Die
Innensicht:
Die Gesellschaft des Gettos Litzmannstadt
28.08.2006 - Dr. Josef König; Ruhr-Universität Bochum
Die Geschichte der Juden im Getto Litzmannstadt (Lodz) ist längst
geschrieben, allerdings nur aus der Außenperspektive. Wie die Menschen
selbst ihren Alltag empfunden und gestaltet haben, wie sie auf die
Deportationen und die Schikanen durch die Besatzer umgegangen sind, wird
erst jetzt bekannt: In ihrer soeben erschienen Bochumer Dissertation hat die
Historikerin Dr. Andrea Löw die zahlreichen Selbstzeugnisse von Juden aus
dem Getto Litzmannstadt in deutscher, polnischer und jiddischer Sprache
erstmals systematisch ausgewertet, um auf dieser Grundlage die Geschichte
von Menschen im Getto aus deren Perspektive zu erzählen.
Sie untersucht "Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten". Die Arbeit
entstand am Lehrstuhl von Prof. Dr. Norbert Frei (Historisches Institut der
RUB/jetzt Universität Jena), veröffentlicht wurde sie nun in der
"Schriftenreihe zur Lodzer Gettochronik", die gemeinsam von der
Arbeitsstelle Holocaustliteratur (Universität Gießen) und dem Staatsarchiv
in Lodz herausgegeben wird.
Von der anonymen Opfermasse zur individuellen Geschichte
RUB-Historikerin erweitert die Perspektive um die Innensicht
Die Gesellschaft des Gettos Litzmannstadt (Lodz)
Die Geschichte der Juden im Getto Litzmannstadt (Lodz) ist längst
geschrieben, allerdings nur aus der Außenperspektive. Wie die Menschen
selbst ihren Alltag empfunden und gestaltet haben, wie sie auf die
Deportationen und die Schikanen durch die Besatzer umgegangen sind, wird
erst jetzt bekannt: In ihrer soeben erschienen Bochumer Dissertation hat die
Historikerin Dr. Andrea Löw die zahlreichen Selbstzeugnisse von Juden aus
dem Getto Litzmannstadt in deutscher, polnischer und jiddischer Sprache
erstmals systematisch ausgewertet, um auf dieser Grundlage die Geschichte
von Menschen im Getto aus deren Perspektive zu erzählen. Sie untersucht
"Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten". Die Arbeit entstand am
Lehrstuhl von Prof. Dr. Norbert Frei (Historisches Institut der RUB/jetzt
Universität Jena), veröffentlicht wurde sie nun in der "Schriftenreihe zur
Lodzer Gettochronik", die gemeinsam von der Arbeitsstelle Holocaustliteratur
(Universität Gießen) und dem Staatsarchiv in Lodz herausgegeben wird.
Zumindest die Texte sollten überdauern
"Viele Schrecknisse gerieten in Vergessenheit. Viele
Schrecknisse (Schandtaten) hatten keine Zeugen. Viele Schrecknisse waren
derart, daß ihre Darstellung keinen Glauben fand. Aber sie sollen in der
Erinnerung leben bleiben." Oskar Rosenfeld schrieb diese Zeilen im Mai 1942
angesichts der Deportation von Juden aus dem Getto Litzmannstadt (Lodz) in
das Vernichtungslager Kulmhof (Chelmno) in sein Tagebuch. Der Wiener
Schriftsteller, im Herbst 1941 aus Prag ins Getto deportiert, war nur einer
von vielen Menschen im Getto Litzmannstadt, die Aufzeichnungen machten,
damit Leben und Sterben im Getto nicht in Vergessenheit geraten würde.
Innerhalb der jüdischen Verwaltung wurde zu diesem Zweck sogar eigens ein
Archiv eingerichtet, in dem vor allem in einer umfangreichen Tageschronik
aufgeschrieben wurde, was im Getto geschah. Juden unter
nationalsozialistischer Verfolgung wollten dokumentieren, wollten
mitbestimmen, wie später an die Verbrechen erinnert wird - zumindest ihre
Texte sollten überdauern.
Alltag, kulturelle "Gegenwelt", Liebe und Freundschaft
In der polnischen Stadt Lodz hatten vor dem Einmarsch der
Deutschen rund 233.000 Juden gelebt, sie stellten etwa ein Drittel der
Gesamtbevölkerung. Als im September 1939 die Deutschen kamen, sahen sie sich
Raubzügen und Schikanen ausgesetzt, wurden im Getto zusammengepfercht.
Hunger, Armut, Parasiten und Gestank quälten die Menschen, die auf engstem
Raum zusammenleben mussten; nicht wenige Familien zerbrachen an den
Zuständen. Viele Bewohner starben an Krankheiten wie Typhus. Aus den
Aufzeichnungen der Bewohner erschließt sich die Innensicht des Gettos: Die
Menschen beschreiben ihr Leid und seine Auswirkungen, ihre Versuche, dem
Gettoleben einen halbwegs erträglichen Alltag abzuringen. Andrea Löw kann
zum ersten Mal die Frage danach beantworten, wie die jüdische Bevölkerung
die Deportationen erlebt hat: Es war ab einem gewissen Zeitpunkt vielen von
ihnen klar, dass die Transporte in die Vernichtung führten. Die Tagebücher
und Erinnerungsberichte dokumentieren aber nicht nur den Schrecken des
Gettolebens, sondern auch Liebe, Freundschaften und Strategien, aus der
Situation das Beste zu machen. Kulturelle Aktivitäten wie
Theateraufführungen und Konzerte halfen, den Menschen, eine Gegenwelt zum
alltäglichen Grauen aufrecht zu erhalten. Auch gab es, wenn auch wenige,
Kontakte nach "draußen" und einen organisierten Schmuggel ins Getto.
Nur nicht resignieren
"Den Schwerpunkt der Untersuchung bilden die vielfältigen
Versuche der Menschen, nicht zu resignieren, sondern im Gegenteil ihr
aufgezwungenes Leben im Getto zu organisieren, um ihre Situation zu
verbessern", erklärt Andrea Löw. In der mehr als vierjährigen Geschichte des
zweitgrößten von den Nationalsozialisten eingerichteten Gettos fielen mehr
als 45.000 Menschen den katastrophalen Bedingungen dort zum Opfer, das ist
fast jeder vierte der dort Eingeschlossenen. Mit ungeheurem Aktionismus
versuchten sowohl die innerjüdische Verwaltung mit Mordechai Chaim Rumkowski
an der Spitze, als auch große Teile der übrigen Bevölkerung, unter
existenzbedrohenden Bedingungen ihren Alltag zu organisieren und ihrem Leben
einen Rahmen zu geben. Die Menschen im Getto schlugen mit ihren Aktivitäten
sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft Brücken, schufen sich
vor allem durch kulturelle Aktivitäten eine Gegenwelt zur destruktiven Welt
des Gettos.
Keine homogene Masse
Gleichzeitig zeigen die Selbstzeugnisse auch, dass die
Gettogesellschaft keineswegs eine Einheit war; vielmehr waren starke soziale
Konflikte ein Kennzeichen dieser Zwangsgemeinschaft. Auch diese werden in
der Untersuchung thematisiert. "Die Menschen im Getto erscheinen nicht mehr
als anonyme, statistisch erfasste 'Opfermasse'", beschreibt Andrea Löw,
"sondern als Individuen mit einer je eigenen Geschichte, als einzelne
Menschen mit begrenzten Handlungsspielräumen, die sie auf unterschiedliche
Arten nutzten."
Die Autorin
Dr. Andrea Löw, geboren 1973, hat Geschichte, Germanistik und
Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften an der Ruhr-Universität studiert.
Seit Dezember 2004 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arbeitsstelle
Holocaustliteratur an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Sie lehrt dort
am Germanistischen Institut und ist Mitarbeiterin im Editionsprojekt "Die
Lodzer Gettochronik". Sie ist Mitherausgeberin der Festschrift für den
Bochumer Historiker Dr. Hubert Schneider ("Deutsche - Juden - Polen.
Geschichte einer wechselvollen Beziehung im 20. Jahrhundert", Campus Verlag:
Frankfurt am Main 2004) und war von 1993 bis 2001 Redakteurin der
Zeitschrift "SACHOR. Zeitschrift für Antisemitismusforschung, jüdische
Geschichte und Gegenwart".
Andrea
Löw:
Juden im Getto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung,
Verhalten. Göttingen: Wallstein Verlag 2006 (584 Seiten, gebunden, 46,00
Euro, ISBN 3-8353-0050-4).
Homepage Andrea Löw:
http://www.holocaustliteratur.de/index.php?content=15&category=4
Weitere Informationen:
http://www.holocaustliteratur.de/index.php?content=15&category=4
URL dieser Pressemitteilung:
http://idw-online.de/pages/de/news172659
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