Tanz in die Moderne
Der Tango-Boom der
Zwanzigerjahre war die erste Weltmusik-Mode: In Paris wurde das kollektive
Körperreiben salonfähig. Von dort aus sprang der argentinische Virus bald auch
auf die Bohemiens in Berlin und Istanbul, Bukarest und Moskau über.
von CHRISTOPH WAGNER
Das Haus ist
dunkel. Durch die schwach erleuchteten Fenster hindurch lassen sich
umschlungene Schatten erkennen, die sich zum Rhythmus einer Besitz
ergreifenden Musik schlängeln. In einer vibrierenden Atmosphäre
scheinen Männer und Frauen vertikal aneinander hochzuklettern. Brust
an Brust und Bauch an Bauch reiben sie sich aneinander, wiegen sich
in Verbiegungen und drehen sich langsam fast auf der Stelle zu den
Akzenten einer traurigen und exaltierten Musik.
So und ähnlich
beschrieben Zeitungen ihren Lesern das Phänomen. Bei der Musik und
dem Tanz, die für so viel Verrenkungen sorgten, handelte es sich um
den Tango, der damals gerade Europa erreichte. Eine wahre Tanzsucht
griff in der französischen Hauptstadt um sich. Bald hatte "der
Irrsinn sich in ganz Paris verbreitet", war in einer Zeitung zu
lesen, die außerdem berichtete: "Überall wird Tango getanzt: in den
Salons, in den Theatern, in den Tanzveranstaltungen und in den
Nachtkabarets. Es gibt Tango-Tees, Tango-Ausstellungen,
Tango-Konferenzen. Fast scheint es, die eine Hälfte der Stadt reibe
sich an der anderen."
Der Tango-Virus
war ursprünglich in den Straßen und Hinterhöfen des "Arrabal" von
Buenos Aires entstanden, dem heruntergekommenen Vorstadtdistrikt, wo
entwurzelte Gauchos auf gestrandete Einwanderer trafen. Die
Dimensionen waren gigantisch: Zwischen 1870 und dem Ersten Weltkrieg
brachte die Explosion der Einwohnerzahl von 180.000 auf 1, 6
Millionen die argentinische Hauptstadt an den Rand des Kollapses.
Der "Würmerhaufen" von Nationalitäten und Volksgruppen, die
Polyphonie der Sprachen und Dialekte, die Vielfalt an Traditionen
und Gebräuchen machten die wuchernden Randbezirke der Kapitale zur
Brutstätte neuer Ausdrucksformen. Mit dem "Lunfardo"-Slang entstand
ein eigener Dialekt, und mit dem Tango ein neuartiger Tanz- und
Musikstil, der verschiedene Traditionen europäischer Salontänze mit
afrokaribischen Tanzformen wie Habanera und Milonga verschmolz.
Die Brut der
Bordelle
Buenos Aires war
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Stadt der Männer -
einsamer Männer, die auf vielerlei Verheißungen hin ins Land
gekommen waren, um "Amerika einzusacken". Der Traum zerschellte
rasch an der Wirklichkeit. Der Alltag der Einwanderer aus Europa war
alles andere als ein Honigschlecken. Ihre Unterkünfte waren Löcher
und die Arbeit die reinste Maloche und dazu noch schlecht bezahlt.
Von den Einheimischen gemieden, machte sich unter den
Neuankömmlingen ein Gefühl des Scheiterns und der Verlassenheit
breit. Zudem war es schwer, Frauenbekanntschaften zu knüpfen. Ein
Ventil musste her, das man im Milieu schäbiger Bordelle und billiger
Vergnügungslokale im Südteil der Stadt fand, wo Gauchos, Emigranten,
Kriminelle, Matrosen und Soldaten verkehrten. Hier hatte der Tango
sein Refugium. Aus Frauenmangel wurde der neue Tanz anfangs oft von
Männern auf der Straße getanzt, was die Behörden mit
Verbotsparagrafen zu unterbinden versuchten. Erst mit der Zeit
kristallisierte sich die typische Schrittfolge heraus, bei der die
Frauen eng am Körper geführt wurden, weshalb der Tanz von der
"besseren" Gesellschaft in Buenos Aires als "obszön" abgelehnt
wurde. Nach einem Kommentar zur grassierenden Tanzwut in Paris
gefragt, charakterisierte 1914 der argentinische Botschafter den
Tango als "einen Tanz schlecht beleumdeter Häuser und Tavernen der
übelsten Art. Niemals tanzt man ihn in anständigen Salons oder unter
feinen Leuten."
Triumph an
der Seine
Das änderte sich
fast über Nacht. Reiche argentinische Familien, die mindestens
einmal im Jahr nach Paris, der "Hauptstadt der Mode und der Künste",
reisten und alles nachäfften, was dort als "dernier cri" galt,
brachten den Tango in sein Heimatland zurück. Durch den Triumph an
der Seine wurde der Tanz auch am Rio de la Plata gesellschaftsfähig.
Und nicht nur dort. Von Paris schwappte eine Springflut über ganz
Europa und die USA, ja selbst Japan und der Vordere Orient blieben
von der Tangowelle nicht verschont. Ob Berlin, Barcelona, Bukarest,
London, Rom oder Prag, ob New York, Istanbul, Kairo oder Tokio -
überall wurde jetzt nach den schmachtenden Melodien aus
Lateinamerika getanzt. Tangoorchester aus Buenos Aires, geleitet von
Bandleadern wie Francisco Canaro, Manuel Pizarro und Enrique
Delfino, kamen für Gastspielreisen über den Ozean, um die
Tanzhungrigen mit den Originalklängen zu verwöhnen. Deutsche,
französische und spanische Phonounternehmen witterten ein Geschäft
und nahmen Dutzende von Schellackplatten mit diesen Orchestern auf.
Im "Maxim
des Ostens"
Daneben
entstanden europäische Ableger. So manche lokale Tanzcombo
versuchte, auf den Erfolgszug aufspringen, was zu allerlei
Verwässerungen des authentischen Klangs führte. Wie Pilze schossen
jetzt einheimische Tangoformationen aus dem Boden, von denen die
Tango-Kapelle Morello in Deutschland eine der bekanntesten war.
Andere gaben sich sogar als argentinische Tangomusiker aus, wie
Valentin Comero, vom dem in Deutschland Schallplatten erschienen und
der mit bürgerlichen Namen Valentin Thébault hieß und französischer
Staatsbürger war. Die meisten Tango-Adepten hatten allerdings ein
solches Versteckspiel gar nicht nötig. Dem Rumänen Jean Moscopol
lagen die Frauen ohnehin zu Füßen. Der einschmeichelnde Ton seiner
Stimme, die Eleganz und unterschwellige Erotik seiner Auftritte
machten ihn zum Matador der Nachtclubs und Nobellokale in den
Metropolen Europas und zugleich zum Schallplattenstar: Bis 1936
hatte Moscopol mehr als 300 Titel eingespielt.
In seiner
Heimatstadt Bukarest, dem "Paris des Ostens", mag er gelegentlich
Pjotr Leschenko begegnet sein, einem russischen Exilanten und
Sängerkollegen, der dort ein eigenes Musiklokal betrieb und
ebenfalls von der Tangowelle in den Dreißigerjahren nach oben
gespült worden war. In "Leschenkos Restaurant", das als "Maxim des
Ostens" galt und einen Treffpunkt für russische Emigranten bildete,
war seine schmachtende Stimme allabendlich zu hören, eingebettet in
die ausgeklügelten Arrangements seiner Hausband, die durchweg mit
vorzüglichen Musikern besetzt war. Wenn die Zeit für den Auftritt
gekommen war, wurden die farbigen Tiffany-Lampen im Halbrund seines
Lokals auf Schummerlicht abgedämpft, die Kellnern im Frack zogen
sich zurück, und dann erschien der Herzensbrecher im Zigeunerkostüm,
um seine Stein erweichenden Melodien von Liebe und Sehnsucht ohne
Mikrophon zu skandieren. Obwohl Leschenkos Schallplatten in der
Sowjetunion als "konterrevolutionär und dekadent" galten und deshalb
verboten waren, gelangten sie dennoch in großen Mengen als
Schmuggelware ins Land, wo sie auf dem Schwarzmarkt Absatz fanden.
In Hinterhöfen an warmen Sommerabenden traf man sich zu
Leschenko-Partys in den Datschensiedlungen und ließ die Nadel so oft
über die Schellackplatten laufen, bis sie völlig zerspielt waren.
Liebesbriefe
aus Istanbul
Was die
Sowjetbehörden als kapitalistisch-degeneriert ablehnten, wurde von
anderen als Segen begrüßt. In der islamischen Welt wurde der Tango
zum Symbol der Westorientierung, auf den sich Hoffnungen der
Befreiung aus den Klammern der Tradition richteten. In der Türkei
hatte man den Tango in den Zwanziger- und Dreißigerjahren als
"westliche Musik" begrüßt, die von Staatspräsident Atatürk als ein
Zeichen seiner Politik der Öffnung nach Westen propagiert wurde. Nur
mit dem vollen Einverständnis des Präsidenten konnte es die
Tangosängerin Seyyan Hanim überhaupt wagen, als türkische Künstlerin
eine Bühne zu betreten, was im Osmanischen Reich für muslimische
Frauen noch völlig undenkbar gewesen wäre.
Istanbul war zu
dieser Zeit eine kosmopolitische Metropole, wo viele Armenier,
Kurden und Juden neben einer großen Zahl von Ausländern lebten und
es ein begütertes Publikum gab, das die Nachtclubszene der Stadt
frequentierte. Dort war auch Ibrahim Özgür zu Hause, der sein
eigenes Orchester leitete, dessen aufregende Arrangements für Furore
sorgten. Besonders die Damenwelt war ihm wegen seiner Samtstimme
zugetan. "Viele meiner Tangos habe ich geschrieben, um mich zu Recht
als wahrer Adressat all der Liebesbriefe zu fühlen, die ich jemals
erhalten habe", erklärte er einmal in einem Interview.
Nicht weniger
Hoffnung setzte das griechische Bürgertum in den Tango. Man sah in
ihm ein Mittel der Vergangenheitsbewältigung, das von erlittener
nationaler Schmach ablenken sollte. Seit der politischen Einigung
des Landes war die tonangebende Gesellschaftsschicht bemüht, eine
eigene Nationalkultur zu schaffen, die westlich ausgerichtet war und
die Erinnerung an die über dreihundertjährige osmanische Herrschaft
auslöschen sollte. Neben dem neapolitanischen Lied und dem
französischen Chanson bot sich der Tango als Vehikel an. Mehrere
Sängerinnen griffen das Format auf und sangen nun Tangos in
Griechisch. Aber nur wenigen besaßen eine Stimme wie Sofia Vembo,
die voller emotionaler Tiefe und Kraft war und direkt unter die Haut
ging, was die Tangodiva aus Athen in den Jahren der italienischen
Okkupation zur musikalischen Leitfigur des antifaschistischen
Widerstands machte. Allerdings wurde der Tango den Erwartungen in
Griechenland nicht gerecht. Im Gegensatz zum übrigen Europa
erreichte die Tangowelle dort nie den maximalen Begeisterungspegel.
Sie blieb eine Modeströmung, die bald wieder verebbte.
Finnischer
Spott
Was in
Griechenland nicht gelang, schaffte der Tango in Finnland: Er wurde
nach dem Zweiten Weltkrieg zum nationalen Integrationsmittel, das
die Wunden der Vergangenheit heilte und die zerrissene Gesellschaft
einigte. Doch obwohl manche (so der Filmemacher Aki Kaurismäki)
heute die Fakten schönfärben und den Tango zum nationalen Urklang
verklären, sieht die Sachlage anders aus: Anfangs begegnete man dem
Tango in Finnland sogar mit Spott. Der erste finnische Tango,
aufgenommen 1915 unter dem Titel "Tanko laulu", machte sich über das
ganze Genre lustig. Und noch in den Dreißigerjahren war der Tanz im
hohen Norden nur einer unter vielen. Erst der Zweite Weltkrieg und
die Nachkriegszeit leiteten die Wende ein. Weil die Tangos die
traurige Wirklichkeit realistisch besangen, wurde sie zu einer
Identitätsstütze der gebeutelten Bevölkerung in schwerer Zeit. Das
schweißt zusammen. Seitdem ist finnische Musik und Tango ein
Synonym.
Auswahldiskografie: Pjotr Leschenko: "Gipsy Songs & Other Passions.
1931" und "Everything that Was. 1934-1937", Ibrahim Özgür: "Tangolar
- The Bel ami of Turkish Tango" sowie Jean Moscopol, Seyyan Hanin,
Sofia Vembo u. a.: "Echoes from Afar - Old World Tangos Vol. 1."
(alle bei Oriente/Fenn Music). Weitere Compilations: "Buenos Aires
to Berlin. Argentine tango Bands in Germany 1927-39"
(Harleguin/Interstate Music; 20 Endwell Road, Bexhill-On-Sea, TN40
1AE, UK) und "Tule Tanssimaan - Finnischer Tango" (Trikont)
taz Nr. 6453 vom 26.5.2001
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27-05-2001
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