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Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden hat das Vertrauen in die
westliche Zivilisation nachhaltig erschüttert. Der Genozid lässt sich kaum
fassen, darstellen oder gar "verarbeiten". Dennoch steht insbesondere die
deutsche Gesellschaft vor der politischen Notwendigkeit und der ethischen
Aufgabe, unter vielfachen Aspekten an die Shoah zu erinnern. Für ihr
Selbstverständnis haben sich die beiden deutschen Staaten in
unterschiedlicher Weise mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt.
Etwas vereinfachend liesse sich die Auseinandersetzung mit dem
Nationalsozialismus in West- und Ostdeutschland so zusammenfassen: Die
Bundesrepublik übernahm mit Entschädigungszahlungen an den Staat Israel und an
verfolgte jüdische Bürger eine gewisse nachträgliche Verantwortung für die
Judenverfolgung. Hier wurden intensive politische und historiographische
Debatten über den Holocaust geführt, während zugleich grosse Teile der NS-Eliten
wichtige Funktionen in sämtlichen Bereichen des neuen Staates innehatten. In der
DDR bestand die Mehrheit der Spitzenfunktionäre von Regierung und Staatspartei
aus ausgewiesenen Gegnern des Nationalsozialismus, und auch in anderen
Berufszweigen fanden Entlassungen und Umbesetzungen statt. Antifaschismus galt
als Staatsdoktrin, bot jedoch der Bevölkerung die entlastende Gelegenheit, die
je individuelle Verstrickung in das Nazi-System zu verleugnen. Eine
Auseinandersetzung mit dem Holocaust fand nur marginal statt, Juden galten -
anders als die Kämpfer gegen den Faschismus - als zweitrangige Opfer, der
Zionismus wiederum wurde politisch bekämpft.
Nach der Vereinigung stellt sich erneut die Frage, ob und in welcher Weise
nationale Selbstbestimmung und die Erinnerung an Auschwitz nebeneinander
bestehen können. Angesichts der zeitlichen Distanz und des Generationenwechsels
ist diese Erinnerung immer ausschliesslicher auf symbolische Präsentationsformen
angewiesen.
Kollektives Erinnern und Identität
Vertreter der neueren Gedächtnistheorie
differenzieren zwischen individueller biographischer Erinnerung und kollektiven
Gedächtnisformen wie dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis, auch
wenn sich diese Modelle nicht immer vollständig auseinanderhalten lassen. Das
kommunikative Gedächtnis umfasst die in der Gegenwart zirkulierenden
Erinnerungen an gemeinsame Erfahrungen, während diese im kulturellen Gedächtnis
auch für zukünftige Generationen symbolisch festgehalten sind. Die Erinnerung an
die Shoah ist mittlerweile in Texten, Bildern, Filmen, Denkmälern, Orten des
einstigen Geschehens oder Gedenkritualen bewahrt. Aleida und Jan Assmann
betonen, dass dem kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft eine
identitätsstiftende Funktion zukommt. Angesichts dieser Prämisse muss jedoch
gefragt werden: Wie kann die Erinnerung an die Ermordung der europäischen Juden
identitätskonstituierend wirken - zumal für die Täter und Mitläufer und ihre
Nachkommen? Und welche Personen, welche gesellschaftliche Mechanismen legen
fest, ob eine kulturelle Ausdrucksform tatsächlich kollektiv verbindliche
Aussagekraft hat? Laut Aleida Assmann ist etwa Primo Levis erster
autobiographischer Bericht zu Auschwitz "besonders für uns Deutsche der
nachfolgenden Generationen zu einem zentralen Text unseres kulturellen
Gedächtnisses geworden". 1
Die Kluft zwischen den Gedächtnissen
In ihrer Auseinandersetzung mit der Shoah
sind die Deutschen auf die internationale Zeugnisliteratur jüdischer
Überlebender angewiesen. Dennoch ist Levis "Ist das ein Mensch?" ebenso wie
viele andere beeindruckende Berichte - u. a. von Elie Wiesel oder Jean Améry -
nur einer eher kleinen intellektuellen Schicht vertraut. Hingegen sind
beispielsweise Konsaliks Romane, die den Russlandfeldzug aus der Sicht deutscher
Landser darstellen, millionenfach verlegt worden. Indem Assmann und zahlreiche
weitere Wissenschafter dem kulturellen Gedächtnis ihres eigenen akademischen
Milieus Breitenwirkung attestieren, harmonisieren sie die Kluft zwischen diesem
Gedächtnis und offensichtlich anders ausgerichteten kollektiven
Erinnerungsbedürfnissen. Damit vergeben sie die Chance, genau diese Kluft und
die Konflikte, die hier auch in Zukunft schwelen werden, zu reflektieren.
Unter umgekehrten Vorzeichen übergeht die 1993 erfolgte Neugestaltung der in
Berlin-Mitte liegenden Gedenkstätte "Neue Wache" ebenfalls die unterschiedlichen
Erfahrungen und Erinnerungsperspektiven: Hier wird mit einer vergrösserten
Fassung von Käthe Kollwitz' Plastik "Pietà", d. h. mit Hilfe einer dezidiert
christlich geprägten Ikonographie, der "Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft"
gedacht. Dabei verhindert die widmende Inschrift jegliche Differenzierung
zwischen ermordeten Juden und im Krieg gefallenen Deutschen, die postum aller
Verantwortung für den Nationalsozialismus enthoben sind.
Auch das Mahnmal für die ermordeten Juden steht vor einer aporetischen Aufgabe,
nämlich gleichzeitig der jüdischen Opfer zu gedenken und kritisch an die
deutschen Täter und die begangenen Verbrechen zu erinnern. Mit dem nach
langjährigen Diskussionen schliesslich gewählten Stelenwald des amerikanischen
Architekten Peter Eisenman und einem ergänzenden "Ort der Information" werden
symbolisch-abstraktes Gedenken und aufklärerische Information verbunden. Indem
das Mahnmal jedoch ausschliesslich den ermordeten Juden gewidmet ist, bleiben
andere Opfergruppen wie die Sinti und Roma vom zentralen Ort öffentlichen
Gedenkens ausgegrenzt.
Seit Mitte der achtziger Jahre gibt es in der Bundesrepublik immer wieder
Debatten um die Vergangenheit sowie symbolträchtige Handlungen, die das
Konfliktpotenzial zwischen disparaten Gedächtnisformen, Erinnerungsaufgaben und
Erinnerungsperspektiven deutlich machen. Exemplarisch zu nennen sind
beispielsweise der Besuch von Kohl und Reagan auf dem Soldatenfriedhof in
Bitburg 1985, der Historikerstreit, die missglückte Gedenkrede von
Bundespräsident Philipp Jenninger 1988, die Kontroversen um Goldhagens
Publikation "Hitlers willige Vollstrecker" (1996) oder um die
Wehrmachtsausstellung.
Unterschiedliche Erinnerungsperspektiven
Ruth Klügers und Martin Walsers Kindheitsdarstellungen verdeutlichen die
unterschiedlichen Erinnerungsperspektiven. Für die Autobiographik zur Shoah
ist Ruth Klügers "weiter leben. Eine Jugend" (1992) insofern innovativ, als
die Autorin hier immer wieder eine deutsche Leserschaft direkt anspricht.
"Werdet streitsüchtig", fordert Klüger gegen jede Art der wechselseitigen
Vereinnahmung. Wie Klüger in einem Interview darlegt, sei das Buch u. a. für
den befreundeten Martin Walser geschrieben. Walser ist eine literarische
Figur in Klügers Text; auf ihn verweist das Inkognito "Christoph". Während
ihrer Fahrt in einem Güterwaggon im Juni 1944 vom KZ Auschwitz zum
Zwangsarbeitslager Christianstadt beobachtet die Protagonistin ein
Ferienlager und einen Knaben, der eine Fahne schwingt. Ihren Freund
Christoph wird die Autorin später mit diesem Knaben, der den vorbeifahrenden
Zug seinerseits gesehen haben muss, in Verbindung bringen: "Für uns beide
ist es derselbe Zug, sein Zug von aussen gesehen, meiner von innen, und die
Landschaft ist für uns beide dieselbe, doch nur für die Netzhaut dieselbe,
dem Gefühl nach sehen wir zwei unvereinbare Landschaften."
Mit "Ein springender Brunnen" (1998) hat Martin Walser seine
Kindheitserinnerungen in Form eines Romans wiedergegeben. In atmosphärisch
dichten Bildern schildert der Autor die Lebenswelt seines Protagonisten
Johann. Dabei vermeidet es Walser gezielt, seine durchaus glücklichen
Erinnerungen an das nationalsozialistisch eingestellte Heimatdorf aus
heutiger Sicht moralisch zu verurteilen. Die Perspektive jüdischer
Verfolgter oder Überlebender bleibt ausgeklammert. So wehrt sich Johann
beispielsweise gegen die Angst von Frau Landmann, der einzigen im Roman
beschriebenen Jüdin: "Er wollte leben, nicht Angst haben. Frau Landmann
würde ihn mit ihrer Angst anstecken, das spürte er. Er musste wegdenken von
ihr und ihrer Angst."
In Walsers umstrittener "Rede bei der Verleihung des Friedenspreises des
Deutschen Buchhandels" (11. 10. 1998) findet sich der gleiche Gestus des
Wegdenkens. Anders als der Roman geht die kurz nach dessen Auslieferung
gehaltene Rede jedoch mit einem aggressiven Ton gegen die deutsche
Gedächtniskultur einher, in der Auschwitz als "Moralpistole" eingesetzt werde.
Gestus und Inhalt der Rede offenbaren, dass Walser die Abwehrhaltung des
einstigen Jugendlichen noch immer nicht reflektieren will. Walser spricht nun
aber als erwachsener Intellektueller in einem öffentlichen, politisch codierten
Raum und zu einem Zeitpunkt, an dem Verhandlungen über die Entschädigung
ehemaliger Zwangsarbeiter geführt werden.
Generationenwechsel
Bald liegt das Gedenken an die Opfer der
Shoah nur noch in der Verantwortung derjenigen, die die Zeit des
Nationalsozialismus nicht mehr miterlebt haben. Wie aber kann die Erinnerung an
die Shoah für die "Nachgeborenen" aussehen? Ein Blick in die Literatur jüdischer
Autoren der sogenannten zweiten Generation verdeutlicht, dass die Erinnerung für
deren Protagonisten immer noch existenziell fortwirkt. So beschreibt Esther
Dischereit in "Joëmis Tisch. Eine jüdische Geschichte" (1988) die familiäre
Übertragung traumatischer Verfolgungserfahrungen und zeigt deren Nachwirken bis
in die körperliche Intimität der nachfolgenden Generationen. Die Stimmen der
jüngeren jüdischen Autoren sind allerdings nicht einheitlich, Maxim Billers
Protagonisten beispielsweise distanzieren sich häufig auf eine ironische, ja
witzige Weise von den Erfahrungen der Elterngeneration. Auch bei nichtjüdischen
deutschen Autoren finden sich Publikationen, die - wie Bernhard Schlinks Roman
"Der Vorleser" (1995) - die Nachwirkungen der nationalsozialistischen
Vergangenheit weiterhin thematisieren.
Es wird, kann und soll auch in Zukunft kein kulturelles Gedächtnis geben,
welches die Erinnerung an die Shoah in einer uniformen und allgemein gültigen
Weise bewahrt. Die Gefahren, die in Deutschland lauern, liegen jedoch darin,
dass sich eine andere Form der "kulturellen" Erinnerung mehr und mehr Raum
schafft: Mit ihrer Fetischisierung von völkischem Gedankengut und
nationalsozialistischen Symbolen sowie antisemitischen und rassistischen Taten
halten rechtsradikale Jugendliche die Erinnerung an den Nationalsozialismus auf
ihre Weise wach.
Im Schatten der "deutschen Leitkultur"
Während des im Sommer 1986 entbrannten
Historikerstreits bemühten sich die neokonservativen Historiker und Politiker
dezidiert darum, aus dem "Schatten der Vergangenheit" herauszutreten und zu
einer "selbstbewussten Nation" zu werden. Der patriotisch orientierten
identitäts- und sinnstiftenden Vergangenheitsdeutung setzte Jürgen Habermas
damals die Idee einer pluralistischen Gesellschaft mit unterschiedlichen
Überlieferungstraditionen entgegen.
Mit seiner Forderung nach einer "deutschen Leitkultur", die für Einwanderer
verbindlich zu sein habe, hat der Fraktionschef der CDU, Friedrich Merz, im
Oktober 2000 erneut eine Debatte um Identitätsstiftung und nationale
Orientierung ausgelöst. Im Gegensatz zu den zahlreichen vorangehenden
Auseinandersetzungen blendet Merz' Konzept die nationalsozialistische
Vergangenheit gänzlich aus. Weder wird die NS-Zeit reflektiert als
erschreckendes Beispiel einer normativ aufgezwungenen Kultur, die "Andere"
ausgrenzt, noch als Epoche, die ihrerseits thematisiert werden müsste innerhalb
einer heutigen deutschen Kultur. Die deutsche Leitkultur oszilliert somit
zwischen ihrer vage bleibenden, gleichsam mythischen Vergangenheit (Beethoven,
Goethe, Schiller? "christlich-jüdisches Abendland", Aufklärung?) und einem
alltagsorientierten Gegenwartsbezug. Zwischen Gegenwart und mythischer
Vergangenheit klafft eine grosse Lücke, ein kulturelles Gedächtnis an die Shoah
oder eine jüdische Perspektive als andere ist innerhalb einer "deutschen
Leitkultur" nicht mehr vorgesehen.
1 Aleida Assmann: Gedächtnis ohne Erinnerung? Die Probleme der Deutschen mit
ihrer Geschichte. In: Stiftung Topographie des Terrors, Nr. 97, 10/2000, S.
3-13.
Die Autorin ist zurzeit Stipendiatin am
Zentrum für Literaturforschung, Berlin, und Lehrbeauftragte in den Fachbereichen
Germanistik und Jüdische Studien an der Universität Potsdam. Ihre Dissertation
"Zerstörte Kindheit. Literarische Autobiographien zur Shoah" erscheint im
Frühjahr.
Neue Zürcher Zeitung, 3. Februar 2001
haGalil onLine
01-03-2001
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