Im Gehege des Vergessens:
Was wurde aus Aktie 1114?
Wie der
Berliner Zoo mit seiner Vergangenheit umgeht
Von Steffi Kammerer
SZ vom 12.10.2000
Berlin-Seite
"Während des
Herbstes war Onkel Julius sogar nach Feierabend in den Zoo gegangen.
Sein ganzes Leben kreiste jetzt um die Tiere. Und dann, kurz vor
Weihnachten, war der Schlag gekommen. Onkel Julius hatte einen
offiziellen Brief bekommen, in dem sein freier Eintritt in den Zoo
widerrufen wurde. Die Tatsache, dass er eine jüdische Großmutter
hatte, genügte. Danach hatte Onkel Julius sich verändert. Er konnte
nicht schlafen und aß nicht richtig. Eines Tages war Onkel Julius
tot aufgefunden worden, neben sich ein leeres Glasröhrchen, in dem
Schlaftabletten gewesen waren." (Aus Judith Kerr: Als Hitler das
rosa Kaninchen stahl)
Im März diesen Jahres erreichte ein Brief aus Brooklyn, New York den
Zoologischen Garten in Berlin. Absender war Werner Cohn, ein emeritierter
Soziologieprofessor. Als altes "Zookind", so schrieb der heute 74-Jährige, denke
er oft an seine Besuche in der Hardenbergstraße. Er und seine Schwester standen
fast täglich vor dem Gehege des Seelöwen "Roland". Ihr Vater war Inhaber einer
Zoo-Aktie und darum brauchten sie keinen Eintritt zu zahlen. Nun, am Ende seines
Lebens wolle er wissen, was eigentlich mit der Aktie passiert sei, die sein
Vater James 1926 erworben hatte. Den Vater konnte er nie fragen, er hat sich
1940 umgebracht, zwei Jahre, nachdem er seine jüdische Familie nach Amerika
retten konnte. Das Foto über Cohns Schreibtisch zeigt ihn in kaiserlicher
Uniform, dekoriert mit dem Eisernen Kreuz.
Der Zoologische Garten ist seit mehr als 150 Jahren im Besitz von Aktionären –
damals wie heute gilt die Aktie in der Berliner Gesellschaft als Statussymbol.
Es gibt nur 4000 Stück. Sie werden über die Generationen vererbt, kaufen kann
man die Liebhabertitel fast nie. Die Zoo-Aktie ist mit über 7000 Euro heute
eines der teuersten deutschen Wertpapiere.
Werner Cohn also wollte wissen: Wurde die Aktie verkauft? Geschah das
freiwillig? War es legal? Wie viel Geld hat der Vater dafür bekommen? Entsprach
die Summe dem damaligen Marktwert? Der Zoo reagierte umgehend. Die Aktie mit der
Registriernummer 1114 sei am 13. August 1938 an einen gewissen Ferdinand
Kallmeyer verkauft worden. Mehr wisse man nicht. Der Preis und die Umstände des
Verkaufs ließen sich leider nicht rekonstruieren. Cohn bohrte weiter. Im April
2000 bekam er wieder Post aus Berlin. Im Auftrag des Zoos schrieb ihm nun
Rechtsanwalt Richard F. Lehmann aus der feinen Fasanenstraße:
Herr Lehmann teilte Cohn mit, dass es niemals zu Enteignungen jüdischer
Aktionäre gekommen sei, bei der Übertragung der Aktie seines Vater seien weder
"Druck noch Zwang noch Nötigung" ausgeübt worden. Er persönlich könne "mit
absoluter Sicherheit bestätigen, dass ich im Zoo niemals irgendwelche
judenfeindliche Schilder oder Hinweise gefunden habe. Dem Zoo ist es im übrigen
völlig gleichgültig, welchen Glaubens seine Aktionäre sind. Aus diesem Grunde
hat irgendeine Sonderbehandlung von jüdischen Aktionären auch in der Nazizeit
niemals stattgefunden."
Wirkliche Probleme
Werner Cohn, der ein besonnener und umgänglicher Herr ist, beschloss nach Erhalt
dieses kaltschnäuzigen Schriftstücks, den Zoo zur Vergangenheitsbewältigung zu
zwingen. Er schaltete Annoncen und begann, im Internet nach weiteren Betroffenen
zu fahnden. Bisher haben sich rund 20 alte Leute aus USA, Lateinamerika und
Israel gemeldet, die aussagen, ihre Eltern hätten Zooaktien besessen. Cohn
schätzt, dass bis Ende der dreißiger Jahre fast die Hälfte der Aktien in
jüdischem Besitz waren. "Die West-Berliner Juden hatten eine ganz enge Bindung
an den Zoo", erzählt er. "Es gehörte in unseren Kreisen einfach dazu, sich dort
zu engagieren." Nachdem das Eigentum in den meisten Fällen "arisiert" worden
sei, ergebe sich für den Zoo eine moralische Schuld von mehr als zehn Millionen
Dollar. Schließlich, so argumentiert Cohn, hätten die jüdischen Besitzer 60
Jahre lang nicht über ihr Eigentum verfügen können. Die Summe fordert er
allerdings nicht für die betroffenen Aktionäre, sondern als Unterstützung für
den Zoo in Tel Aviv.
Von einer Klage ist Cohn inzwischen abgerückt – sie hätte keinen Erfolg. Denn
die Frist zur Rückforderung des Eigentums ist bereits in den fünfziger Jahren
abgelaufen. Die Behauptung von Zoo-Anwalt Lehmann, die Aktien seien freiwillig
verkauft worden, ist allerdings zynisch: "Bei allen Rechtsgeschäften, die nach
dem Erlass der Nürnberger Rassegesetze 1935 zu Stande kamen, ist davon
auszugehen, dass sie unter Zwang stattgefunden haben", sagt Peter Heuß,
Historiker der Jewish Claims Conference in Frankfurt. Diese Annahme gelte,
solange der Erwerber nicht das Gegenteil bewiesen habe. Indirekter Druck habe
ohnehin bestanden – schließlich konnten die meisten Verfolgten ihre Emigration
gar nicht anders finanzieren als durch den Verkauf ihres Eigentums.
In letzter Zeit bemühte sich der Zoo um einen anderen Ton. Schließlich musste
sich Zoodirektor Hans Frädrich Ende August sogar vom Kollegen des Los Angeles
Zoo fragen lassen, weshalb er nichts unternehme. "Die Wahrheit ist", so wies er
Cohn im nächsten Brief zurecht, dass seit Wochen jemand damit beschäftigt sei,
die alten Aktienbücher durchzugehen. Man sei bisher auf rund 180 eindeutig
jüdische Namen gestoßen. Und er gibt zu: "Auffallend viele Besitzerwechsel haben
sich in der Tat 1939 ereignet. Es liegt nahe, dies mit dem Zwangsverkauf in
Verbindung zu bringen. "Im Oktober würde der Aufsichtsrat überlegen, wie man mit
diesen Erkenntnissen umgehen werde. "Zu verbergen haben der Zoo und seine
Leitung nichts."
Vor wenigen Tagen fand diese Sitzung tatsächlich statt. Viel herausgekommen ist
nicht. Man habe beschlossen, die Namen in einen Computer einzugeben und die
Daten einem Wissenschaftler zu übergeben, erklärt Zoo-Vorstand Hans-Peter
Czupalla. Mehr gebe es im Moment nicht zu sagen. Widerwillig stimmt er dann doch
einem Gespräch zu, das gemeinsam mit Zoodirektor Frädrich in seinem Büro
stattfindet.
Man ist ganz dankbar dafür, dass Werner Cohn im fernen Brooklyn weilt und nicht
hören kann, was die Zoo-Funktionäre vor bunten Safari-Fotos von sich geben.
Milliarden habe man an die Juden gezahlt, sagt Czupalla. Sein ganzes Leben habe
er an der deutschen Schuld getragen. "Und jetzt, wo auch die Zwangsarbeiter
entschädigt werden, fühlt sich Herr Cohn, der als Pensionär nichts zu tun hat,
aufgerufen, auch zu fordern."
Er, Czupalla, habe hingegen sehr viel zu tun. Er habe wirkliche Probleme. Dem
Zoo würden nämlich ständig die Zuschüsse gekürzt, sogar die Pferdekutschen müsse
er abschaffen. Man müsse endlich abschließen mit der Vergangenheit, sagt
Czupalla. "Ich will nach vorne gucken, nicht immer rückwärts. Es gibt auch für
Mord Verjährungszeiten." Er selber habe im Krieg schließlich auch gehungert und
Opfer gebracht: "Meine Familie hat für einen Sack Kartoffeln einen wertvollen
Teppich verkauft. Den kann ich doch heute auch nicht vom Bauern wiederholen."
Juden seien ihm genauso willkommen, wie die 200 000 "Muselmänner", die in Berlin
lebten, so Czupalla. Aber er wisse nicht, was die Ansprüche sollen: "Der Zoo,
den Sie hier sehen, dazu hat kein jüdischer Bürger etwas beigetragen." 1945 sei
schließlich alles zerstört worden. "Das ist von den neuen Bürgern aufgebaut
worden. Das sage ich weder mit Pathos noch mit Stolz, sondern als Fakt."
"Halbjüdin" als Zeugin
Das Schreiben von Rechtsanwalt Lehmann ("ein ordentlicher Mann, der im
Schützengraben gekämpft hat"), das bezeichnen die beiden Männer heute trotzdem
als "ungeschickt". Man habe die Empfindlichkeiten unterschätzt. Und dass es
keine Verbotsschilder für Juden gegeben habe, das könne man natürlich mit
Gewissheit auch nicht sagen. Auch wenn es diese „Halbjüdin“ gebe, die ihnen
bestätigt habe, den Zoo auch nach 1938 regelmäßig besucht zu haben.
Wolf Gruner vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung geht davon aus,
dass Berliner Juden spätestens nach dem Novemberpogrom 1938 keinen Zugang mehr
zum Zoo hatten. Er ist in Besitz eines Dokuments, nach dem der damalige
Zoodirektor Lutz Heck bereits Anfang 1938 vorgeschlagen haben soll, Juden den
Eintritt in alle deutschen Zoos zu verwehren.
Werner Cohn hofft nun, dass seine Briefe den Berliner Zoo wenigstens
veranlassen, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen. Der alte Mann geht mit
seinen Enkelkindern oft in den Zoo der Bronx. Manchmal, wenn sie den Seelöwen
bei der Fütterung zusehen, erzählt er von früher. Er hätte sich gewünscht, dass
man ihm aus Berlin freiwillig eine Jahreskarte geschickt hätte – auch wenn er
sie kaum nutzen könnte. Aber es wäre eine Geste gewesen.
haGalil onLine 19-10-2000 |