Bundeskanzler Schröder
und der Aufstand der Anständigen:
Ein richtiges und wichtiges Signal - schlecht umgesetzt
Ein Brief an Deutschlands Kanzler
im Januar 2005
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Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
zum 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz haben
Sie erneut und richtigerweise zur Bekämpfung von Antisemitismus und
Rechtsextremismus aufgerufen. Auf der Gedenkveranstaltung des
Internationalen Auschwitz Komitees sagten Sie, nie wieder dürfe es den
Antisemiten gelingen, jüdische Bürger zu bedrängen und zu verletzen -
und damit Schande über Deutschland zu bringen. Die Auseinandersetzung
mit Neonazis und Altnazis erklärten Sie zur gesamtgesellschaftlichen
Aufgabe.
Ihrer Rede ist zuzustimmen und Ihnen gebührt Anerkennung und Dank,
auch im Hinblick auf den schon früher von Ihnen ausgerufenen "Aufstand
der Anständigen". Abseits feierlicher Gedenkreden sehen wir uns aber
mit ganz anderen Realitäten konfrontiert, und diese Konfrontation ist um
so schmerzlicher und trifft um so unvorbereiteter, je mehr man diesen
Reden vertraute.
Es war sicher ein wichtiger und richtiger
Schritt, 200 Millionen Euro zur Bekämpfung des Rechtsextremismus zur
Verfügung zu stellen. Es sind aber nicht alle anständig, die aufstehen,
wenn Fördermittel in Aussicht gestellt werden, und es sind sicher nur
wenige der Zuständigen so engagiert und kompetent, wie es dieses Thema
erfordern würde. Wie sonst ist zu erklären, dass schon seit Langem vom
Scheitern des "Aufstands der Anständigen" gesprochen wird und immer
häufiger der "Zustand der Zuständigen" beklagt wird.
Am
sinnvollsten lassen sich die Gründe dieses Scheiterns an Beispielen aus
der Praxis erklären. Bis vor Kurzem war mit "haGalil onLine",
wenn auch nur indirekt, unter den fast 4.000 unterstützten Projekten und
Initiativen auch eine außerordentlich erfolgreiche und nachweisbar
effektive Maßnahme gegen die antisemitische Hetze im Internet
vertreten. Aus angeblich formalen und verwaltungstechnischen Gründen
fand es der zuständige Referatsleiter im BMFSFJ nun legitim, diese
Unterstützung zu streichen und haGalil online aufzugeben, nur um einem
Antrag auf Trägerwechsel, und damit direkte Unterstützung, nicht
nachgeben zu müssen.
Die immer neuen und z.T. widersprüchlichen
Auskünfte und Argumentationen will ich hier nicht kommentieren. Erwähnt
werden soll jedoch, dass das Referat 503 im BMFSFJ bereits zu einem
früheren Zeitpunkt die Tatsache ins Feld führte, dass keines der
geförderten Projekte so massiv attackiert werde, wie "haGalil". Dass
diese Tatsache nur die Effektivität unserer Arbeit, wie auch die
Virulenz des Antisemitismus beweist, wollte der zuständige
Referatsleiter damals nicht begreifen. Dass er sich deshalb schon im
Jahre 2003 von uns distanzierte, war erschreckend. Viel folgenschwerer
ist aber, dass nun ein, nach früherer Auskunft des Ministeriums,
durchaus nicht ungewöhnlicher Antrag auf Trägerwechsel zum Anlass
genommen wird, haGalil komplett aus der Bundesförderung zu entfernen.
Dies ist um so bitterer, als doch der "Aufstand der Anständigen" einmal
unter dem Motto "Zivilcourage" ausgerufen wurde. Dabei geht es aber
nicht nur um Mut und Courage, sondern auch um Kompetenz und
Sachverstand, ohne die selbst eine Investition von 200 Millionen Euro
nur sehr kurzfristige und symbolische Wirkung haben wird.
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, ich
gehe davon aus, dass Sie haGalil selbst nicht kennen, deshalb erlaube
ich mir, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass Sie ohne unsere Arbeit
wohl auch von den antisemitischen Tiraden des MdB Hohmann nichts
wüssten. Dessen "Rede zum Nationalfeiertag" wurde nämlich erstmals in
haGalil als hetzerisch bezeichnet und erst nachdem wir Presse, Rundfunk
und Bundestag darauf aufmerksam gemacht hatten, wurde der damalige
Unionsabgeordnete so bekannt, dass seine Position auch in der Union
unhaltbar wurde. Dies ist nur ein Beispiel, wie unser Engagement weit
über das Internet hinaus wirkt.
Erst vor wenigen Tagen bezeichneten Sie
die nazistische Hetze als "widerlich". Sicher wissen Sie, dass sich
diese Hetze nirgendwo so widerlich und unverblümt zeigt, wie im
Internet. Das Internet ist zum wichtigsten Medium zur Verbreitung
antisemitisch-nazistischer Hetze und rechtsextremistischer Vernetzung
geworden. Gleichzeitig findet aber auch die oft beschworene
Zivilgesellschaft in keinem anderen Medium einen stärkeren Ausdruck. Es
ist deshalb notwendig, dem Antisemitismus im Internet auch im
Internet
etwas entgegen zu setzen.
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, alle
Teile der deutschen Kultur und Gesellschaft, sollten in allen
gesellschaftlichen Bereichen vertreten sein, so auch der von Ihnen
angesprochene unersetzliche jüdische Anteil. Dies muss auch für moderne
Ausdrucksformen und Medien gelten, denn die jüdische Gemeinschaft ist
nicht nur Teil der Geschichte, sondern auch der Gegenwart.
Dies
zu demonstrieren, ist uns mindestens so wichtig, wie die Rückeroberung
öffentlicher Räume und das Zurückdrängen rechtsextremistischer
Propaganda. Vielleicht liegt der Erfolg unseres auch international
wahrgenommenen Modells gerade darin begründet, dass wir von Anfang an
nicht gegen, sondern für etwas gearbeitet haben: Wir haben weniger
gegen die Lüge
gearbeitet als vielmehr für die Wahrheit, wir waren nicht gegen die
Einfalt, sondern haben die Vielfalt mitgestaltet.
Ich zweifle
nicht an der Aufrichtigkeit Ihrer Worte, im Gegenteil, ich bin froh,
dass gerade Sie in dieser Zeit dieser Regierung vorstehen. Selten hat
sich eine Bundesregierung, so deutlich gegen Rechts positioniert. Es
ist unerträglich, wenn die Chance, die in Programmen wie entimon liegt,
vertan wird und effektive und sinnvolle Aktionen durch symbolhafte
Projekte, die nur immer wieder alte Wege neu erfinden, erdrückt werden.
Ein tatsächlich kraftvolles Engagement kann durch den falschen Eindruck,
"es werde ja etwas getan" vereitelt werden.
Mit dem Aus für haGalil onLine wäre das
größte Informations- und Aufklärungsangebot zum Judentum außerhalb der
USA und Israels zerstört. Eine Umleitung deutschsprachiger Schüler,
Lehrer und sonstiger Interessierter auf englischsprachige
Bildungseinrichtungen ist nur bedingt sinnvoll, u.U. sogar
kontraproduktiv. Für viele am rechten Rand wäre das Ende unserer
Arbeit ein Triumph, den wir ihnen nicht gönnen dürfen, denn er wird nur
Auftakt sein für weiteren Terror und weitere Hetze - und das sicherlich
nicht nur im Internet.
Seit zehn Jahren bauen wir diesen
Schutzwall gegen die rechte Propagandaflut kontinuierlich auf und
stützen uns dabei auf drei strategische Grundpfeiler: Gegensteuerung
durch Aufklärung, Kommunikationsangebote und Nutzung der gegebenen
Rechtsvorschriften.
Wie ist es möglich, dass man im Bundesministerium noch nicht einmal an
der Absicherung der
nachhaltigen Wirksamkeit bereits investierter Bundesmittel interessiert
ist?
Es kann doch nicht
sein, dass die notwendige Fortsetzung einer erwiesenermaßen effektiven,
erfolgreichen und dauerhaft wirksamen Arbeit gefährdet wird, weil man
der Frage der formellen Trägerschaft eines Programms größere Bedeutung
beimisst, als dem Projekt selbst.
Noch im Dezember wurde uns versichert, der politische Wille zur
Unterstützung unserer Arbeit sei eindeutig.
Heute müssen wir Sie darum bitten, Ihren
Einfluss zu nutzen, um eine unbürokratische Lösung herbei zuführen.
Mit freundlichen Grüßen aus München,
Eva Ehrlich 1. Vorsitzende haGalil e.
V.
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