SZ vom
09.01.2001
Reise in die
Vergangenheit:
Prior des Klosters Ettal
besucht
einstige Fremdarbeiterin
Von Matthias
Drobinski
Auf dem Weg durchs verschneite Polen befiel Pater Maurus Kraß die Angst. Was
würde Theresa Majewska sagen? Was sollte er ihr sagen, jener Frau, die als
neunjähriges Mädchen mit ihrer Familie nach Deutschland verschleppt wurde,
wo sie Zwangsarbeit leisten musste, zuletzt im oberbayerischen
Benediktiner-Kloster Ettal?
Ihr Auftritt in einem Beitrag der
Monitor-Redaktion des WDR hatte die Legende zerstört, dass es in der
katholischen Kirche keine Zwangs- und Fremdarbeiter gegeben habe. Pater Maurus
hatte über den Suchdienst der Münchner Caritas Kontakt zu der Frau aufgenommen,
sie hatte einem Treffen am 30. Dezember zugestimmt. Ein mutiger Schritt – Ettal
ist das erste Kloster, das direkten Kontakt zu ehemaligen Zwangsarbeitern
aufgenommen hat.
Sollte der Prior des Klosters einfach "Entschuldigung" sagen und ihr den
Umschlag mit den 2500 Mark in die Hand drücken, die zweite Hälfte jener 5000
Mark, die das Kloster jedem seiner ehemaligen Fremdarbeiter zahlen will, der
sich noch finden lässt? Würde er mit Not oder gar Misshandlung konfrontiert
werden, begangen von Ordensbrüdern? Die Begegnung mit der Vergangenheit war dann
viel entspannter als befürchtet. Theresa Majewska ist eine lebensfrohe,
65-jährige Frau, die sich über den Besuch – zwei Ordensbrüder und eine
befreundete polnische Familie zum Übersetzen – ebenso freute wie über das Geld
und den Klosterlikör. "Die Deutschen haben uns viel Leid angetan", sagte sie,
"die Benediktiner aber nicht."
1944 war es, als uniformierte Deutsche in Judrkòw, 120 Kilometer nordöstlich von
Breslau, an die Tür der Familie Solecki hämmerten. Theresa weiß nicht mehr, ob
es Wehrmachts-Soldaten oder SS-Männer waren. Die Eltern und die zwei Kinder
packten hastig einige Kleider und einen Sack voll Brot, dann ging es zu einer
Sammelstelle nach Lodz. Die einen sortierten die Deutschen auf die linke, die
anderen auf die rechte Seite – was mit letzteren geschah, erfuhr das Mädchen
nie. Die als arbeitsfähig Selektierten mussten sich ausziehen, duschen, wurden
mit Desinfektionsmittel besprüht – ein entwürdigender Vorgang. Im Personenzug
wurden sie nach Dachau gebracht, wo es neben dem KZ ein Arbeitslager gab. Drei
Wochen blieb die Familie dort, jeden Morgen rückten die Eltern zur Feldarbeit
aus, und jeden Tag fürchteten die Kinder, sie nicht mehr wieder zu sehen, wie
bei anderen Kindern geschehen.
Da erschien die Arbeit im Kloster als Erlösung. Die Familie wurde in einem
Zimmer der Klosterökonomie untergebracht; der Vater arbeitete in der
Landwirtschaft, der damals 14-jährige Bruder in der Bäckerei, die Mutter in der
Küche, wo auch die Tochter half, eine schwere Arbeit, aber man war zusammen,
hatte genug zu Essen, freundete sich mit den anderen Fremdarbeitern und
Schwestern an. Ja, es war ein Unrecht, die Familie zu verschleppen, sagte
Theresa Majewska Pater Maurus, aber Bitterkeit sei nicht geblieben. Im
Gegenteil, 1945 fiel der Abschied schwer – nach einer dreimonatigen Odyssee fand
die Familie die Wohnung in Polen von russischen Soldaten geplündert. Bis in die
50er Jahre schrieben sich die Soleckis und die Ordensleute Briefe.
Ein erträgliches Leben in unerträglicher Zeit. "Wir wissen, dass wir nichts
wieder gut machen können", sagt Pater Maurus, "aber einer der ehemaligen
Fremdarbeiter hat für uns ein Gesicht bekommen." Das Kloster will weiter
forschen, nach einem Polen, einem Russen, einem Ukrainer, von denen man hofft,
dass sie noch leben. Eine schwierige Aufgabe, die Ortsangaben in den Unterlagen
sind teilweise falsch, die Behörden nicht immer willig. Für einen kamen die
Erkundigungen schon zu spät. Ignace Solecki, der ältere Bruder von Theresa,
starb 1995.
haGalil onLine
10-01-2001
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