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Datum: 06.10.2000
Ressort: Feuilleton
Autor: Richard Chaim Schneider
Wir sind frei
Juden nach Düsseldorf:
Sie sind, was sie immer waren
- heimatlos mitten in Deutschland
Endlich hat einer der älteren
Generation das offen in Frage gestellt, was wir, die Kinder der Überlebenden ihr
schon immer vorgeworfen hatten: War es richtig, nach dem Krieg wieder jüdisches
Leben im Land der Mörder aufzubauen? Paul Spiegel, der Präsident des Zentralrats
der Juden in Deutschland, war in seiner ersten Reaktion auf das Attentat in
Düsseldorf ehrlicher als die meisten jüdischen Funktionäre seines Alters. Denn
insgeheim denken alle so wie er. Sie wagen es nur nicht, dies öffentlich zu
äußern. Es sei politisch nicht opportun, so meinen sie in ihrer immer noch
ghet-tohaften Duckmäusermentalität, oder aber sie wagen es nicht, diesen
Gedanken sich selbst gegenüber zu äußern, denn das würde ihre gesamte Existenz
mit einem Male in Frage stellen.
Wie konntet ihr das nur tun - das war die
ewige Frage, die wir unseren Eltern immer wieder stellten. Wir bekamen keine
Antwort. Zumindest keine, die uns in irgendeiner Weise befriedigt hätte.
Stattdessen ließen uns unsere Eltern, die die Nazizeit im KZ, im Arbeitslager,
versteckt oder im Exil gerade eben mit viel Glück überlebt hatten, mit unseren
Problemen allein. Unser Problem
ist: eine Zwitteridentität, ein gespaltenes Verhältnis zu diesem Land, das unser
Geburtsland ist - unsere "Heimat", das aber unser Volk, unsere Familien noch
wenige Jahre vor unserer Geburt umbrachte, und dessen "Kultur" wir nun in dessen
Schulen eingeimpft bekamen. Eine Kultur, die nach Auschwitz führte...
Verdruckste Normalität Wir, die so
genannte Zweite Generation, wissen am allerbesten, wie es um Deutschland
bestellt ist. Wir wuchsen auf in einer Gesellschaft, die keineswegs normal war,
sondern verdruckst, verschreckt, schweigend und verlogen. Es sind die
reaktionären 50er- und 60er- Jahre, die uns geprägt haben, bis hin zur
Studentenrevolte von 1968, als unsere nichtjüdischen Klassenkameraden und
Kommilitonen auf die Straßen gingen, um nicht zuletzt gegen ihre Nazieltern zu
protestieren. Doch auch von ihnen wurden wir im Laufe der Jahre mehr und mehr
enttäuscht, als wir erlebten, wie diese linken Kommilitonen den Antisemitismus
ihrer Eltern übernahmen und ihm lediglich ein neues ideologisches Deckmäntelchen
namens "Anti-Zionismus" überwarfen.
Wir wissen, wir wussten immer, dass der
Antisemitismus in Deutschland stets präsent ist, dass er nicht ausgerottet ist
und dass die Mehrheit der "Anständigen", die Bundeskanzler Schröder jetzt nach
dem Attentat auf die Synagoge in Düsseldorf zum Handeln aufgerufen hat, eine
schweigende ist. Und eine schweigende bleiben wird.
Ein Werbespot, der derzeit im Kino läuft,
von der Bundesregierung mitfinanziert: In einer S-Bahn greifen zwei Skins einen
Schwarzen an. Ein junges Mädchen greift als Einzige ein, und wird zu Boden
geworfen. Alle Mitreisenden, gespielt von bekannten deutschen Schauspielern,
schauen demonstrativ weg. Bis eine ältere Dame die Notbremse zieht. Schnitt.
Kamera von außen auf den stehen gebliebenen Zug: Die Tür geht auf, die beiden
Skins werden von den Passagieren, die wie ein Mann, wie eine Mauer vor ihnen
stehen, aus dem Zug geworfen. Tür zu, Zug fährt weiter. Ein netter Slogan gegen
Gewalt erscheint. Abblende. Danach die neueste Zigarettenwerbung. Dieser
hilflose und lächerliche Werbespot drückt sich um genau diesen Moment, um den es
geht: Wie greift die schweigende Mehrheit ein? Wie verabreden sich alle, alle
(!), plötzlich gemeinsam aufzustehen, keine Angst zu haben und etwas zu tun?
Bankrott der Politik Dieser entscheidende
Moment, der die Zukunft unserer Zivilgesellschaft mehr prägen wird als jede Form
der Globalisierung und das Internet, dieser entscheidende Moment wird nicht
gezeigt - weil niemand, auch die Bundesregierung nicht weiß, wie das gehen soll.
Der ewig wiederholte Aufruf zur "Zivilcourage" - Schröder paraphrasiert das nun
als "Aufstand der Anständigen" - ist in Wirklichkeit eine Bankrotterklärung des
Staates, der keine Ahnung hat, wie er mit dem rechtsextremistischen Problem
umgehen soll. Es ist eine Bankrotterklärung der demokratischen Politiker von
links und rechts, da sie ihre Verantwortung für die Entwicklung in diesem Lande
auf die schweigende Mehrheit allein abwälzen wollen, ohne zuzugeben, dass sie
alle, alle (!), wesentlich beigetragen haben zu diesem Klima. Rassistische
Äußerungen von CDU- und CSU-Politikern im Wahlkampf und in Parlamenten bleiben
ohne parteipolitische Folgen, Fragestellungen eines SPD-Bundesinnenministers, ob
das Boot nicht "voll" sei - ein Slogan, den vor vielen Jahren die NPD und die
Republikaner auszuschlachten versuchten - vergiften die ohnehin schlechte
Atmosphäre im vereinten Deutschland.
Fremde geblieben Während im Sommer das
Augenmerk für kurze Zeit ausschließlich auf dem Rechtsradikalismus liegt,
befindet sich der Bundesinnenminister in der Toskana, auch der Bundeskanzler ist
auf Tauchstation gegangen, und kein Politiker erscheint in Dessau, wo ein
Schwarzer getötet wird. Erst Wochen später, viel zu spät, zwingt sich Schröder
zu einer symbolischen Geste an der Stelle, wo dieser Mann ermordet wurde. Nur
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zeigt seit eh und je Flagge gegenüber dem
Rechtsextremismus - und wird dafür in den Medien auch schon mal belächelt.
Nein, wir, die Kinder der Überlebenden,
wissen nur zu gut, wo wir leben. Und haben uns bereits vor dem Fall der Mauer
keine Illusionen gemacht. Weder über unseren eigenen westlichen Staat, noch über
den Arbeiter-und-Bauern-Staat da drüben. Wir, die Kinder der Überlebenden
wissen, dass wir in der Gesellschaft der Kinder der Mörder leben und uns besser
nicht auf diese Gesellschaft verlassen dürfen. Der Weg in die Synagogen war
immer einer durch den Kordon von israelischen Sicherheitsbeamten und deutscher
Polizei. Insofern hat das Attentat von Düsseldorf nichts geändert. Wenn wir nun
am Sonntag erneut in die Synagogen gehen, zum höchsten jüdischen Feiertag Jom
Kippur, dann werden einfach noch ein bisschen mehr Polizisten herumstehen, die
Straßen komplett abgesperrt, unsere Isolation in diesem Land noch
offensichtlicher sein.
Aber was macht das? Die plötzliche
Erkenntnis, die so viele nichtjüdische Menschen jetzt er Juden nach Düsseldorf
Fortsetzung von Seite 13 ---fasst, jüdisches Leben sei in Deutschland nicht mehr
sicher, hat für uns keinen Sensationswert. Wir wissen und leben das. Tag für
Tag. Denn "Sicherheit" würde bedeuten, dass diese Gesellschaft uns Juden nicht
mehr als das "Fremde" ansieht, als das "Andere". Das aber ist nicht der Fall.
Nie der Fall gewesen.Ebenso wie die viel zitierte deutsch-jüdische Symbiose vor
dem Krieg eine Lüge ist, so ist dieser deutsch-jüdische Nachkriegskonsens eines
gemeinsamen Weges, der "Versöhnung", wie das gerne mit dieser
religiös-moralischen Metapher apostrophiert wird, immer eine Lüge gewesen, die
auch die Juden gebraucht haben, um vor sich selbst zu rechtfertigen, dass sie
sich selber noch mehr erniedrigt haben als die Nazis das je tun konnten: indem
sie freiwillig im Land der Mörder geblieben waren, Seite an Seite, Wand an Wand,
mit den Verfolgern und Peinigern und der schweigenden Mehrheit lebten, die all
das zugelassen hat.
Und nun leben wir wieder mit einer
schweigenden Mehrheit Seite an Seite, Wand an Wand - und wiederholen das Leben
unserer Eltern. Das ist unser Fluch. Aber auch unser Recht. Denn wir wurden
nicht gefragt, ob wir hier geboren werden wollen. Wir wurden nicht gefragt, ob
wir hier in diesem Land, mit dieser Sprache, mit dieser Kultur, mit dieser
schrecklichen Ambivalenz, mit dieser inneren Heimatlosigkeit aufwachsen wollen.
Nun sind wir heimatlos. Mitten in Deutschland. Und nicht erst seit Düsseldorf.
Sondern schon immer.
Chance der Vaterlandslosen Na und? Ist
nicht die Heimatlosigkeit der Ort, an dem sich ein freier Geist am wohlsten
fühlt? Welche Sicherheit würde uns denn irgendeine Form von "Heimat" geben? Es
gibt sie nicht und damit leben wir stets im Auge des Hurricans, im Zentrum der
existenziellen Herausforderungen, die das Leben an jeden von uns mit seiner
ganzen Unwägbarkeit stellt. Das ist unsere Chance und unser Vorteil gegenüber
euch, die ihr immer noch an einem Heimat- und Nationenbegriff herumkaut, der
längst obsolet geworden ist.
Doch rückständig, wie dieses Deutschland
immer schon war, merkt ihr nicht, was ihr euch da selbst antut. Das kann uns
egal sein. Wir sind da, aber wir sind in Wirklichkeit frei. So frei, wie ihr es
nie sein werdet. Dafür beneidet ihr uns insgeheim - und dafür hasst ihr uns
auch. Aber das ist euer Problem. Und wenn ihr alle Synagogen Deutschlands und
alle jüdischen Friedhöfe in Schutt und Asche verwandeln werdet: Es ist eure
Erde, die da brennen und rauchen wird. Wir aber, wir werden dann längst weg sein
und euch mit euch selbst allein lassen.
Zeitzeuge der Zweiten Generation //
Richard Chaim Schneider wurde 1957 als Kind ungarischer Juden in München
geboren, wo er Germanistik, Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie
studierte. Zehn Jahre arbeitete er an verschiedenen Theatern in Europa. Seit
1989 ist er als Autor und Filmemacher für die ARD tätig.
Unter dem Titel "Wir
sind da!" legte Schneider im Ullstein Berlin Verlag
Zeitzeugen-Interviews zur Geschichte der Juden in Nachkriegsdeutschland vor. Er
ist auch Autor von "Fetisch Holocaust. Die Judenvernichtung - verdrängt und
vermarktet" sowie "Israel
am Wendepunkt. Von der Demokratie zum Fundamentalismus?"
ULLSTEIN Wieder erwachendes jüdisches
Leben in Deutschland: Die Einweihung der neu errichteten Synagoge im Frankfurter
Westend am 6. 9. 1950.
haGalil onLine
10-10-2000
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