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Das Beispiel Deutschland:
Das höhere Lebensalter und die Integration

Von Irene Runge, Jüdischer Kulturverein Berlin e.V.
Vortrag auf der Konferenz "Patterns of "Absorption/Integration": the Role of Community and Institutional frames, Jerusalem, 21.-22. März 2007, Veranstalter: Naumann-Stiftung Jerusalem, Sochnut und Van Leer Institute Jerusalem

Unter Integration wird in der Alltagssprache Anpassung verstanden, diese bedeutet, sich in vorherrschende Standards einzufügen. In Kleinstädten ist das anders als in den Metropolen, Lebensweise, Bildung und Kultur, Alter, Geschlecht und Charakter differenzieren zusätzlich.

Politisch gewollt ist die Integration gesellschaftliche Partizipation. Man könnte von reglementierenden Zuweisungen sprechen. Die meist überlasteten Integrations- und Sozialarbeiter erreichen solche Überlegungen kaum. Damit entgeht ihnen auch das Lob für parallelgesellschaftliches Engagement, wie z.B. aus der deutsch-polnischen Einwanderungsgeschichte bekannt, und dass zur organisatorischem Basis für die spätere Integration wurde.

Wann ist der Mensch, wann ist eine Gruppe für wen und wo hinein integriert? Was die jüdischen Einwanderer betrifft, so stellt sich deren Integration für Deutschlands Arbeits- und Sozialämter anders dar als für sie selber, als für Soziologen, Kulturwissenschaftler, Sozialarbeiter oder jüdische Funktionäre. Integrationsmangel oder ausbleibender Integrationserfolg heißt, dass in eingewanderten Populationen soziale Widersprüche zu Konflikten führen. In Deutschland von Migranten geborene Kinder und Kindeskinder gelten schnell als integrationsresistent, zumindest dann, wenn sie stark von der Norm abweichen.

Staatliche Integrationspolitik ist heute in aller Munde. Bei den ethnischen Deutschen wird aber die persönliche Verhaltensauffälligkeit nicht als Integrationsversagen bezeichnet. Mehr und bessere Integration der sozial auffälligen, schon in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien wird gefordert. Man nennt sie Migranten oder Migrantenkinder, aber sie haben keinerlei Migrationserfahrung, es sei denn die, zwischen Berliner Kulturwelten zu pendeln. Integration soll wenig kosten, aber ohne Investitionen, ohne Sachmittel und Personal, ist die Kette integrativer Misserfolge nicht zu sprengen. Erst langsam werden jugendliche Erfahrungen der Ausgrenzung und Diskriminierung in dem Land thematisiert, in dem selbst eine Staatsangehörigkeit Deutsch nicht unbedingt bedeutet, dass der Staatsbürger mit zweifacher Identität auch als Landeskind gesehen wird. Integration in die Vielfalt, das wäre eine Chance, die zwar nicht politisch noch gedacht wird, aber dennoch stattfindet.

Es ist bekannt, dass Emigrations-, besser: Migrationsströme, komplex und kompliziert sind. Wir wissen, dass Menschen die Heimat selbst bei Gefährdung des eigenen Lebens verlassen, um der elementaren, der ökonomischen oder geistigen Not zu entkommen. Verfolgungsdruck ist nicht Abenteuerlust, aber Migration kann zum Abenteuer werden. Wer migriert heute? Holocaust, "ethnische Säuberungen", Kriege und Terror - vor über 50 Jahren entstand die Flüchtlingskonvention. Fluchtgründe sind kollektiv oder persönlich, auch Epidemien und Naturkatastrophen führen dazu. Heute sind jüdische Emigrationswellen aus diesem Bild ausgegliedert. Der Staat Israel garantiert jüdischen Flüchtlingen Aufnahme und Integration, denn aus zionistischer Sicht gibt es keine jüdischen Flüchtlinge auf der Welt, aber Wirtschafts- oder Kulturmigranten. Nicht alle wollen in die jüdische Heimstatt, das wurde lange verdrängt.

Institutionell müssten daher alle Integrationsstrategien die unterschiedlichen Mobilitätsgründe als Funktionen des Ortes, der Zeit, der sozio- und psycho-kulturellen, auch religiösen, ethnischen und nationalen Voraussetzungen berücksichtigen. Abzuleiten wären daraus die Integrationsziele, der wahrscheinliche Verlauf der Integrationsarbeit, die Frage nach dem Integrationszweck.

In welchem Verhältnis stehen "Integratoren" und die zu Integrierenden?

In Deutschland kann die interessierende Population in mindestens drei Gruppen gegliedert werden:

  1. Halachische Juden, die sich nach erfolgter Einwanderung in Jüdischen Religionsgemeinden eingefunden und angemeldet haben.
  2. Nachfahren jüdischer Väter und mitreisende nichtjüdische Familienangehörige, die aus halachischen Gründen keine Gemeindemitglieder sein können.
  3. Halchische Juden, die nach ihrer Einwanderung aus unterschiedlichen Gründen den jüdischen Gemeinden nicht angehören wollen.

Statistische Daten kann es nur über die erste Gruppe geben, denn Nationalität und Religion werden nach der Einwanderung nirgends erfasst. Gab es anfänglich mehrere Möglichkeiten der Einwanderung (Flucht aus Krisengebieten wie Aserbaidshan, Armenien und Georgien, Familienzusammenführung nach Touristeneinreise u.ä.m.) erlaubte das "jüdische Ticket" nach dem Stichtag 10.November 1991 nur noch die eine geordnete Einwanderungsmodalität. Die Angekommenen durchliefen identische erste Integrationsschritte, erhielten gleiche Sozialleistungen, aber Deutschkurse gab es nur für die im arbeitsfähigen Alter. Den wirklichen Unterschied machte das konfessionelle Bekenntnis. Von halachischen Juden, sofern sie sich in Jüdischen Religionsgemeinden anmeldeten, wurde eine doppelte Integration erwartet, und zwar in die Aufnahmegesellschaft Deutschland und in die sie aufnehmende Jüdische Religionsgemeinde, also in das religiöse Judentum. Können wir schon jetzt Verlauf und Erfolg dieses zweifachen Integrationsprozess messen? Haben die Gemeinden nebst ZWST die Mitglieder doppelt oder einfach und wenn, dann wie integriert?

Von rund 210 000 Menschen, die seit 1991 im "Kontingent" kamen, traten rund 80 000 den jüdischen Religionsgemeinden bei. Und die anderen? Integration ist ein gesellschaftliches Anliegen, unabhängig von jüdischem Recht, und gilt für alle, die ins Land einwandern. Hypothetisch ist die Behauptung, dass wer sich in keine Jüdische Gemeinde integriert, die Integration in die deutsche Gesellschaft besser absolviert.

In und um Berlin sollen heute über 200 000 Russischsprachige leben. Wie groß der jüdische Anteil ist, wissen wir nicht und immer mehr Einwanderer werden zu Deutschen. Die jüdische Bevölkerung ist größer als die Zahl derer, die der Jüdischen Gemeinde angehören. Was die Russischsprachigen in Berlin angeht, so wären noch die Heerscharen neureicher russischsprachiger Konsumtouristen zu erwähnen. Ein integratives Netz von Kommunikations-, Versorgungs-, Betreuungs-, Bildungs- und Unterhaltungsmöglichkeiten in der Heimatsprache verbindet sie alle. Dank der russischsprachigen Infrastruktur lebt es sich, wie deutscherseits für die türkische und arabische Community gern bemängelt wird, auch ohne deutsche Sprachkenntnisse in Berlin durchaus bequem. Das Integrative der eigenen Community stärkt das Selbstbewusstsein, die Gruppenidentität schafft einen Gegenpol zu den oft als nicht integrationsfreundlich erlebten Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft.

Obgleich gesellschaftliche Partizipation Integration bedeutet, scheinen die geforderten und geförderten Integrationsvorhaben oft vor allem den Zweck haben, jenen zur Seite zu stehen, die im sozialen Ab- vom möglichen Ausstieg bedroht und nur beschränkt integrationsfähig sind. Aber das heißt nicht, dass sie sich des-integriert fühlen müssen. Sogar ein Krankenhausaufenthalt der de facto Des-Integrierten ist dank Familie, Freunden und ethnisch oder national ausgerichteten Sozialdiensten so, dass diese sich nicht als Opfer mangelhafter Integration erfahren müssen. Das Gefühl nicht integriert zu sein tritt erst auf, wenn die Grenzen der eigenen Gemeinschaft überschritten werden, wenn die andere Sprache, das ungeschriebene Gesetz, die Kultur mit ihren ungewohnten Speiseregeln, Kleidungs- wie Verhaltensnormen und Sitten, wenn die Mehrheitsgesellschaft als befremdender Zwang erlebt wird. Dieser Grenzübertritt ist bis zu einem bestimmten Alter kaum oder nur mit Mühe zu vermeiden, denn Behördenbesuche, Arbeitsaufnahme, Schulbesuch finden statt.

In der Sozialarbeit gilt, dass Bedürftige nicht unbedingt die Beratung suchen. Auch das Suchen muss man lernen, es sind kulturelle Schamgrenzen zu überwinden. Sowjetischen Juden brennt der Verlust ihres früheren Sozialstatus auf der Seele. Interkulturell versierte Sozial- und Integrationskräfte wären nötig, um diese Enttäuschung umzuleiten, während heimatsprachliche, ethnisch und national integrierende Kultur-, Bildungs- und Kommunikationsangebote das Wohlbefinden stabilisieren. Wonach aber kann und sollte sich die durch Sach- und Personalmittel gestützte Integrationsarbeit in NGOs, Vereinen, Verbänden und eben auch Jüdischen Gemeinden ausrichten? Vom Standpunkt der Handelnden ist Integration Berufsarbeit, der Integrationserfolg macht weitere Integrationsangebote überflüssig. Nur der Noch-Nicht-Erfolg berechtigt zu Investitionen. Wie langwierig darf oder muss Integration sein, wie lange sind Eingewanderte integrationsfähig und keine reinen Sozialfälle? Dies zu entscheiden braucht es integrative Sachkompetenz und integrative Persönlichkeiten. Was sind die subjektiven und objektiven Gründe dafür, dass sich der Erfolg der Integration in Deutschland so häufig nicht einstellen will?

17 Jahre nach dem Beginn der Einwanderung werden "Patterns of "Absorption/Integration": the Role of Community and Institutional frames", also Muster, Modelle, Integrationskriterien, Integrationsverläufe, Vernetzungen und deren sachliche wie personale Voraussetzungen und Resultate vergleichbarer. Vom Standpunkt der deutschen Gesellschaft ist Integration der tagestaugliche Erwerb von deutscher Umgangs- und Schriftsprache, von Alltagsüblichkeiten, Arbeitskultur und Rechtsnormen. Gebraucht werden Strategien für den konfliktfreien Umgang in der neuen Lebenswelt, mit dabei sind das Lebensalter, Bildungsvoraussetzungen, Lebensläufe, mentale Unbeweglichkeiten, kulturelle oder emotionale Barrieren.

Als die kleinen jüdischen Gemeinden 1991 fast über Nacht angesichts fehlender staatlicher Konzepte und mangels professioneller Anleitung zu selbstgeleiteten Integrationszentren wurden, nahmen sich pragmatische Ehrenamtliche, auch ehemalige Einwanderer dieser neuen Gruppe an. Den Eingewanderten wurde schließlich in den Gemeindehäusern Platz gemacht, und Russischsprachige begannen auf Russisch ihr in Sowjetzeiten erworbenes Wissen zu aktivieren. Bildungsaktivitäten setzen ein, von denen alle Gemeinden in Deutschland bis heute zehren. So entstand die virtuelle post-sowjetische Gesellschaft: Das russische Satellitenprogramm, russischsprachige Zeitungen, das Internet. Das aber ist weder eine jüdische noch eine gesellschaftliche Integration, wenn in den Gemeinderäumen russische Hochkultur gepflegt und landsmannschaftliche Vertrautheit genossen wird. Wichtig ist diese parallelgesellschaftliche Aktivität aber dennoch.

Exkurs:

Die altgewordenen türkischen Einwanderer kamen ohne Bildung und Berufserfahrung aus archaischen Dorfgemeinden nach Deutschland. Sie übernahmen niedrig qualifizierte, oft körperlich schwere Tätigkeiten und blieben meist ohne große Sprach- und Landeskenntnisse. Integration war damals Privatsache. Sie gründeten Familien und blieben. Heute treffen sie sich nach Geschlechtern getrennt in kurdischen, türkischen oder muslimischen Vereinen. Die Muttersprache ist mit ihnen gealtert. In der alten Heimat sind sie die "Deutschländer", in Deutschland Nicht-integrierte-Ausländer, egal welcher Staatsangehörigkeit. Der Vorsitzende der Islamischen Föderation in Berlin dazu: "Die Mehrheit der am Gebet und an den Aktivitäten der Moschee teilnehmenden männlichen Personen sind über 60 und die meisten sind auch in der Moschee alt geworden. Die meisten haben bei der Gründung der Moscheen aktiv teilgenommen. Bei den Frauen sieht es anders aus, dort sind mehr junge Frauen und Mädchen aktiv. Jungen gehen meist zu Jugendeinrichtungen von islamischen Vereinen. Wir haben leider keine Zukunftsplanung, und obwohl wir die demographische Entwicklung vorhersehen, haben wir keine Konzepte. Das liegt auch daran, dass die finanziellen Möglichkeiten der Gemeinden nicht gut sind…". Schon wurde in Berlin das erste Pflegeheim nur für Türken eröffnet, doch bis vor kurzem waren muslimische Pflegestandards als Voraussetzung integrativer Altenarbeit kein Thema. Der soziale Markt wird ethnisiert und nationalisiert. Noch wird in der Jüdischen Gemeinde Berlins auf die funktionierende Großfamilie gehofft. Russischsprachige Pflegedienste bieten Russischsprachigen ihre Hilfe an, Russlanddeutsche betreuen bedürftige jüdische Einwanderer. Die Jüdischen Gemeinden stehen am Rande. Die 11 000 Mitglieder umfassende Jüdische Gemeinde hat ein Alten- und ein Seniorenheim, das Pflegeheim wird umgebaut. Die Zahl der Witwen nimmt zu. 37 % aller Mitglieder sind älter als 60 Jahre. Es geht also schon jetzt um migrationspezifische sozialgerontologische Kriterien, der Vorlauf fehlt.

Zurück zum Text.

Auf dem jüdischen Ticket kam ein besonderer Migrantentyp nach Deutschland: Städtisch anspruchsvoll, berufs- und lebenserfahren. Diese männlichen und weiblichen Einwanderer des jüdischen Tickets sind meist Universitäts-, Hoch- und Fachschulabsolventen, die auf einen hohen sozialen (nicht materiellen) Status zurückblicken. Aber eine strukturelle Arbeitslosigkeit, nur gelegentlich staatlich geförderte Kurzarbeitseinsätze verhinderten ihre berufliche Integration in und durch die deutsche Arbeits-, Lebens- und Freizeitkultur. Das deutsche Sozialsystem lässt leidlich gut leben, aber der Sozialstatus verblieb in der alten Heimat. Das ist Motor und Hemmnis der Integration. Statt integrierender Arbeitsbeziehungen integrierten heimat- und herkunftsbezogene Freundes- und Bekanntenkreise, schwanden im russischsprachigen Kontext kostenintensiv erworbene Deutsch- und Landeskenntnisse. Sich verändernde Versorgungsleistungen, Einwanderungsmodalitäten, Sozialleistungen, Ansprüche, Zuschüsse, Visa- und Nachzugsfragen wurden kollektiv erfahren, aber sind individuell nicht aus einem gesamtgesellschaftlichen Kontext ableitbar. So entsteht Entfremdung, wird aber das eigene Leben sinnlos, dann müssen Kompensationen her.

Im Laufe der Zeit leben sich Menschen zwar ein, aber Einleben ist nicht zwingend Integration im idealen Sinn. Mangelhafte Sprachkenntnisse beschämen z.B. nicht nur jene, die in ihrer eigenen Sprache brillieren. Im Zusammenhang mit dem jüdischen Ticket geht es um die Probleme von Gebildeten. Nicht nur in der Berliner Jüdischen Gemeinde bzw. der Jüdischen Wohlfahrtsstelle wird unter dem Stichwort "Integration" monosprachlich eine sowjetisch induzierte postsowjetische kulturelle Vielfalt gefördert. Es gibt funktionierende Kreisläufe aus Freizeitaktivitäten, Bildung, Unterhaltung, Kommunikation auf Russisch. Mitgebrachte akademische Titel spielen eine große Rolle, Standes- und Bildungsunterschiede werden betont, die regionale Herkunft kann ein- oder ausgrenzen. Das ist nicht Integration, sondern Kompensation. Dabei kann die Vielfalt zur verbindenden Kraft werden, wenn es klare Organisationsprinzipien gibt. Berlins Gemeindeblatt listet viele Arbeitskreise und Veranstaltungen auf Russisch, teilweise auch zweisprachig auf Russisch und Deutsch auf. Alleinige Zielgruppe sind russischsprachige Einwanderinnen und Einwanderer, in der Regel im höheren und hohen Lebensalter. Deutsch wird in den Konversationszirkeln geübt, als lebe man im Ausland, Literatentreffs zeigen kein Interesse an deutschsprachiger Literatur und Literaten. Die raren deutschsprachigen Veranstaltungen werden von russischsprachigen Einwanderern kaum besucht, im "Haus der Russischen Kultur" sind sie hingegen anzutreffen. Zirkel wie "jüdische Tänze", "Kunstschule" werden auch zweisprachig annonciert, ansonsten scheint es, als könnten die Neuberliner nur Kyrillisch lesen. Gleiches gilt für die "Talmud-Tora-Schule" und deren Veranstaltungen, Kurse, Schach- und Kinoklub und den Traditionsklub "Massoret". Der Märzvortrag über den Maler Hundertwasser wird nur auf Russisch zu hören sein. Der ZWST-Treffpunkt "Hatikwa" fördert Landsmannschaften: Odessa-Klub, Leningrad-Klub, Kiew-Klub, Baku-Klub, auch den Kriegsveteranenklub und den Klub Berlin. Dort, bei Sitzungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft und der Ehrenamtlichen wird russisch gesprochen, die Lernhilfen ehemals sowjetischer Professoren für Schüler sind zwar auf Deutsch angekündigt, aber nur Einwandererkinder nutzen sie.

Das alles ist wahrlich keine Integration im Sinne von gesellschaftlicher Partizipation. Aber das Angebot verspricht all denen, die mangels anderer Möglichkeiten darauf angewiesen sind, eine wärmende Vertrautheit und stabilisiert das Selbstwertgefühl. Jüdische Einrichtungen müssten aus Gründen der sozialen Einwandererwirklichkeit in die Lage versetzt werden, diese - obgleich rückwärtsgewandte - Suche auf nationaler und ethnischer Basis systematisch durch zeitgemäße kulturelle und politische Einschübe zu erweitern. Das politisch unorganisierte russischsprachige Milieu scheint sich wiederum mangels Alternativen zunehmend als eine Gegenwelt zur demokratischen deutschen Moderne zu verstehen, was sowohl den kulturellen Prägungen aus Sowjetzeiten zuzuschreiben ist, aber nicht minder der Tragik einer verfehlten Integration entspricht. Diese sozial fast homogene Schicht vor allem Älterer mit hohen Bildungsabschlüssen und niedrigem Sozialstatus hat einen russischen Prototyp des überflüssigen Menschen reproduziert, wie er der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts zu entnehmen ist. Das Selbstvertrauen zehrt von Vergangenheit, für und aus der Gegenwart kann weder ein kulturelles noch ein soziales Kapital angehäuft werden. Wer sich unter diesen Bedingungen nicht als ausgegrenzt erleben will, muss den objektiv wachsenden Abstand zur deutschen Mehrheitsgesellschaft intellektuell durch die eigene und kollektive Wertschätzung überlisten. Da die Flucht in den exzessiven Konsum für untere Einkommensschichten nicht möglich ist, verschönern sich die Hochgebildeten ihre marginale Position durch eine weitgefächerte kulturelle Selbstbetätigung. Für die Generation der Älteren und Alten ist das eine großartige Lösung, wenngleich eine Art volkswirtschaftlicher Gewinn für das Aufnahmeland ausbleibt. Ein Zeichen voraussehender Weisheit wäre es, diese funktionierenden Subkulturen systematisch in den vorhandenen parallelgesellschaftlichen Räumen organisatorisch zu begleiten und zu nutzen. Man hat diese Migranten, und viele von ihnen haben sich mittlerweile stattdessen an integrationsvermeidende Üblichkeiten gewöhnt, egal, wie lange sie schon in Berlin leben. Als eingangs Wissenschaftler, Filmenthusiasten, Literaten, Ingenieure und Ärzte aus Kiew, Moskau, Leningrad, Riga, Odessa, Charkow, Baku usw. ihre berufliche Chancenlosigkeit erkannten und am Nutzen von Integrationskursen zu zweifeln begannen, wurden Küchen und Wohnzimmer zu anheimelnden Orten für Austausch und Begegnung. Alteingesessene jüdische Gemeindefunktionäre meinten damals, diese Neuen müssten schnell und auf Deutsch ihre Zeit nicht mit Puschkin oder Tschaikowski, sondern mit hebräischer Sprache und Religionsausübung füllen, doch sie ignorierten dabei borniert deren Lebenswege und Bedürfnisse. Die hochqualifizierten, berufs-, aber vor allem lebenserfahrenen sowjetischen Großstadtbewohner fanden auch ohne Integrationshelfer ihren Weg, der nach vorn in einen post-sowjetischen Alltag führte. Mit alten Gewohnheiten vollgestopft ist daraus Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft geworden.

Auch so ließe die vielschichtige Realität in einer relativ gutsituierten Einrichtung wie der Berliner Jüdischen Gemeinde beschreiben. Über 70% der Mitglieder sprechen heute besser Russisch als Deutsch, also kommt Deutschsprachigen kaum Aufmerksamkeit zu, von Integrationsbemühungen ganz zu schweigen. Auch Israelis, US-Amerikaner, Rückkehrer aus Lateinamerika, polnische oder ungarische Jüdinnen und Juden sind auf sich angewiesen. Der Jüdische Kulturverein betreibt für englischsprachige junge Jüdinnen und Juden einen "Schmoozeday on Tuesday". Von den etwa 12 000 US-Amerikanern in der Stadt könnten sind 2 000– 3 000 jüdisch sein. Genauer wissen wir es nicht, niemand kennt die Zahl der festen oder vorübergehenden Berliner Israelis, auch sie haben ihren Stammtisch, und jüdische Englischsprachige treffen sich zudem in einer Westberliner Kneipe. Alte "Argentinier", einst aus Deutschland geflohen, sitzen bei den Treffen der deutschsprachigen Senioren eng beisammen, die Deutschen wiederum sorgen dafür, dass sich kein Russischsprachiger an ihre Tische verirrt.

Wenn Integration der Zusammenschluss von Teilen zu einem Ganzen, die Wiederherstellung, Vereinigung, Vereinheitlichung, Verschmelzung, Eingliederung, die Einbeziehung ist, wie das Fremdwörterbuch schreibt, dann findet in der Jüdischen Gemeinde Berlin etwas anderes statt. Doch selbst mit dieser Art sozialer und kultureller Einbeziehung oder integrativer Sozial- und Kulturarbeit wird die jüdische Gemeinschaft stabilisiert, doch längst ist es an der Zeit, trotz mangelnder Kompetenzen und Mittel perspektivische Konzepte zu diskutieren und umzusetzen. Dass die Gemeinden mit der Überbelastung alleingelassen wurden, hat viele Gründe, vor allem wurde Integration als ein Aufgabenkomplex von Anfang an unterschätzt. Hochnäsigkeit und mangelnder Sachverstand kamen dazu. Indem der Staat die Pflichten den Gemeinden übertrug oder der Gemeindedachverband diese einforderte, es hat die zu Integrierenden gesellschaftlich nicht integriert, doch die Integration in die eigene Gemeinschaft hat bewirkt, dass man sich auf Übereinkünfte, Orientierungen und vor allem die vertraute Sprache Russisch verlassen kann.

Eine gängige Minderfinanzierung aller Integrationsprojekte für "Fremde", "Ausländer", auch "ausländische Mitbürger" oder "Menschen mit Migrationshintergrund" genannt oder in unserem Fall "Menschen jüdischer Herkunft", führt dazu, dass kein staatlicher Interventionismus herrscht, sondern engagierte NGOs  den Job übernehmen. Was die allgemeine Praxis in Deutschland angeht, so werden die Integrierenden aller Nationen, Ethnien, Religionen und Kulturen nach wie vor eher als zu betreuend und zu erziehend, aber dennoch nichtlegitimer Teil der in Deutschland lebenden Bevölkerung angesehen. Mit-Bürger, aber nicht Bürger heißt es meist, von Partizipation ist selten die Rede.

Von den nach innen fast durchgängig russifizierten Gemeinden wird außen die deutsche Stimme erwartet, so, als wäre das nach der Shoa noch möglich. Wenn in Berlin 70 % – und anderswo 100 % Gemeindemitglieder russisch sprechen, haben sich die Zeiten und mit ihnen die Strukturen gewandelt. Sogar das Wort Integration sollte neu interpretiert werden. Es geht um die andere Qualität jüdischen Lebens. Kein einheimisch deutsches Judentum kann diese Einwanderer (wie etwa in den USA oder Israel) in bestehende Strukturen integrieren. Denn weder gibt es eine solche Bevölkerung, noch die Strukturen. Von Generation auf Generation vererbte Leitbilder fehlen, das Jüdische ist ein Abbild aus Importen und Traditionen. Es bleibt nicht aus, dass sich mitgebrachte wie neu erfahrene jüdische Inhalte in russischen Parallelstrukturen tradieren, über deren einigende und separierende Kraft nachzudenken wäre. Die Nicht-Russischsprachigen sollten dabei eben so wenig wie Alters-, Geschlechts-, Bildungs- und soziale Faktoren vernachlässigt werden, soll die jüdische Integrationsarbeit oder eine Integration in das neue Jüdische erfolgreich sein.

Kommt stattdessen Integrationsarbeit weiterhin nur sozial schwachen Älteren und Alten zu, dann werden die Folgen katastrophal sein. Eine an der Zukunft orientierte jüdische Integrationsarbeit muss sich den heute 18- bis 35jährigen zuwenden, die als Kinder und Jugendliche mit Eltern und Großeltern nach Deutschland kamen oder schon hier geboren sind. Auf diese Aufgabe sind Einwanderer nicht vorbereitet. Noch 1990 befanden sich unter den rund 29 000 Gemeindemitgliedern in Deutschland (West) nur 1 000 Eingewanderte, im Jahr 2005 waren es schon 98 000 von 108 000 Mitgliedern. Rund 30 Prozent der Einwanderer sollen bei der Einreise knapp 58 Jahre alt gewesen sein. Das und neue jüdische Kindergärten sind der Bogen der Realität. Wo und wie integrieren sich aber die jüdischen Alteinwohner, die Jugendlichen, junge Paare, junge Familien, Singles und junge Alte?

In Berlin sind 37 % aller Gemeindemitglieder älter als 60 Jahre, aber ein intergeneratives und interkulturelles Beziehungsgeflecht ist nirgends erkennbar. Wir brauchen professionelle Mediatoren, interkulturell versierte Freizeittrainer, engagierte Kultur- und Sozialarbeiter. In den Leitungsebenen der Jüdischen Gemeinden scheint das kein Thema zu sein, und ich höre von keinen Rabbinern in Deutschland, die gesellschaftliche Zuständigkeiten predigen. Innerjüdisch treten zumindest in Berlin keine neuen Aktivisten und Aktivitäten hervor. Die Stadt bietet genügend Kultur, Bildung und Diskussion, sogar zu jüdischen Themen. Wer integriert daher die den Gemeinden fernstehenden Jüdinnen und Juden, die ein jüdisches Umfeld, aber keinen Gottesdienst, die Kultur und Kommunikation und vor allem ihresgleichen suchen? Integrativ wäre es, wenn sich Großstadtgemeinden endlich für "unaffiliated Jews" öffneten, wie es uns Chabad Lubawitsch überall in der Welt vormacht.

Kurzum: Es fehlen innerjüdisch Konzepte für die Integration aller Juden, es fehlen organisierte integrative Übergänge in die jeweils nächste Altersgruppe, denn bestehende Gemeindeklubs beziehen nachfolgende Altersgruppen nicht ein. Es fehlt an integrativer Begabung.

In Deutschland leben rund 7 Millionen Menschen "nichtdeutscher Herkunft. Etwa 700 000 sind älter als 60 Jahre, im Jahr 2010 werden es über 1,3 Millionen sein, bis 2020 wird sich die Zahl mehr als verdreifachen. Die neuen Integrationsaufgaben sind hier zu suchen. In Deutschland sind 53% aller jüdischen Gemeindemitglieder über 50 Jahre alt, nur 34% sind jünger als 30, die Neugeborenen mitgerechnet. Bei einer Diskussion zum "Altern in der Fremde" fiel einem schwarzafrikanischen Teilnehmer auf, dass es in Deutschland keine altgewordenen Afrikaner, damit keine role-models für den Nachwuchs gibt. Über das Altern und das Alter denkt Deutschlands politische Klasse jetzt nach, und sie ignoriert, was Integration und Altern für die migrantischen Bevölkerungsgruppen bedeuten. Jüdische Einwanderer, die als 65jährige mit großen Erwartungen vor 15 Jahren auf dem jüdischen Ticket nach Deutschland kamen, sind unintegriert alt geworden. Für sie brauchen wir mehr qualifizierte Sozialarbeit, sowohl muttersprachlich als auch vaterländisch, ihre Lebensgeschichten müssen gespeichert werden. Jede jüdische Gemeinschaft lebt durch diese generative Kontinuität. Ich würde darin den Zweck der Integration sehen.

Die Einwanderung auf dem jüdischen Ticket ist aus politischen Gründen unterbrochen worden. Das ist bedauerlich, doch eine Fortsetzung unter anderen Reglements ist geplant. Das Nachdenken über die Integration geht so und anders weiter. Wir wissen nichts über jene jüdischen Eingewanderten aus aller Welt, die unseren Religionsgemeinden nicht angehören. Das könnte das nächste Thema sein.

hagalil.com 08-08-2007

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