nach einem
selbstbestimmten, frei vereinbarten Miteinander deutlich: Sowohl in dem von
ihm 1908 gegründeten "Sozialistischen Bund" und in seiner Zeitschrift
"Sozialist" als auch in seiner umfassenden Rezeption der Dramen William
Shakespeares sowie der Französischen Revolution von 1789, in seinen
zahlreichen Vorträgen zur deutschen und internationalen Literaturgeschichte
ebenso wie etwa in seiner auf Fritz Mauthner verweisenden Sprachkritik oder
in seinem Engagement für eine Regeneration des Judentums, seinem
Antimilitarismus und seiner Mitwirkung an den revolutionären Ereignissen in
München 1918/19.
Der Herausgeber hat bei
der Auswahl und Zusammenstellung vorliegender Texte dem Anspruch Rechnung
getragen, möglichst alle Bereiche von Landauers Œuvre auszuleuchten und sich
hierin bewusst nicht auf einige wenige Teilbereiche beschränkt. Um einer
angemessenen Gesamtschau sowohl hinsichtlich den Ansprüchen einer
Werkauswahl als auch des LeserInnenbedürfnisses gerecht zu werden, bedurfte
es einer zeitgemäßen Gliederung, die sich in der Auswahl der Texte der
vorliegenden mehrbändigen Ausgabe niederschlägt.
Vorliegende Edition legt
den Schwerpunkt auf Landauers Wirken als Anarchist. Die hier versammelten
Texte werden in ihre biographischen, wirkungs- und zeitgeschichtlichen
Zusammenhänge eingebunden. Die Kommentare sollen für Laien lesbar als auch
für ExpertInnen bereichernd sein. Da der neueste Forschungsstand hergestellt
wird, werden auch unveröffentlichte Materialien berücksichtigt.
Jeder Band wird durch
eine Einleitung eingeführt, in der die Textauswahl erläutert wird. Verwiesen
wird des Weiteren auf die aktuellen Bezüge der Texte und dabei jeweils das
originär Libertäre an Gustav Landauers Denken und Handeln herausgestellt.
Die Bände sind thematisch abgeschlossen und einzeln beziehbar.
Herausgeber und Verlag
sind überzeugt, politische, publizistische und wissenschaftliche Wege zu
einem vertieften Verständnis Gustav Landauers geebnet zu haben und würden
sich freuen, wenn dem LeserInnenpublikum die Lektüre der vorliegenden
repräsentativen Auswahl ebenso große intellektuelle Freude bereitet wie dem
Herausgeber das (Wieder-)Lesen, die Zusammenstellung und die Kommentierung
der hier abgedruckten Texte.
Im Frühjahr 2008, am 138. Geburtstag Gustav
Landauers
>>
Gustav Landauer - Ausgewählte Schriften
Anmerkungen:
Erich Mühsam, Der revolutionäre Mensch Gustav Landauer (Gestorben 2.
Mai 1919). In: Fanal 3 (1929), Nr. 8, Mai, S.
169ff.
Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. I. Antisemitismus
- II. Imperialismus - III. Totale Herrschaft. (1951), München 1998, S. 142.
Anm. 1.
Anm. 1.
Noch im Handel erhältlich sind die folgenden Einzelwerke Landauers: Gustav
Landauer. Aufruf zum Sozialismus. Mit einem Nachwort von Siegbert Wolf.
Berlin 1998; Gustav Landauer. Arnold Himmelheber. Eine Novelle. Berlin/Wien
2000; Gustav Landauer, Die Revolution. Neu herausgegeben, mit einer
Einleitung, Kommentierung und Register versehen von Siegbert Wolf. Münster
2003 (= Klassiker der Sozialrevolte, Band 9).
Sie sollte vom Frankfurter Germanisten Norbert Altenhofer herausgegeben
werden, der 1991 unerwartet verstarb. Siehe auch: Leonhard M. Fiedler,
Renate Heuer, Annemarie Taeger-Altenhofer (Hrsgg.), Gustav Landauer
(1870-1919). Eine Bestandsaufnahme zur Rezeption seines Werkes.
Ffm, New York 1995.
Dieses Symposium diente dem Gedenken an Prof. Altenhofer.
Anm. 1. |