Zu gross angelegten Geschichtsentwürfen gehört eine Art historiographischer
Chuzpe, die Unverfrorenheit nämlich, die Komplexität geschichtlicher Daten
und Ereignisse auf (phänomenologisch) vereinfachende Muster zu reduzieren
und (historisch) linearisierende Zusammenhänge herzustellen, mit einem Wort:
eine historische Totalansicht zu entwerfen.
Solche Entwürfe sind zweifellos - gerade dank ihren erheblichen Vereinfachungen
- auch "nützlich" und vor allem für eine erste Information hilfreich. Ob sie
aber einen mehr als einführenden oder populärwissenschaftlichen Wert haben,
erweist sich daran, wie mit derprekären Simplifizierung umgegangen wird. Darin
liegt die eigentliche Kunst der Universalgeschichte.
Die "Illustrierte Geschichte des Judentums", herausgegeben von dem Cambridger
Historiker Nicholas de Lange, leistet hierzu - auf nicht sparsam bebilderten 450
Seiten - einiges an Überzeugungsarbeit, was angesichts des
unbescheidenenAnspruchs gewiss nötig ist: Die Darstellung "versucht, die
kontinuierliche Geschichte des jüdischen Volkes von den fern liegenden
Ursprüngen bis hin zu unserer Zeit nachzuzeichnen". Zwar wird dabei zuweilen mit
Gemeinplätzen operiert, so etwa in dem einleitenden Satz: "Die Juden waren stets
ein Volk auf Wanderschaft." Bedenken mag auch der Anspruch hervorrufen: "Die
Aufgabe des Historikers ist es, die Dauer inmitten des Wandels ausfindig zu
machen." Dennoch haben de Lange und seine acht Mitarbeiter - namhafte Historiker
aus den USA, England und Israel - einige Vorkehrungen getroffen, um
historiographische Naivitäten zu vermeiden.
Dazu zählt zunächst die Einsicht, dass eine "chronologische Aufzeichnung aller
Ereignisse" nicht möglich ist, sondern nur die Darstellung einiger "sorgfältig
ausgewählter Schlüsselaspekte". Getragen ist diese Auswahl von der Erkenntnis,
dass Geschichtsschreibung stets eine Interpretation und Neuerfindung durch eine
bestimmte Generation ist: "Die Geschichte des jüdischen Volkes wird ständig neu-
und umgeschrieben." Dann freilich stellt sich die Frage, welches denn die
erkenntnisleitende Perspektive dieser Neuformulierung jüdischer Geschichte ist,
geschrieben von vorwiegend anglo-amerikanischen Historikern und veröffentlicht
zuerst 1997 in Toronto.
Bestimmend, so wird deutlich, ist das Bewusstsein jener Katastrophe, die - mit
Blick u. a. auf die Zerstörung des Tempels in Jerusalem 70 n. Chr. und die
Vertreibung der Juden aus Spanien 1492 - zwar nicht die einzige, wohl aber die
gravierendste in der Geschichte der Juden war: der Holocaust. Die schwerwiegende
Konsequenz daraus nämlich ist die Unmöglichkeit jeder heilsgeschichtlichen oder
auch nur säkular fortschrittsoptimistischen Sinngebung der Geschichte: Esgibt
für die Juden keinen Sinn in dieser Katastrophe.
Während die grossen Entwürfe jüdischer Geschichte im 19. Jahrhundert
entweder ältere Geschichtstheologien erneuerten (z. B. Samson Raphael
Hirsch) oder aber in der Säkularisierung und Modernisierung des Judentums
den Sinn jüdischer Geschichte sahen (z. B. Heinrich Graetz), kann am Ende
des 20. Jahrhunderts weder Theologie noch Fortschrittsoptimismus ein Konzept
jüdischer Geschichte sein; es bleibt nur die Einsicht einer Negativität:
"Auf jeden Fall hat sich die Geschichtsschreibung von der Theologie
geschieden."
Die zweite historiographische
Voraussetzung ist die Perspektive der Diaspora. Die Geschichtsschreibung in
Israel - um den Unterschied zu zeigen - befindet sich seit einiger Zeit in einem
geradezu ödipalen Generationenkonflikt zwischenden älteren zionistischen
Ideologisierungen jüdischer Geschichte und einer postzionistischenDistanzierung
davon. Bei de Lange hingegen erscheint die Gründung des Staates Israel
unverfänglich als "Gegengift gegen die Verzweiflung nach dem Holocaust", vor
allem aber: Israel bleibt eingebettet in den grösseren Horizont eben jener
Diaspora, die eingangs mit der Formel "die Juden waren stets ein Volk auf
Wanderschaft" beschrieben wurde.
Dies aber bedeutet nicht weniger, als dass es eine isolierte "jüdische
Geschichte" gar nicht gibt, dass diese vielmehr erst in der
Auseinandersetzung - produktiver, aber auch verletzender Art - mit anderen
Kulturen und Völkern erkennbar wird. "Jüdische Geschichte" resultiert
folglich aus der Beobachtung der Möglichkeiten und Grenzen "kultureller
Kompromissfähigkeiten"; sie ist immer schon die Geschichtevon "Beziehungen
zwischen Juden und Nichtjuden", so de Lange in der Einleitung.
Diese Optik der Diaspora leitet folgerichtig die Auswahl der acht
"Schlüsselaspekte", unter denen die "Geschichte der Juden" erzählt wird. Als
eigentlicher Anfang jüdischer Geschichte nämlich wird hier nicht ein mehr oder
weniger historisches oder mythisches Königreich gesetzt, sondern vielmehr eine
Diaspora: "Genau genommen begann die jüdische Geschichte erst nach der
Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier im Jahre 586 v. u. Z.", so Seth
Schwartz in seinem Kapitel über "Die Ursprünge". Diesen Anfang bestätigt das
zweite Kapitel aus "Die Entstehung der Diaspora" von Oded Irshai: Es beginnt
nochmals mit der babylonischen Gefangenschaft.
Die folgenden Kapitel entwickeln diese
Perspektive weiter: Sie thematisieren das Verhältnis im Mittelalter zwischen
"Kirche und Synagoge" auf der einen (Ora Limor) und der jüdischen und der
islamischen Kultur auf der anderen Seite (Jane S. Gerber), die Integration in
die moderne Welt seit der frühen Neuzeit (David Sorkin) und die Shoah als
"schwärzeste Stunde" in der Geschichte der Juden unter den Völkern (Michael R.
Marrus). Bezeichnend ist
schliesslich auch, dass die "Illustrierte Geschichte des Judentums" nicht
mit dem Zionismus und dem Staat Israel endet. Die "freie Nation im eigenen
Lande", so die israelische Nationalhymne Hatikwa, erscheint bloss als eine
Möglichkeit jüdischer Moderne. Die jüdische Diaspora - dies zeichnet sich
fünfzig Jahre nach dem Holocaust sogar für Deutschland ab - ist fortsetzbar,
erneuerbar (Bernard Wasserstein).
Mehr noch: Vielleicht kann sie dem
aktuellen Zionismus vor Augen halten, dass jüdische Geschichte immer schon
Auseinandersetzung und Austausch mit nichtjüdischen Nachbarn bedeutete.
Neue Zürcher Zeitung, 6. März 2001
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08-03-2001
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