|
|
|
|
|
|
Wie erinnern? Zur Beantwortung dieser Frage habe ich Neues gelesen und früher
Gelesenes wieder gelesen. Jetzt stelle ich fest: an das meiste davon erinnere
ich mich nicht mehr. Ist das bedauerlich? Nur bedingt, denn wenn es für das
Thema wirklich von Bedeutung gewesen wäre, hätte ich es vermutlich nicht so
schnell vergessen.
In Erinnerung ist mir allerdings
Montaignes Klage über sein schlechtes Gedächtnis geblieben. Nicht, dass er sich
dessen rühmen würde, nein, aber allzu groß ist sein Bedauern nicht über die von
ihm eingestandene Gedächtnisschwäche. Ihre Vorzüge sieht er vor allem in seinen
notwendigerweise kurz gehaltenen Reden, im Umstand, sich viel Überflüssiges gar
nicht erst merken zu müssen und erlittene Kränkungen schnell zu vergessen.
Außerdem, so Montaigne, "lachen mich nun
die mir entfallenen Orte und Bücher, wenn ich ihnen wieder begegne, stets mit
der Frische des völlig Neuen an". Diese Gelassenheit kann der Autor der
berühmten, im 16.Jahrhundert verfassten "Essais" an den Tag legen, weil er weiß,
"dass ein ausgezeichnetes Gedächtnis oft mit schwachem Urteilsvermögen Hand in
Hand geht". Und so legt er größeren Wert auf Verstand als auf Buchwissen, denn
es ist nicht das Gedächtnis, sondern der Verstand, der aus allem Nutzen zieht.
Ähnlich argumentiert Friedrich Nietzsche
in seiner Abhandlung "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben". Wie
Montaigne verpönt auch er Faktenwissen und Gelehrsamkeit, wenn sie nicht im
Dienste einer kritischen, dem Leben zugewandten Geschichtsbetrachtung stehen.
Alles, war von diesem Ziel fortführt, darf dem Vergessen anheimfallen. Wie also
erinnern?
An Montaigne und Nietzsche geschult
lautet eine erste Antwort darauf: kritisch gegenüber dem Gegenstand der
Erinnerung. Dies gilt, in Anlehnung an Nietzsche, ebenso gegenüber der
Geschichtsschreibung, die zwar nicht identisch mit Erinnerung ist, sich aber in
Teilbereichen mit ihr überschneidet. Historiografie versucht Ereignisse der
Geschichte, die schriftlichen und mündlichen Erinnerungen an sie, möglichst
objektiv zu ermitteln, aufzuzeichnen und weiterzugeben. Bei allem Bemühen um
Objektivität: Geschichtsschreibung kann nicht gänzlich frei bleiben von der
subjektiven Perspektive derer, die historische Fakten in ausgewählte
Zusammenhänge von Ursache und Wirkung stellen.
Doch trotz solcher Einwände gegen eine
gänzliche objektivierbare Historiografie: In den meisten Fällen lassen sich,
zumal im Bereich der neueren Geschichte, Tatsachenbehauptungen überprüfen und
fragwürdigen Geschichtsbetrachtungen stets plausiblere entgegensetzen.
Diese "objektivierende" Überprüfbarkeit
unterscheidet Geschichtsschreibung grundsätzlich von Erinnerung. Letztere ist
vor allem gekennzeichnet durch ihre Bindung an einzelne Menschen, an deren
jeweils unterschiedlich ausgeprägte Fähigkeit, sich an Erlebtes, Erzähltes,
Gelesenes, an eigene Träume und Phantasien zu erinnern. Erinnerungen sind keine
"neutral" gespeicherten Informationen, sondern an positive oder negative Gefühle
gebundene Bilder und Gedächtnisinhalte. Diese affektive Einfärbung allein
kennzeichnet Erinnerung als subjektives Phänomen. Auch wenn mehrere Menschen zur
selben Zeit am gleichen Ort Zeugen desselben Ereignisses sind, werden im besten
Fall deren Beschreibungen der äußeren Abläufe einigermaßen übereinstimmen, die
Bindung des jeweiligen Affektes an die Erinnerung dieses Ereignisses aber bleibt
individuell und erhält damit für jeden einzelnen Beteiligten unterschiedliche
Erinnerungsbedeutung.
Neben dieser subjektiven Qualität kommt
Erinnerung noch eine zielgerichtete und zweckbestimmte zu. Erinnerung dient
nicht nur praktischer Notwendigkeit; sie erfüllt gleichzeitig Bedürfnisse nach
Legitimation, weil sie im Dienste des jeweiligen Menschen zur Aufrechterhaltung
seines Selbstwertgefühls und der idealisierenden Selbstwahrnehmung seiner
eigenen Biografie steht. Und sofern notwendig, wandelt unser
Legitimationsbedürfnis für uns unpassende Erinnerungen in "passende" um.
Heroisierung oder Wahrheit
Im Rahmen des Forschungsprojektes
"Tradierung von Geschichtsbewusstsein" ist der an der Universität Hannover
lehrende Sozialpsychologe Harald Welzer der Frage nachgegangen, was "ganz
normale" Deutsche aus der NS-Vergangenheit erinnern, wie sie darüber sprechen
und was durch Familienkommunikation an die Kinder- und Enkelgenerationen
weitergegeben wird. In 40 Familiengesprächen und 142 Interviews stellte sich
unter anderem heraus, dass in Familien andere Bilder und Vorstellungen von der
nationalsozialistischen Vergangenheit vermittelt werden, als in der Schule oder
in den Medien. Die Kinder und Enkelkinder nutzten jeden noch so entlegenen
Hinweis in den Familienerzählungen auf gute Taten ihrer Eltern oder Großeltern,
um Versionen der Vergangenheit mit ihnen als gute Menschen zu erfinden.
Welzer nennt den Vorgang, in dem aus
antisemitischen Eltern und Großeltern Widerstandskämpfer werden, "kumulative
Heroisierung". Und weil gerade gut informierte Angehörige der Enkelgeneration
das Bedürfnis haben, dem eigenen Großvater oder der Großmutter jeweils die Rolle
der anderen, der guten Deutschen im nationalsozialistischen Alltag zuzuweisen,
zeigt sich hier nach Welzers Auffassung eine paradoxe Folge der gelungenen
Aufklärung über die nationalsozialistische Vergangenheit: "Je umfassender das
Wissen über Kriegsverbrechen, Verfolgung und Vernichtung ist, desto stärker
fordern die familialen Loyalitätsverpflichtungen, Geschichten zu entwickeln, die
beides zu vereinbaren erlauben - die Verbrechen ,der Nazis' oder ,der Deutschen'
und die moralische Integrität der Eltern oder Großeltern. "
Dabei liegt die nichthinterfragte
Anziehungskraft der familiären Vergangenheitsvermittlung in ihrer Beiläufigkeit.
Dies, so Harald Welzer, besitze etwas Zwingendes: "Die Bilder und Vorstellungen,
die dabei transportiert werden, erzeugen Gewissheit, nicht Wissen, und
Gewissheit ist Kritik gegenüber viel resistenter als ein Wissen, das eben auch
hinterfragt und korrigiert werden kann. "
Wie also erinnern? In erneuter Anlehnung
an Montaigne und Nietzsche lautete eine weitere Antwort: Nicht nur kritisch
gegenüber dem Gegenstand der Erinnerung, sondern auch kritische Distanz zu den
Legitimationsbedürfnissen der eigenen Erinnerung und gegebenenfalls auch zu
denen der eigenen Familie. Eine solche Einstellung kann zu handlungsorientierten
Fragen führen wie: Was wurde in der eigenen Familie über die Zeit zwischen 1933
und 1945 erzählt? Von welchen Rechtfertigungsabsichten wurden die Großeltern
oder Eltern dabei möglicherweise geleitet? War man vielleicht selbst unwissend
Teil eines idealisierenden Erinnerungssystems gewesen?
Werden "objektive" Geschichtsereignisse
Teil des nach dem Legitimationsprinzip arbeitenden Erinnerungsapparates,
unterliegen sie ebenso gefühlsmäßiger Einfärbung und selektiver Wahrnehmung wie
Erinnerung selbst. Ist dies bei aller Gefahr, die dahintersteckt, grundsätzlich
und in allen Fällen abzulehnen? Wer sich mit dem nationalsozialistischen
Jahrhundertverbrechen und dessen bis heute spürbaren Nachwirkungen beschäftigt,
kommt nicht umhin, sich die Frage zu stellen: Mitfühlen und partielle
Identifikation mit den Opfern oder Wahrung kritischer Distanz zum Gegenstand der
Geschichtsschreibung?
Während der Debatte um die Errichtung des
"Denkmals für die ermordeten Juden Europas" wurde deutlich: Der
nationalsozialistische Massenmord an den Juden - und hier insbesondere an den
deutschen Juden - wird von den meisten Deutschen so empfunden, als sei er "nur"
an Fremden verübt worden. Das Gefühl einer zivilisatorischen und kulturellen
Selbstamputation würde aber voraussetzen, diese Menschen als Angehörige des
eigenen Volkes, als Deutsche zu betrachten - nicht nur verbal als "jüdische
Deutsche" oder "deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens", sondern schlicht als
Deutsche, die so "jüdisch" sind, wie die Mehrheit der Deutschen evangelisch,
katholische oder atheistisch ist.
Dieser identifikatorische Akt geht über
bloß verstandesmäßiges Erfassen hinaus und beinhaltet eine affektive Annäherung
an dieses schwierige Thema als Voraussetzung für Empfindungen wie Trauer oder
Verlust. Hier wird deutlich: Wo man selbst in eine Geschichte wie die des
Nationalsozialismus und seiner Folgen eingebunden ist, lassen sich Erinnerung
und Historiografie, Gefühl und Verstand nicht eindeutig voneinander trennen.
Stets gehen sie eine Verbindung ein, in der es nur schwer zu einem dauerhaften
Gleichgewicht zwischen gefühlsgeleiteter Erinnerung und distanzierender
Geschichtsbetrachtung kommen kann.
Wenn wir akzeptieren, dass es weder eine
bequeme Abkürzung noch einen erlösenden Königsweg zu einer Erinnerung als
verlässlichen Träger historischer Inhalte und geschichtlicher Lehren gibt,
werden wir auf dem Weg zur Beantwortung der Eingangsfrage sein. Und je mehr wir
dabei über Geschichte und deren Reproduktion in unsere Erinnerung wissen, desto
erfolgreicher können wir unsere Erinnerung von eigenen Legitimationsbedürfnissen
freihalten.
Rede am 25. Januar zur Veranstaltung
"Zeitfragen: Zum 27. Januar - Tag des Gedenkens an die Opfer des
Nationalsozialismus" in der Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin .
Salomon Korn ist
Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt und Präsidiumsmitglied des
Zentralrates der Juden in Deutschland.
haGalil onLine
30-01-2001
|