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SZ vom 26.01.2001, Feuilleton

Schlicht als Deutsche
Erinnern an den Holocaust bedeutet, ein Gefühl für die 
zivilisatorische Selbstamputation dieses Landes zu haben

Von Salomon Korn

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Wie erinnern? Zur Beantwortung dieser Frage habe ich Neues gelesen und früher Gelesenes wieder gelesen. Jetzt stelle ich fest: an das meiste davon erinnere ich mich nicht mehr. Ist das bedauerlich? Nur bedingt, denn wenn es für das Thema wirklich von Bedeutung gewesen wäre, hätte ich es vermutlich nicht so schnell vergessen. 

In Erinnerung ist mir allerdings Montaignes Klage über sein schlechtes Gedächtnis geblieben. Nicht, dass er sich dessen rühmen würde, nein, aber allzu groß ist sein Bedauern nicht über die von ihm eingestandene Gedächtnisschwäche. Ihre Vorzüge sieht er vor allem in seinen notwendigerweise kurz gehaltenen Reden, im Umstand, sich viel Überflüssiges gar nicht erst merken zu müssen und erlittene Kränkungen schnell zu vergessen.

Außerdem, so Montaigne, "lachen mich nun die mir entfallenen Orte und Bücher, wenn ich ihnen wieder begegne, stets mit der Frische des völlig Neuen an". Diese Gelassenheit kann der Autor der berühmten, im 16.Jahrhundert verfassten "Essais" an den Tag legen, weil er weiß, "dass ein ausgezeichnetes Gedächtnis oft mit schwachem Urteilsvermögen Hand in Hand geht". Und so legt er größeren Wert auf Verstand als auf Buchwissen, denn es ist nicht das Gedächtnis, sondern der Verstand, der aus allem Nutzen zieht.

Ähnlich argumentiert Friedrich Nietzsche in seiner Abhandlung "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben". Wie Montaigne verpönt auch er Faktenwissen und Gelehrsamkeit, wenn sie nicht im Dienste einer kritischen, dem Leben zugewandten Geschichtsbetrachtung stehen. Alles, war von diesem Ziel fortführt, darf dem Vergessen anheimfallen. Wie also erinnern?

An Montaigne und Nietzsche geschult lautet eine erste Antwort darauf: kritisch gegenüber dem Gegenstand der Erinnerung. Dies gilt, in Anlehnung an Nietzsche, ebenso gegenüber der Geschichtsschreibung, die zwar nicht identisch mit Erinnerung ist, sich aber in Teilbereichen mit ihr überschneidet. Historiografie versucht Ereignisse der Geschichte, die schriftlichen und mündlichen Erinnerungen an sie, möglichst objektiv zu ermitteln, aufzuzeichnen und weiterzugeben. Bei allem Bemühen um Objektivität: Geschichtsschreibung kann nicht gänzlich frei bleiben von der subjektiven Perspektive derer, die historische Fakten in ausgewählte Zusammenhänge von Ursache und Wirkung stellen.

Doch trotz solcher Einwände gegen eine gänzliche objektivierbare Historiografie: In den meisten Fällen lassen sich, zumal im Bereich der neueren Geschichte, Tatsachenbehauptungen überprüfen und fragwürdigen Geschichtsbetrachtungen stets plausiblere entgegensetzen.

Diese "objektivierende" Überprüfbarkeit unterscheidet Geschichtsschreibung grundsätzlich von Erinnerung. Letztere ist vor allem gekennzeichnet durch ihre Bindung an einzelne Menschen, an deren jeweils unterschiedlich ausgeprägte Fähigkeit, sich an Erlebtes, Erzähltes, Gelesenes, an eigene Träume und Phantasien zu erinnern. Erinnerungen sind keine "neutral" gespeicherten Informationen, sondern an positive oder negative Gefühle gebundene Bilder und Gedächtnisinhalte. Diese affektive Einfärbung allein kennzeichnet Erinnerung als subjektives Phänomen. Auch wenn mehrere Menschen zur selben Zeit am gleichen Ort Zeugen desselben Ereignisses sind, werden im besten Fall deren Beschreibungen der äußeren Abläufe einigermaßen übereinstimmen, die Bindung des jeweiligen Affektes an die Erinnerung dieses Ereignisses aber bleibt individuell und erhält damit für jeden einzelnen Beteiligten unterschiedliche Erinnerungsbedeutung.

Neben dieser subjektiven Qualität kommt Erinnerung noch eine zielgerichtete und zweckbestimmte zu. Erinnerung dient nicht nur praktischer Notwendigkeit; sie erfüllt gleichzeitig Bedürfnisse nach Legitimation, weil sie im Dienste des jeweiligen Menschen zur Aufrechterhaltung seines Selbstwertgefühls und der idealisierenden Selbstwahrnehmung seiner eigenen Biografie steht. Und sofern notwendig, wandelt unser Legitimationsbedürfnis für uns unpassende Erinnerungen in "passende" um.

Heroisierung oder Wahrheit

Im Rahmen des Forschungsprojektes "Tradierung von Geschichtsbewusstsein" ist der an der Universität Hannover lehrende Sozialpsychologe Harald Welzer der Frage nachgegangen, was "ganz normale" Deutsche aus der NS-Vergangenheit erinnern, wie sie darüber sprechen und was durch Familienkommunikation an die Kinder- und Enkelgenerationen weitergegeben wird. In 40 Familiengesprächen und 142 Interviews stellte sich unter anderem heraus, dass in Familien andere Bilder und Vorstellungen von der nationalsozialistischen Vergangenheit vermittelt werden, als in der Schule oder in den Medien. Die Kinder und Enkelkinder nutzten jeden noch so entlegenen Hinweis in den Familienerzählungen auf gute Taten ihrer Eltern oder Großeltern, um Versionen der Vergangenheit mit ihnen als gute Menschen zu erfinden.

Welzer nennt den Vorgang, in dem aus antisemitischen Eltern und Großeltern Widerstandskämpfer werden, "kumulative Heroisierung". Und weil gerade gut informierte Angehörige der Enkelgeneration das Bedürfnis haben, dem eigenen Großvater oder der Großmutter jeweils die Rolle der anderen, der guten Deutschen im nationalsozialistischen Alltag zuzuweisen, zeigt sich hier nach Welzers Auffassung eine paradoxe Folge der gelungenen Aufklärung über die nationalsozialistische Vergangenheit: "Je umfassender das Wissen über Kriegsverbrechen, Verfolgung und Vernichtung ist, desto stärker fordern die familialen Loyalitätsverpflichtungen, Geschichten zu entwickeln, die beides zu vereinbaren erlauben - die Verbrechen ,der Nazis' oder ,der Deutschen' und die moralische Integrität der Eltern oder Großeltern. "

Dabei liegt die nichthinterfragte Anziehungskraft der familiären Vergangenheitsvermittlung in ihrer Beiläufigkeit. Dies, so Harald Welzer, besitze etwas Zwingendes: "Die Bilder und Vorstellungen, die dabei transportiert werden, erzeugen Gewissheit, nicht Wissen, und Gewissheit ist Kritik gegenüber viel resistenter als ein Wissen, das eben auch hinterfragt und korrigiert werden kann. "

Wie also erinnern? In erneuter Anlehnung an Montaigne und Nietzsche lautete eine weitere Antwort: Nicht nur kritisch gegenüber dem Gegenstand der Erinnerung, sondern auch kritische Distanz zu den Legitimationsbedürfnissen der eigenen Erinnerung und gegebenenfalls auch zu denen der eigenen Familie. Eine solche Einstellung kann zu handlungsorientierten Fragen führen wie: Was wurde in der eigenen Familie über die Zeit zwischen 1933 und 1945 erzählt? Von welchen Rechtfertigungsabsichten wurden die Großeltern oder Eltern dabei möglicherweise geleitet? War man vielleicht selbst unwissend Teil eines idealisierenden Erinnerungssystems gewesen?

Werden "objektive" Geschichtsereignisse Teil des nach dem Legitimationsprinzip arbeitenden Erinnerungsapparates, unterliegen sie ebenso gefühlsmäßiger Einfärbung und selektiver Wahrnehmung wie Erinnerung selbst. Ist dies bei aller Gefahr, die dahintersteckt, grundsätzlich und in allen Fällen abzulehnen? Wer sich mit dem nationalsozialistischen Jahrhundertverbrechen und dessen bis heute spürbaren Nachwirkungen beschäftigt, kommt nicht umhin, sich die Frage zu stellen: Mitfühlen und partielle Identifikation mit den Opfern oder Wahrung kritischer Distanz zum Gegenstand der Geschichtsschreibung?

Während der Debatte um die Errichtung des "Denkmals für die ermordeten Juden Europas" wurde deutlich: Der nationalsozialistische Massenmord an den Juden - und hier insbesondere an den deutschen Juden - wird von den meisten Deutschen so empfunden, als sei er "nur" an Fremden verübt worden. Das Gefühl einer zivilisatorischen und kulturellen Selbstamputation würde aber voraussetzen, diese Menschen als Angehörige des eigenen Volkes, als Deutsche zu betrachten - nicht nur verbal als "jüdische Deutsche" oder "deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens", sondern schlicht als Deutsche, die so "jüdisch" sind, wie die Mehrheit der Deutschen evangelisch, katholische oder atheistisch ist.

Dieser identifikatorische Akt geht über bloß verstandesmäßiges Erfassen hinaus und beinhaltet eine affektive Annäherung an dieses schwierige Thema als Voraussetzung für Empfindungen wie Trauer oder Verlust. Hier wird deutlich: Wo man selbst in eine Geschichte wie die des Nationalsozialismus und seiner Folgen eingebunden ist, lassen sich Erinnerung und Historiografie, Gefühl und Verstand nicht eindeutig voneinander trennen. Stets gehen sie eine Verbindung ein, in der es nur schwer zu einem dauerhaften Gleichgewicht zwischen gefühlsgeleiteter Erinnerung und distanzierender Geschichtsbetrachtung kommen kann.

Wenn wir akzeptieren, dass es weder eine bequeme Abkürzung noch einen erlösenden Königsweg zu einer Erinnerung als verlässlichen Träger historischer Inhalte und geschichtlicher Lehren gibt, werden wir auf dem Weg zur Beantwortung der Eingangsfrage sein. Und je mehr wir dabei über Geschichte und deren Reproduktion in unsere Erinnerung wissen, desto erfolgreicher können wir unsere Erinnerung von eigenen Legitimationsbedürfnissen freihalten.

Rede am 25. Januar zur Veranstaltung "Zeitfragen: Zum 27. Januar - Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus" in der Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin .

Salomon Korn ist Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt und Präsidiumsmitglied des Zentralrates der Juden in Deutschland.

haGalil onLine 30-01-2001

 

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