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Kulturelles Gedächtnis und Shoah:
Erinnerungskonflikte in Deutschland

Von Eva Lezzi, Universität Potsdam

Jüdische Buchhandlung Morascha - Zürich - Bücher zum Judentum, Ritualia...


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Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden hat das Vertrauen in die westliche Zivilisation nachhaltig erschüttert. Der Genozid lässt sich kaum fassen, darstellen oder gar "verarbeiten". Dennoch steht insbesondere die deutsche Gesellschaft vor der politischen Notwendigkeit und der ethischen Aufgabe, unter vielfachen Aspekten an die Shoah zu erinnern. Für ihr Selbstverständnis haben sich die beiden deutschen Staaten in unterschiedlicher Weise mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt.

Etwas vereinfachend liesse sich die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in West- und Ostdeutschland so zusammenfassen: Die Bundesrepublik übernahm mit Entschädigungszahlungen an den Staat Israel und an verfolgte jüdische Bürger eine gewisse nachträgliche Verantwortung für die Judenverfolgung. Hier wurden intensive politische und historiographische Debatten über den Holocaust geführt, während zugleich grosse Teile der NS-Eliten wichtige Funktionen in sämtlichen Bereichen des neuen Staates innehatten. In der DDR bestand die Mehrheit der Spitzenfunktionäre von Regierung und Staatspartei aus ausgewiesenen Gegnern des Nationalsozialismus, und auch in anderen Berufszweigen fanden Entlassungen und Umbesetzungen statt. Antifaschismus galt als Staatsdoktrin, bot jedoch der Bevölkerung die entlastende Gelegenheit, die je individuelle Verstrickung in das Nazi-System zu verleugnen. Eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust fand nur marginal statt, Juden galten - anders als die Kämpfer gegen den Faschismus - als zweitrangige Opfer, der Zionismus wiederum wurde politisch bekämpft.

Nach der Vereinigung stellt sich erneut die Frage, ob und in welcher Weise nationale Selbstbestimmung und die Erinnerung an Auschwitz nebeneinander bestehen können. Angesichts der zeitlichen Distanz und des Generationenwechsels ist diese Erinnerung immer ausschliesslicher auf symbolische Präsentationsformen angewiesen.

Kollektives Erinnern und Identität

Vertreter der neueren Gedächtnistheorie differenzieren zwischen individueller biographischer Erinnerung und kollektiven Gedächtnisformen wie dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis, auch wenn sich diese Modelle nicht immer vollständig auseinanderhalten lassen. Das kommunikative Gedächtnis umfasst die in der Gegenwart zirkulierenden Erinnerungen an gemeinsame Erfahrungen, während diese im kulturellen Gedächtnis auch für zukünftige Generationen symbolisch festgehalten sind. Die Erinnerung an die Shoah ist mittlerweile in Texten, Bildern, Filmen, Denkmälern, Orten des einstigen Geschehens oder Gedenkritualen bewahrt. Aleida und Jan Assmann betonen, dass dem kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft eine identitätsstiftende Funktion zukommt. Angesichts dieser Prämisse muss jedoch gefragt werden: Wie kann die Erinnerung an die Ermordung der europäischen Juden identitätskonstituierend wirken - zumal für die Täter und Mitläufer und ihre Nachkommen? Und welche Personen, welche gesellschaftliche Mechanismen legen fest, ob eine kulturelle Ausdrucksform tatsächlich kollektiv verbindliche Aussagekraft hat? Laut Aleida Assmann ist etwa Primo Levis erster autobiographischer Bericht zu Auschwitz "besonders für uns Deutsche der nachfolgenden Generationen zu einem zentralen Text unseres kulturellen Gedächtnisses geworden". 1

Die Kluft zwischen den Gedächtnissen

In ihrer Auseinandersetzung mit der Shoah sind die Deutschen auf die internationale Zeugnisliteratur jüdischer Überlebender angewiesen. Dennoch ist Levis "Ist das ein Mensch?" ebenso wie viele andere beeindruckende Berichte - u. a. von Elie Wiesel oder Jean Améry - nur einer eher kleinen intellektuellen Schicht vertraut. Hingegen sind beispielsweise Konsaliks Romane, die den Russlandfeldzug aus der Sicht deutscher Landser darstellen, millionenfach verlegt worden. Indem Assmann und zahlreiche weitere Wissenschafter dem kulturellen Gedächtnis ihres eigenen akademischen Milieus Breitenwirkung attestieren, harmonisieren sie die Kluft zwischen diesem Gedächtnis und offensichtlich anders ausgerichteten kollektiven Erinnerungsbedürfnissen. Damit vergeben sie die Chance, genau diese Kluft und die Konflikte, die hier auch in Zukunft schwelen werden, zu reflektieren.

Unter umgekehrten Vorzeichen übergeht die 1993 erfolgte Neugestaltung der in Berlin-Mitte liegenden Gedenkstätte "Neue Wache" ebenfalls die unterschiedlichen Erfahrungen und Erinnerungsperspektiven: Hier wird mit einer vergrösserten Fassung von Käthe Kollwitz' Plastik "Pietà", d. h. mit Hilfe einer dezidiert christlich geprägten Ikonographie, der "Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft" gedacht. Dabei verhindert die widmende Inschrift jegliche Differenzierung zwischen ermordeten Juden und im Krieg gefallenen Deutschen, die postum aller Verantwortung für den Nationalsozialismus enthoben sind.

Auch das Mahnmal für die ermordeten Juden steht vor einer aporetischen Aufgabe, nämlich gleichzeitig der jüdischen Opfer zu gedenken und kritisch an die deutschen Täter und die begangenen Verbrechen zu erinnern. Mit dem nach langjährigen Diskussionen schliesslich gewählten Stelenwald des amerikanischen Architekten Peter Eisenman und einem ergänzenden "Ort der Information" werden symbolisch-abstraktes Gedenken und aufklärerische Information verbunden. Indem das Mahnmal jedoch ausschliesslich den ermordeten Juden gewidmet ist, bleiben andere Opfergruppen wie die Sinti und Roma vom zentralen Ort öffentlichen Gedenkens ausgegrenzt.

Seit Mitte der achtziger Jahre gibt es in der Bundesrepublik immer wieder Debatten um die Vergangenheit sowie symbolträchtige Handlungen, die das Konfliktpotenzial zwischen disparaten Gedächtnisformen, Erinnerungsaufgaben und Erinnerungsperspektiven deutlich machen. Exemplarisch zu nennen sind beispielsweise der Besuch von Kohl und Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg 1985, der Historikerstreit, die missglückte Gedenkrede von Bundespräsident Philipp Jenninger 1988, die Kontroversen um Goldhagens Publikation "Hitlers willige Vollstrecker" (1996) oder um die Wehrmachtsausstellung.

Unterschiedliche Erinnerungsperspektiven

Ruth Klügers und Martin Walsers Kindheitsdarstellungen verdeutlichen die unterschiedlichen Erinnerungsperspektiven. Für die Autobiographik zur Shoah ist Ruth Klügers "weiter leben. Eine Jugend" (1992) insofern innovativ, als die Autorin hier immer wieder eine deutsche Leserschaft direkt anspricht. "Werdet streitsüchtig", fordert Klüger gegen jede Art der wechselseitigen Vereinnahmung. Wie Klüger in einem Interview darlegt, sei das Buch u. a. für den befreundeten Martin Walser geschrieben. Walser ist eine literarische Figur in Klügers Text; auf ihn verweist das Inkognito "Christoph". Während ihrer Fahrt in einem Güterwaggon im Juni 1944 vom KZ Auschwitz zum Zwangsarbeitslager Christianstadt beobachtet die Protagonistin ein Ferienlager und einen Knaben, der eine Fahne schwingt. Ihren Freund Christoph wird die Autorin später mit diesem Knaben, der den vorbeifahrenden Zug seinerseits gesehen haben muss, in Verbindung bringen: "Für uns beide ist es derselbe Zug, sein Zug von aussen gesehen, meiner von innen, und die Landschaft ist für uns beide dieselbe, doch nur für die Netzhaut dieselbe, dem Gefühl nach sehen wir zwei unvereinbare Landschaften."

Mit "Ein springender Brunnen" (1998) hat Martin Walser seine Kindheitserinnerungen in Form eines Romans wiedergegeben. In atmosphärisch dichten Bildern schildert der Autor die Lebenswelt seines Protagonisten Johann. Dabei vermeidet es Walser gezielt, seine durchaus glücklichen Erinnerungen an das nationalsozialistisch eingestellte Heimatdorf aus heutiger Sicht moralisch zu verurteilen. Die Perspektive jüdischer Verfolgter oder Überlebender bleibt ausgeklammert. So wehrt sich Johann beispielsweise gegen die Angst von Frau Landmann, der einzigen im Roman beschriebenen Jüdin: "Er wollte leben, nicht Angst haben. Frau Landmann würde ihn mit ihrer Angst anstecken, das spürte er. Er musste wegdenken von ihr und ihrer Angst."

In Walsers umstrittener "Rede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels" (11. 10. 1998) findet sich der gleiche Gestus des Wegdenkens. Anders als der Roman geht die kurz nach dessen Auslieferung gehaltene Rede jedoch mit einem aggressiven Ton gegen die deutsche Gedächtniskultur einher, in der Auschwitz als "Moralpistole" eingesetzt werde. Gestus und Inhalt der Rede offenbaren, dass Walser die Abwehrhaltung des einstigen Jugendlichen noch immer nicht reflektieren will. Walser spricht nun aber als erwachsener Intellektueller in einem öffentlichen, politisch codierten Raum und zu einem Zeitpunkt, an dem Verhandlungen über die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter geführt werden.

Generationenwechsel

Bald liegt das Gedenken an die Opfer der Shoah nur noch in der Verantwortung derjenigen, die die Zeit des Nationalsozialismus nicht mehr miterlebt haben. Wie aber kann die Erinnerung an die Shoah für die "Nachgeborenen" aussehen? Ein Blick in die Literatur jüdischer Autoren der sogenannten zweiten Generation verdeutlicht, dass die Erinnerung für deren Protagonisten immer noch existenziell fortwirkt. So beschreibt Esther Dischereit in "Joëmis Tisch. Eine jüdische Geschichte" (1988) die familiäre Übertragung traumatischer Verfolgungserfahrungen und zeigt deren Nachwirken bis in die körperliche Intimität der nachfolgenden Generationen. Die Stimmen der jüngeren jüdischen Autoren sind allerdings nicht einheitlich, Maxim Billers Protagonisten beispielsweise distanzieren sich häufig auf eine ironische, ja witzige Weise von den Erfahrungen der Elterngeneration. Auch bei nichtjüdischen deutschen Autoren finden sich Publikationen, die - wie Bernhard Schlinks Roman "Der Vorleser" (1995) - die Nachwirkungen der nationalsozialistischen Vergangenheit weiterhin thematisieren.

Es wird, kann und soll auch in Zukunft kein kulturelles Gedächtnis geben, welches die Erinnerung an die Shoah in einer uniformen und allgemein gültigen Weise bewahrt. Die Gefahren, die in Deutschland lauern, liegen jedoch darin, dass sich eine andere Form der "kulturellen" Erinnerung mehr und mehr Raum schafft: Mit ihrer Fetischisierung von völkischem Gedankengut und nationalsozialistischen Symbolen sowie antisemitischen und rassistischen Taten halten rechtsradikale Jugendliche die Erinnerung an den Nationalsozialismus auf ihre Weise wach.

Im Schatten der "deutschen Leitkultur"

Während des im Sommer 1986 entbrannten Historikerstreits bemühten sich die neokonservativen Historiker und Politiker dezidiert darum, aus dem "Schatten der Vergangenheit" herauszutreten und zu einer "selbstbewussten Nation" zu werden. Der patriotisch orientierten identitäts- und sinnstiftenden Vergangenheitsdeutung setzte Jürgen Habermas damals die Idee einer pluralistischen Gesellschaft mit unterschiedlichen Überlieferungstraditionen entgegen.

Mit seiner Forderung nach einer "deutschen Leitkultur", die für Einwanderer verbindlich zu sein habe, hat der Fraktionschef der CDU, Friedrich Merz, im Oktober 2000 erneut eine Debatte um Identitätsstiftung und nationale Orientierung ausgelöst. Im Gegensatz zu den zahlreichen vorangehenden Auseinandersetzungen blendet Merz' Konzept die nationalsozialistische Vergangenheit gänzlich aus. Weder wird die NS-Zeit reflektiert als erschreckendes Beispiel einer normativ aufgezwungenen Kultur, die "Andere" ausgrenzt, noch als Epoche, die ihrerseits thematisiert werden müsste innerhalb einer heutigen deutschen Kultur. Die deutsche Leitkultur oszilliert somit zwischen ihrer vage bleibenden, gleichsam mythischen Vergangenheit (Beethoven, Goethe, Schiller? "christlich-jüdisches Abendland", Aufklärung?) und einem alltagsorientierten Gegenwartsbezug. Zwischen Gegenwart und mythischer Vergangenheit klafft eine grosse Lücke, ein kulturelles Gedächtnis an die Shoah oder eine jüdische Perspektive als andere ist innerhalb einer "deutschen Leitkultur" nicht mehr vorgesehen.

1 Aleida Assmann: Gedächtnis ohne Erinnerung? Die Probleme der Deutschen mit ihrer Geschichte. In: Stiftung Topographie des Terrors, Nr. 97, 10/2000, S. 3-13.

Die Autorin ist zurzeit Stipendiatin am Zentrum für Literaturforschung, Berlin, und Lehrbeauftragte in den Fachbereichen Germanistik und Jüdische Studien an der Universität Potsdam. Ihre Dissertation "Zerstörte Kindheit. Literarische Autobiographien zur Shoah" erscheint im Frühjahr.

Neue Zürcher Zeitung, 3. Februar 2001

haGalil onLine 01-03-2001

 

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