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Toleranz ist eine Tugend, die den
guten Umgang auch mit Andersdenkenden sichert. Kippt sie um in
Gleichgültigkeit, verstummt der Dialog, verblasst die gegenseitige
Wahrnehmung. Vielen ist das recht, solange sie selbst in Ruhe gelassen
werden. Andere pochen auf Toleranz, wo sie selber Unrecht tun, und rechnen
mit dem Wegschauen Dritter. Wegschauen ist in der Tat verbreitet, auch wo es
Gründe zu handeln gäbe.
Mit Blick auf die Barbarei in
Nazideutschland hat Raoul Hilberg nicht nur die Täter und die Opfer
fokussiert, sondern auch die Zuschauer. Doch gab es selbst im Klima der
Endlösung in Deutschland und in den besetzten Ländern Menschen, die unter
Lebensgefahr Juden bei sich versteckt, mit falschen Papieren oder - wie
Dimitar Peschew in Bulgarien - durch mutige Interventionen bei der eigenen
Regierung gerettet haben.
Für sie wurde in der
Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem der Garten der Gerechten der Nationen
eingerichtet. Die Auszeichnung «gerecht» bekommt - meist postum - nur, wer
sich ohne Eigennutz und unter grossem Risiko für Bedrohte einer Gruppe
wehrte, zu der er oder sie selber nicht gehörte. In Yad Vashem zählt man
17 433 Gerechte, darunter 39 Schweizer. Sie sind ausder eigenen Sicherheit
herausgetreten in Zeiten, wo sogar auch das Selbstverständliche, der Einsatz
für die Seinen, Mut erforderte.
Die Frage, was wenige zum couragierten
Handeln treibt, während die Mehrheit zuschaut, stellt sich auch im
demokratischen Alltag von heute. Für die Rechte der anderen kann nur
einstehen, wer die Würde der eigenen Person im Laufe des Heranwachsens
erfahren hat. Der Gerechtigkeitssinn des Kindes darf nicht korrumpiert,
sondern muss gestützt werden. So viel Vertrauen in die Pädagogik klingt
utopisch, denkt man an die unwürdige Situation - seelisch oder physisch -,
in der viele Kinder rund um den Globus ihr Dasein fristen. Wo es ums nackte
Überleben geht, hat Zivilcourage wenig Chancen. Im Drogenmilieu etwa
verraten sich jene gegenseitig, die am Boden sind. Zur Demoralisierung
gesellt sich die Morallosigkeit.
Wo Kindheit behütet verläuft, darf
Gewissenserziehung kein Luxus sein, auch wenndas Wort aus der Mode gekommen
ist. Misslingt sie, wird gern den Müttern die Schuldfür die Folgen
angelastet, obwohl die Sozialisation sich nicht beschränkt auf die Mutter-
Kind-Dyade. Gedeihen kann der Mut zur selbständigen Beurteilung von
Situationen, zum gerechten Handeln ohne Angst vor Gesichtsverlust oder
Ächtung nur in einem Klima, wo ein Konsens über hochzuhaltende Werte
besteht.
He.
Neue Zürcher Zeitung, 3. März 2001
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07-03-2001
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