Die besonderen Beziehungen
Rede des Präsidenten des Staates Israel, Moshe Katsav, vor dem
Deutschen Bundestag und Bundesrat am 31. Mai 2005
Es gilt das gesprochene Wort
Botschaft des Staates Israel
"Ich danke Ihnen, verehrte Mitglieder des Bundestags
und des Bundesrats, für die Einladung, anlässlich des 40. Jahrestages der
Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen dem Staat Israel und der
Bundesrepublik Deutschland, die von der Knesset am 16. März 1965 beschlossen
wurde, vor Ihnen zu sprechen.
Zwei begnadete Visionäre, Ministerpräsident David Ben
Gurion und Bundeskanzler Konrad Adenauer haben die historische Aufnahme der
Beziehungen ermöglicht, trotz der seelischen und politischen Aufruhren, die
sie heraufbeschwor.
Die junge Generation in Deutschland hat gegen Ende der
Sechziger Jahre ebenfalls zur Aufnahme der Beziehungen beigetragen, als sie
verlangte, das Schweigen zu durchbrechen und zu erfahren, was in den
furchtbaren Jahren tatsächlich vorgefallen war.
Die besonderen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel
basieren auf einem von Deutschland im Zweiten Weltkrieg ausgelösten
weltweiten Erdbeben. Unsere beiden Völker haben völlig unterschiedliche
Schlussfolgerungen daraus gezogen, sie führen jedoch zu einer gemeinsamen
Herausforderung – die Lehre der Shoa an die nächsten Generationen
weiterzugeben.
Die Shoa ist ein gestaltendes Ereignis in der Geschichte
des jüdischen und des deutschen Volkes. Sie überschreitet die Grenzen von
Zeit und Raum, von Interessen und von Wirklichkeit, von Anschauungen und
Meinungen.
Das Trauma der Shoa wird das jüdische Volk bis in alle
Ewigkeit begleiten.
Für die Shoa kann es weder Vergeben noch Verzeihen noch
Vergessen geben. Zahlreich sind die Angehörigen des jüdischen Volkes, die
die von den Nazis tätowierten Zahlen noch auf ihrem Arm tragen. Die
seelischen Narben sind auch in der zweiten und dritten Generation noch
spürbar. Die Familien der Opfer und Überlebenden der Shoa trauern und weinen
bis zum heutigen Tag. Das jüdische Volk fühlt weiterhin den Schmerz und das
Leid.
Die Shoa wird immer den Anfangs- und den Schlusspunkt
bilden. Sie ist das schwarze Loch, in dem ein Großteil der Lichtstrahlen
verschwindet.
Hier, in diesem Gebäude, begann die Tragödie, die zur
systematischen Ausrottung des jüdischen Volkes führte. Hier in Berlin wurden
die Entscheidungen gefällt, die zur größten Tragödie der Menschheit führten.
Von hier nahm das Abscheu erregende Programm der "Endlösung der Judenfrage"
seinen Lauf.
Ich, der Präsident des Staates Israel, stehe hier heute im
Namen des jüdischen Volkes und beweine die Ermordung meines Volkes und sage:
Nie wieder!
Wir, die Generation der Nachkriegszeit, haben die Aufgabe,
gemeinsam die Lehren aus der Shoa zu ziehen und sie an die kommenden
Generationen weiterzugeben.
Wir, das jüdische Volk, glaubten, dass nach den
Greueltaten der Nazis die Welt den Antisemitismus nie mehr dulden würde. Wir
glaubten, der Antisemitismus bilde eine Erscheinung die der Geschichte
angehört, der alten Welt, dem alten Europa.
Wir werden heute Zeugen einer Welle des wiederauflebenden
Antisemitismus, wie wir sie seit Ende des Zweiten Weltkrieges nicht gekannt
haben, einer Welle, begleitet von aggressiver Hetzpropaganda.
Die Antisemiten nutzen die moderne Technologie, die
Massenmedien, die Globalisierung und die Demokratie dazu aus, um die Thesen
des Antisemitismus in nie dagewesener Stärke und Form zu verbreiten.
Der Antisemitismus ist nicht nur eine Tragödie für das
jüdische Volk, sondern auch eine moralische und historische Niederlage für
die Menschheit, die Niederlage der Führer der Welt, die Niederlage der
freien Welt.
Wir möchten den Regierungen Europas unsere Wertschätzung
ausdrücken, unter anderem der Bundesregierung, die mit entschiedenen
Schritten gegen die Welle des Antisemitismus vorgehen - diese Maßnahmen
reichen jedoch nicht aus. Unerlässlich sind Gesetzgebung und –ausführung,
Erziehung und Aufklärung der Öffentlichkeit.
Leider fördern radikale islamistische Kräfte in Europa im
Verbund mit rechtsextremen und linksextremen Kräften den Antisemitismus und
den Antizionismus.
Der radikale, extremistische Islam bildet eine große
Gefahr, die meisten Muslime Europas sind jedoch friedensliebende, moralische
Bürger.
Im Sinne des Humanismus warnen wir vor einer
antimuslimischen Welle. Wir, die Opfer der Verfolgung der in Vergangenheit,
strecken unsere Hand aus.
Ich rufe die gemäßigten Muslime Europas und ihre Führer
auf, gemeinsam auf eine freie, bessere Welt hinzuarbeiten und Toleranz und
Verständigung zu verbreiten.
Wir pflegen mit einigen muslimischen Staaten gute
Beziehungen.
Die wachsende Legitimation neonazistischer Kräfte und ihre
zunehmende Verankerung in der deutschen Öffentlichkeit bereiten uns Sorgen.
Es besteht die Gefahr, dass das Anwachsen des Neonazismus
das Ende des Nachkriegszeitalters verschiebt und die Entfernung vom Krieg
verhindert.
Man muss jeden Ausdruck der neonazistischen Lehren schon
in den Anfangsstadien bekämpfen, bevor sie sich ausbreiten und einnisten
können.
Seien wir auf der Hut – lassen wir uns nicht überraschen,
wenn die Terrororganisationen die Neonazis für die Ausführung von
Terroranschlägen ausnutzen.
Ich schätze die absolute Ablehnung der Neonazis von Seiten
der großen Mehrheit der Deutschen.
Ich schätze die beeindruckende Zahl der Deutschen, die vor
dem Brandenburger Tor gegen die Neonazis demonstrierten.
Die deutsche Demokratie ist widerstandsfähig und wird Wege
finden, gegen dieses Problem anzugehen.
Wir haben das moralische Recht von Deutschland zu
verlangen, keinerlei neonazistische Philosophie in Deutschland Fuß fassen zu
lassen.
Die Bundesrepublik ist es sich selbst schuldig, den Opfern
der Shoa und dem jüdischen Volk, ihren eigenen Idealen und den Werten, nach
denen die junge Generation erzogen und geformt wird.
Die junge Generation muss davor bewahrt werden, von
Hasspropaganda und Indoktrinierung verführt zu werden. Wie furchtbar wäre
es, wenn diese Generation die Taten der Nazis als unterhaltenden Horrorfilm
ansähe. Die Lehre der Shoa bildet die Möglichkeit, universelle Werte zu
vermitteln. Wir haben in der Vergangenheit erlebt, wie undemokratische
Kräfte die demokratischen Einrichtungen ausnutzten, um an die Macht zu
gelangen.
Die menschliche Naivität unterliegt im Kampf gegen die
Demagogie und die Böswilligkeit. Es besteht die Gefahr, dass das Böse, die
Abartigkeit und negative Kräfte den Glauben und die menschlichen Werte
bezwingen. Die Demokratien verfügen nicht automatisch über genügende
Abwehrkräfte gegen das Böse und die Tyrannei.
Mit dem Regime, das in den zwölf Jahren seines Bestehens
die Welt in Schrecken versetzte, legte sich auch über Deutschland ein
schwerer historischer Schatten, der zu einem Teil der deutschen Geschichte
wurde.
Niemand darf die Beschäftigung mit der deutschen
Vergangenheit scheuen.
Diese Beschäftigung hat nicht das Ziel, Wunden wieder
aufzureissen oder Beschuldigungen auszusprechen, sondern Lehren zu ziehen,
um auf die nächsten Generationen anhand menschlicher Werte prägend
einzuwirken.
Der 8. Mai 1945, der Tag der Befreiung, ist ein Freudentag
für die Menschheit und auch für Deutschland. Nur auf diese Art und Weise
kann man die Seele der Jugend stärken. Wir müssen den nächsten Generationen
ganz klar verkünden, dass die Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg
für die Welt, für die Menschheit, für die universellen Werte, einen
wichtigen Sieg darstellte - ein wichtiges Ereignis und eine wichtige
Entwicklung in der deutschen Geschichte.
Verstehen Sie meine Worte nicht als die eines
Moralpredigers – sie fügen sich in unseren Dialog ein. Wir stehen vor einer
gemeinsamen Herausforderung.
Israel und Deutschland haben sich das Ziel gesetzt, eine
partnerschaftliche Zusammenarbeit aufzubauen, um den Herausforderungen die
uns bevorstehen gerecht zu werden.
Zwischen unseren beiden Staaten herrscht eine politische
Nähe, sorgen wir dafür, dass sie in gemeinsamen Werten, gemeinsamen
Überzeugungen und gemeinsamen Wegen ihren Ausdruck findet.
Die furchtbare Shoa hat im 20. Jahrhundert stattgefunden,
im Herzen Europas, in einem der fortschrittlichsten Länder der damaligen
Zeit, einem Land, in dem die besten Musiker, Denker, Wissenschaftler und
Forscher lebten.
Keiner von uns weiss, was die Zukunft für ihn bereit hält,
wie die Winde des Schicksals für ihn wehen, was sich in einem Jahrzehnt oder
einer Generation ergeben wird – es ist unsere Aufgabe für die nächsten
Generationen ein festes Fundament von Werten aufzubauen.
Verwandeln wir das Trauma der Vergangenheit in eine
Hoffnung für die Zukunft, unsere besondere Beziehung in eine Brücke für die
Freundschaft unter den Völkern, einen Anker gegen den Totalitarismus und für
menschliche Werte – als Botschaft für Menschlichkeit gegen Rassismus und
Antisemitismus.
Deutschland kann mit Stolz auf seine Errungenschaften seit
dem Ende des Zweiten Weltkrieges zurückblicken. Die Bundesrepublik ist zu
einem integralen und wichtigen Bestandteil der internationalen Völkerfamilie
geworden. Dank Ihrer Verbundenheit mit menschlichen Werten haben Sie Großes
erreicht.
Ich danke Deutschland für seinen Beitrag zur Stärkung des
Staates Israel. Wir unterhalten umfassende Beziehungen im wirtschaftlichen,
politischen und wissenschaftlichen Bereich. Die Bundesrepublik ist unser
wichtigster Handelspartner.
Auf internationaler Ebene ist Deutschland ein echter
Freund Israels. Unsere Beziehungen basieren auf dem Glauben an gemeinsame
Werte, auf gemeinsamen Interessen und auf den Schatten der Vergangenheit.
Schon mit der Gründung des Staates Israel mussten wir den
Versuchen der arabischen Welt uns zu vernichten, entgegentreten. Seit der
Staatsgründung haben wir rund eine Million Shoa-Überlebende aus Europa
integriert, Millionen von Juden aus islamischen Ländern und aus der
kommunistischen Welt. Wir haben sie alle aufgenommen, ihnen Unterkunft,
Erziehung, Gesundheits- und soziale Fürsorge gewährleistet.
Wir haben vieles erreicht. Israel gehört zu den führenden
Ländern der Welt in der wissenschaftlichen Forschung, auf dem Gebiet des
Hi-Tech und in vielen weiteren Bereichen, obwohl wir seit der Staatsgründung
Kriege, Terroranschläge und Blutvergießen erlebten.
In den vergangenen zwölf Jahren hat der Staat Israel mit
einer historischen Entscheidung seine Haltung den Palästinensern gegenüber
verändert. Dieser Kurswechsel begann mit den 1993 abgeschlossenen Osloer
Verträgen, wurde durch die Annahme der Road Map vor zwei Jahren
weitergeführt, durch die Israel seine Bereitschaft verkündete, die Gründung
eines palästinensischen Staates zu unterstützen und reicht bis zum
gegenwärtigen Abkopplungsplan, dessen Kern die Räumung der jüdischen
Siedlungen im Gaza-Streifen ist – aber wir Israelis durften dabei nie einen
einzigen Tag der Ruhe genießen.
Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stehen nicht die
Israelis und die Palästinenser. Der echte Kampf findet zwischen den
positiven, konstruktiven, überlegten palästinensischen Kräften und den
negativen, zerstörerischen, fanatischen palästinensischen Gruppen statt.
Leider hängt das Schicksal des israelisch-palästinensichen
Konfliktes nicht von politischen Prozessen ab, sondern davon, wer in der
Auseinandersetzung zwischen den palästinensischen Kräften die Oberhand
gewinnt. Wenn die rationalen Kräfte gewinnen, können wir zu einem Frieden
und zu einer Aussöhnung gelangen.
Wenn die extremistischen Kräfte gewinnen, herrscht einer
echte Gefahr der Eskalation.
Wir werden auf unseren Straßen, in unseren Cafes, unseren
Restaurants, Diskotheken und an Autobushaltestellen kein Blutvergießen mehr
dulden. Wir werden unter allen Umständen das Recht unserer Bürger
verteidigen, ohne Furcht vor dem Terror zu leben.
Unsere Beziehungen mit den Palästinensern befinden sich
auf dem tiefsten Punkt seit 1967, obwohl die politische Kluft zwischen der
israelischen Haltung und der der Palästinensischen Behörde seit 1967 nie so
klein war.
Versöhnung und Frieden mit den Palästinensern ist in
Reichweite – man darf sie nicht auf das nächste Jahrzehnt oder gar die
nächste Generation hinauszögern. Wir erleben eine historische, goldene
Gelegenheit, die wir nicht versäumen dürfen.
Die freie Welt kann ihren Teil dazu beitragen, den
israelisch-palästinensischen Konflikt beizulegen, indem sie ihren Einfluss
geltend macht und ihr ganzes Gewicht darauf verlegt, von der
Palästinensischen Behörde zu verlangen, ihrer Verpflichtung nachzukommen,
den palästinensischen Terror unverzüglich einzustellen.
Angesichts der Bedrohungen, denen wir ausgesetzt sind,
sind wir gezwungen, Sicherheitmaßnahmen zu ergreifen, die manchmal in der
Weltöffentlichkeit auf Ungeduld und Unverständnis stoßen. Wir befinden uns
allerdings in einem uns aufgezwungenen, ständigen Krieg gegen den
Terrorismus.
Wir sehnen den Tag herbei, an dem wir Ressourcen
freisetzen können, um Lösungen für die echten Probleme der Menschheit zu
suchen – zum Beispiel die Armut, bisher unheilbare Krankheiten oder
ökologische Katastrophen - anstatt den Terrorismus zu bekämpfen.
Es gibt noch immer muslimische Staaten und Organisationen,
die zur Vernichtung des Staates Israel aufrufen.
Es ist eine große Bedrohung für Israel und die Stabilität
in der Welt, wenn totalitäre Staaten, die die Terrororganisationen der Welt
unterstützen, in den Besitz von Massenvernichtungswaffen kommen. Das
Zusammenspiel von Totalitarismus, Terrorismus und Atomwaffen ist eine echte
Gefahr für die ganze Welt. Der Iran braucht keine Atomwaffen – der Iran
besitzt keine Feinde, die seine Existenz bedrohen.
Ich wurde im Iran geboren – ich schätze die iranische
Kultur und Geschichte, mein Bruder und mein Großvater sind im Iran begraben.
Meine Familie hat mehr als 100 Generationen im Iran verbracht, nachdem wir
aus Jerusalem vertrieben wurden. Israel steht in keinem Interessenkonflikt
mit dem Iran. Wir haben keine gemeinsamen Grenzen. Der Iran hat sich jedoch
zum entschiedensten Feind Israels erklärt und unterstützt den Terrorismus im
Nahen Osten.
Atomwaffen für den Iran bedeuten eine direkte Bedrohung
für den Staat Israel und den Nahen Osten – aber auch für die Staaten
Europas.
Nur eine gemeinsame und entschiedene Haltung der
Völkerfamilie kann die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen aufhalten
und somit die Bedrohung der Stabilität und des Friedens in der Welt.
Sehr verehrte Mitglieder des Bundestags und des
Bundesrats, zum Abschluss möchte ich die Bundesrepublik Deutschland dazu
aufrufen, mit uns gemeinsam die Grundlage für unsere Beziehungen in den
kommenden 40 Jahren aufzubauen, um eine Botschaft in die Welt zu tragen, um
eine bessere Welt zu schaffen, um gemeinsam die Lehren aus der furchtbaren
Vergangenheit zu ziehen und sie an die nächsten Generationen weiterzugeben."
[FORUM]
hagalil.com 01-06-2005 |