...nicht die Juden werden dieses Mal
Deutschland verlassen,
sondern die, die es nicht ertragen können, dass es jüdisches
Leben in Deutschland gibt...
"Ich bin so sorgenvoll wie nie"
Interview mit
Michel Friedman
BASCHA MIKA und JÖRG HAFKEMEYER
taz: Zum wiederholten Mal in diesem Jahr gab es einen Brandanschlag auf
eine Synagoge. Fast jeden Tag werden Gräber und Gedenkstätten geschändet.
Leben Sie noch gern in diesem Land, Herr Friedman?
Michel Friedman: In den 80er-Jahren wusste ich, das dies mein Land
ist. In den 90ern war diese Überzeugung immer noch stärker als mein
Zweifel. Der Zweifel ist gewachsen. Ich bin so sorgenvoll, so
skeptisch wie noch nie, seit ich in Deutschland bin. Damit aber
eines klar ist: Ich entscheide, wo ich lebe, und wenn Antisemiten
und Nazis damit ein Problem haben, dass ich oder andere Juden in
Deutschland sind, müssen sie wissen, nicht die Juden werden dieses
Mal Deutschland verlassen, sondern die, die es nicht ertragen
können, dass es jüdisches Leben in Deutschland gibt.
taz: Zum wiederholten Mal in diesem Jahr gab es einen Brandanschlag auf eine
Synagoge. Fast jeden Tag werden Gräber und Gedenkstätten geschändet. Leben Sie
noch gern in diesem Land, Herr Friedman?
Michel Friedman: In den 80er-Jahren wusste ich, das dies mein Land ist. In den
90ern war diese Überzeugung immer noch stärker als mein Zweifel. Der Zweifel ist
gewachsen. Ich bin so sorgenvoll, so skeptisch wie noch nie, seit ich in
Deutschland bin. Damit aber eines klar ist: Ich entscheide, wo ich lebe, und
wenn Antisemiten und Nazis damit ein Problem haben, dass ich oder andere Juden
in Deutschland sind, müssen sie wissen, nicht die Juden werden dieses Mal
Deutschland verlassen, sondern die, die es nicht ertragen können, dass es
jüdisches Leben in Deutschland gibt.
Was bedrückt Sie am Zustand dieses Landes am meisten?
Das Jammern, das Meckern, die Bequemlichkeit, die Mittelmäßigkeit, die
Dumpfheit, der steigende Rassismus, die Entwicklung zur Gewalt und die
Unfähigkeit der Eliten, Debatten anzustoßen. Gleichzeitig versuchen reaktionäre
Kräfte, rechtsnationale und noch schlimmere Ideologien salonfähig zu machen. Das
führt zu einem Gemisch, das mich außerordentlich beunruhigt.
Vertreter der Neuen Mitte würden wahrscheinlich ein anderes Bild dieser
Gesellschaft malen.
Wenn ein Begriff wie die Neue Mitte zum Wunderwort der Republik wird, bekommen
alle Probleme, die ihr nicht angehören wollen. Wenn die Äußerungen ehemaliger
Linker mit vielen konservativen Parolen und Positionen konkurrieren können, wenn
mehr und mehr zivile Gleichgültigkeit statt ziviles Bürgerengagement
festzustellen ist, dann macht mir Deutschland Kopfschmerzen. In diesem Land
demonstrieren mehr Menschen für die Würde des Kampfhundes als für die Würde des
Menschen. Mein Leben hier ist schwieriger geworden.
Paul Spiegel, der Zentralratsvorsitzende, denkt seit dem Anschlag auf die
Düsseldorfer Synagoge laut darüber nach, ob es richtig ist, dass Juden in
Deutschland leben. Fragen Sie sich das auch?
Jüdisches Leben nach Auschwitz und auch heute ist ein Vertrauensvorschuss in
dieses Land, vor allen Dingen in die jüngere Generation. Dieser Vorschuss ist in
der letzten Zeit stark strapaziert worden. Einerseits durch die neue Qualität
und Quantität eines offenen gewalttätigen Antisemitismus. Andererseits durch
eine salonfähig und unverschämt gewordene Sympathisantengruppe aus allen
Schichten der Bevölkerung. Entscheidend ist aber, dass die schweigende Mehrheit
immer noch schweigt, statt aufzuschreien. Dabei geht es nicht um
Betroffenheitsfloskeln, sondern um das glaubwürdige Handeln für eine plurale
Gesellschaft.
Es gab genügend Stimmen, die seit Jahren vor dieser Entwicklung gewarnt haben.
Glauben Sie mir, wenn ich mir Videokassetten mit meinen Statements aus den
Jahren 92, 93, 94 anschaue, habe ich heute nichts Neues zu sagen. Das ist ein
seltsames Gefühl. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl von Redundanz. Ich kann
heute nichts anderes sagen als vor zehn Jahren. Mit einer Ausnahme: Die
Situation hat sich verschlechtert.
Was haben wir zu tun versäumt?
Geschichte ist immer auch Familiengeschichte. Die 68er waren die erste
Generation, die sich intensiv mit der Nazizeit auseinandergesetzt hat. Aber den
entscheidenden letzten Schritt für ihre Biographie haben auch die 68er nicht
getan - nämlich die Auseinandersetzung zu Hause zu führen. Sie hatten ja Eltern,
die im Nationalsozialismus schon Erwachsene waren. Mit denen die
Auseinandersetzung zu führen, wäre eine ganz wesentliche Voraussetzung dafür,
dass die jüngere deutsche Generation - die heute 50-Jährigen, die in den
gesellschaftlichen Spitzenpositionen sitzen - eine Identität entwickeln können
für ihr Leben und damit auch als deutsche Staatsbürger. Stattdessen gibt es eine
Sehnsucht, die auch der Bundeskanzler formuliert hat: die Sehnsucht nach
Normalität.
Dagegen hilft die Beschäftigung mit der Geschichte?
Geschichte ist nicht Bedrohung und Belastung, sondern Herausforderung und
Chance. In Teilen dieser Republik haben sich rassistische, nationalistische und
antisemitische Wurzeln fortentwickelt. Die große Herausforderung für Deutschland
nach der Vereinigung war, eine neue Identität zu formulieren, eine Wertedebatte
zu führen. Das ist nicht geschehen.
Konservative Politiker behaupten, eine Wurzel des Rechtsradikalismus sei der
Verlust an nationaler Identität in Deutschland. Von Identität sprechen auch Sie.
Identität ist ein wichtiger Bestandteil individuellen wie kollektiven
Bewusstseins. Aber das Entscheidende ist nicht das Wort, sondern sein Inhalt.
. . . und der Zusatz "national"?
Ich bin ein absoluter Verfechter einer multikulturellen Gesellschaft. Ich denke
dabei nicht nur an Ausländer und Deutsche, sondern auch an Deutsche selbst, an
Menschen, die eine Vielfalt von Kulturen in sich vereinen. Jeder ist
multikulturell in sich - hoffentlich jedenfalls. Ich hatte noch nie Angst vor
der Vielfalt, sondern immer nur vor der Einfalt der Menschen. Wenn nationale
Identität Ausschlussidentität ist, dann ist sie gefährlich kontraproduktiv. Wenn
nationale Identität ein offenes Gefäß der Vielfalt bedeutet, dann kann man mit
mir darüber reden.
Sehen Sie das Selbstverständnis unserer Gesellschaft durch rechte Gewalt
bedroht?
Es gibt ein Potenzial an rechter Gewaltkriminalität, das sich bündelt, und es
gibt - um den Begriff aus der RAF-Zeit zu nehmen - einen nicht unerheblichen
Sympathisantenkreis.
Andreas Nachama, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Berlin, will, dass gegen
Rechtsradikale ebenso vorgegangen wird wie früher gegen die RAF. Würden Sie
diesen harten Kurs begrüßen?
Ich stimme Nachama uneingeschränkt zu. Umso mehr, als die rechtsradikale Gewalt
noch nicht die terroristische Struktur entwickelt hat, und man jetzt durch
deutliches Handeln und Zerschlagen sowohl der kriminellen Organisationen als
auch des politischen Umfeldes eine berechtigte Chance hat, dies zu verhindern.
Diese Entwicklung ist für mich das wichtigste innen- und gesellschaftspolitische
Thema - während die Politiker mal wieder die Überraschten spielen. Die werden
auch in zehn Jahren überrascht tun, wenn wir nicht mehr rechte Gewalt, sondern
rechten Terrorismus haben.
Beim Kampf gegen die RAF scheuten Politik und Justiz nicht davor zurück,
Bürgerrechte einzuschränken.
Es geht darum, dass die Gesellschaft wie in der RAF-Zeit begreift, dass es sich
um eine zerstörerische Gruppierung handelt. Wenn wir früh genug reagieren,
müssen wir nicht wie damals mit überhektischen und bürgerrechtsfeindlichen
Maßnahmen dieses Phänomen bekämpfen, sondern mit den uns gegebenen Instrumenten
handeln.
Die politische Elite scheint kein Interesse daran zu haben, sich mit der
schweigenden Mehrheit zu streiten, die das Klima der Gewalt befördert.
Die Entpolitisierung wird einerseits von der Gesellschaft gewünscht,
andererseits von den Politikern mit großer Freude zur Kenntnis genommen.
Deutschland ist so entpolitisiert, wie ich es, seit ich hier lebe, kaum je
erfahren habe. Ich bin ein absoluter Verfechter einer Dissensgesellschaft. Nur
in einer Gesellschaft, in der Streit herrscht, gibt es Bewegung und Dynamik.
Alles andere ist Stillstand.
Ist Rechtsradikalismus für Sie das absolut Andere einer zivilen Gesellschaft,
ein brutal-radikaler Gegenentwurf? Oder ist er ein Teil, den man zu integrieren
versuchen muss?
Eine Gesellschaft muss die Kraft haben, radikale politische Konzepte zu
ertragen. Was sonst ist eine demokratische Pluralität? Aber wenn radikal
menschenverachtend und menschengefährdend wird, dann ist es die Aufgabe der
Demokratie, die Schutzfunktion wahrzunehmen.
Diese Gesellschaft ist völlig uneins, wie weit sie im Kampf gegen
Rechtsradikalismus gehen darf, ohne gleichzeitig ihr ziviles und liberales
Selbstverständnis zu verraten. Sollte man nach einer Verschärfung der Gesetze
und nach einem Verbot der NPD rufen?
Nein, es ist ein letzter Schritt - aber man kann ihn gehen, ohne gleich von
Demokratieschwäche zu reden. Ich zahle meine Steuern anteilig für die NPD, die
mich letztlich aus meinem eigenen Land verbannen will. Das Verbot dieser Partei
kann nur eine Maßnahme sein, aber eben doch eine der Maßnahmen.
Ebenso wie die Kündigung von Konten rechter Parteien?
Es ist eine demokratische und zivile Entscheidung eines Unternehmens zu sagen,
mit solchen Leuten mache ich keine Geschäfte. Haben wir nicht immer gesagt, man
soll nicht mit blutigem Geld arbeiten? Haben wir nicht immer gefordert, dass
auch die Wirtschaft sich ethisch verhalten muss? Ich finde, man sollte die
Banken ausnahmsweise mal loben.
Es gab bereits einmal Berufsverbote in diesem Land. Damals traf es Linke. Sollte
es jetzt gegen Rechte gehen?
Das ist eine außerordentlich diffizile Frage. Ich halte es für nachvollziehbar,
wenn ein privater Unternehmer sagt, einen NPD-Sympathisanten will ich nicht
haben. Beim öffentlichen Dienst hängt es davon ab, ob eine Partei als
verfassungswidrig eingestuft wird. Wenn die NPD verfassungswidrig wäre, kann
auch keiner ihrer Anhänger im öffentlichen Dienst arbeiten. Aber letztlich sind
dies Mosaiksteine, die nicht den Durchbruch bringen.
Sondern?
Der entscheidende Durchbruch müsste auf drei Ebenen erfolgen: Die eine ist die
kriminelle, gewalttätige und strafrechtliche Ebene. Gewalt darf nicht als
Jugendsünde verharmlost oder soziologisch wegerklärt werden. Die zweite Ebene
ist die gesellschaftspolitische Ächtung von Rassismus, Antisemitismus und der
Ideologie der Ungleichheit von Menschen. Die dritte Ebene ist die der
Verpflichtung: Freiheit bedeutet Verantwortung. Wenn sich Eltern nicht um ihre
Kinder kümmern oder Kinder nicht um ihre Eltern und Großeltern, wenn sich
Nachbarn nicht um ihre Nachbarn kümmern und ein Mensch in Frankfurt/Main nicht
um einen in Frankfurt (Oder) - wie sollen dann erst Ausländer eine Chance haben
und wie soll dann das Fremde respektiert werden?
In Brandenburg sind, so sagt eine Umfrage, mehr als 50 Prozent der Jugendlichen
antisemitisch . . .
. . . und Dreiviertel aller Jugendlichen können sich nicht vorstellen, einen
Juden als Freund zu haben. Überrascht Sie das? Ich habe kürzlich in einer Runde
mit hoch qualifizierten Journalisten gesessen. Wir sprachen über den Nahen Osten
und plötzlich hieß es: "In Ihrem Land, Herr Friedmann, muss man doch endlich
einsehen . . ."
Wer hat Ihrer Meinung nach versagt? Die Politik, die Justiz, die Medien?
Wir alle.
Dann müssten wir die Mehrheit verbieten . . .
Dazu kann ich Ignatz Bubis zitieren. Auf die Frage, was wir denn eigentlich
machen, wenn die rechte Gewalt schlimmer wird, antwortete er: Die 70.000 Juden,
die hier leben, gehen nach Israel. Die hier lebenden Türken gehen in die Türkei.
Die Frage wird sein, wohin gehen die Deutschen?
Interview BASCHA MIKA und JÖRG HAFKEMEYER
Zitate: ZUM MORALISCHEN ZUSTAND: "In diesem Land demonstrieren mehr Menschen für
die Würde des Kampfhundes als für die Würde des Menschen."
ZUM POLITISCHEN ZUSTAND: "Deutschland ist so entpolitisiert, wie ich es, seit
ich hier lebe, kaum je erfahren habe."
taz 9.10.2000 BASCHA
MIKA und JÖRG HAFKEMEYER
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haGalil onLine
13-11-2000
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