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RICHARD CHAIM SCHNEIDER
12.10.2000, 21:45 - 22:30, Das Erste
Panorama
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Datum:  06.10.2000
Ressort:  Feuilleton
Autor:  Richard Chaim Schneider

Wir sind frei

Juden nach Düsseldorf: 
Sie sind, was sie immer waren 
- heimatlos mitten in Deutschland

Endlich hat einer der älteren Generation das offen in Frage gestellt, was wir, die Kinder der Überlebenden ihr schon immer vorgeworfen hatten: War es richtig, nach dem Krieg wieder jüdisches Leben im Land der Mörder aufzubauen? Paul Spiegel, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, war in seiner ersten Reaktion auf das Attentat in Düsseldorf ehrlicher als die meisten jüdischen Funktionäre seines Alters. Denn insgeheim denken alle so wie er. Sie wagen es nur nicht, dies öffentlich zu äußern. Es sei politisch nicht opportun, so meinen sie in ihrer immer noch ghet-tohaften Duckmäusermentalität, oder aber sie wagen es nicht, diesen Gedanken sich selbst gegenüber zu äußern, denn das würde ihre gesamte Existenz mit einem Male in Frage stellen.

Wie konntet ihr das nur tun - das war die ewige Frage, die wir unseren Eltern immer wieder stellten. Wir bekamen keine Antwort. Zumindest keine, die uns in irgendeiner Weise befriedigt hätte. Stattdessen ließen uns unsere Eltern, die die Nazizeit im KZ, im Arbeitslager, versteckt oder im Exil gerade eben mit viel Glück überlebt hatten, mit unseren Problemen allein.

Unser Problem ist: eine Zwitteridentität, ein gespaltenes Verhältnis zu diesem Land, das unser Geburtsland ist - unsere "Heimat", das aber unser Volk, unsere Familien noch wenige Jahre vor unserer Geburt umbrachte, und dessen "Kultur" wir nun in dessen Schulen eingeimpft bekamen. Eine Kultur, die nach Auschwitz führte...

Verdruckste Normalität Wir, die so genannte Zweite Generation, wissen am allerbesten, wie es um Deutschland bestellt ist. Wir wuchsen auf in einer Gesellschaft, die keineswegs normal war, sondern verdruckst, verschreckt, schweigend und verlogen. Es sind die reaktionären 50er- und 60er- Jahre, die uns geprägt haben, bis hin zur Studentenrevolte von 1968, als unsere nichtjüdischen Klassenkameraden und Kommilitonen auf die Straßen gingen, um nicht zuletzt gegen ihre Nazieltern zu protestieren. Doch auch von ihnen wurden wir im Laufe der Jahre mehr und mehr enttäuscht, als wir erlebten, wie diese linken Kommilitonen den Antisemitismus ihrer Eltern übernahmen und ihm lediglich ein neues ideologisches Deckmäntelchen namens "Anti-Zionismus" überwarfen.

Wir wissen, wir wussten immer, dass der Antisemitismus in Deutschland stets präsent ist, dass er nicht ausgerottet ist und dass die Mehrheit der "Anständigen", die Bundeskanzler Schröder jetzt nach dem Attentat auf die Synagoge in Düsseldorf zum Handeln aufgerufen hat, eine schweigende ist. Und eine schweigende bleiben wird.

Ein Werbespot, der derzeit im Kino läuft, von der Bundesregierung mitfinanziert: In einer S-Bahn greifen zwei Skins einen Schwarzen an. Ein junges Mädchen greift als Einzige ein, und wird zu Boden geworfen. Alle Mitreisenden, gespielt von bekannten deutschen Schauspielern, schauen demonstrativ weg. Bis eine ältere Dame die Notbremse zieht. Schnitt. Kamera von außen auf den stehen gebliebenen Zug: Die Tür geht auf, die beiden Skins werden von den Passagieren, die wie ein Mann, wie eine Mauer vor ihnen stehen, aus dem Zug geworfen. Tür zu, Zug fährt weiter. Ein netter Slogan gegen Gewalt erscheint. Abblende. Danach die neueste Zigarettenwerbung. Dieser hilflose und lächerliche Werbespot drückt sich um genau diesen Moment, um den es geht: Wie greift die schweigende Mehrheit ein? Wie verabreden sich alle, alle (!), plötzlich gemeinsam aufzustehen, keine Angst zu haben und etwas zu tun?

Bankrott der Politik Dieser entscheidende Moment, der die Zukunft unserer Zivilgesellschaft mehr prägen wird als jede Form der Globalisierung und das Internet, dieser entscheidende Moment wird nicht gezeigt - weil niemand, auch die Bundesregierung nicht weiß, wie das gehen soll. Der ewig wiederholte Aufruf zur "Zivilcourage" - Schröder paraphrasiert das nun als "Aufstand der Anständigen" - ist in Wirklichkeit eine Bankrotterklärung des Staates, der keine Ahnung hat, wie er mit dem rechtsextremistischen Problem umgehen soll. Es ist eine Bankrotterklärung der demokratischen Politiker von links und rechts, da sie ihre Verantwortung für die Entwicklung in diesem Lande auf die schweigende Mehrheit allein abwälzen wollen, ohne zuzugeben, dass sie alle, alle (!), wesentlich beigetragen haben zu diesem Klima. Rassistische Äußerungen von CDU- und CSU-Politikern im Wahlkampf und in Parlamenten bleiben ohne parteipolitische Folgen, Fragestellungen eines SPD-Bundesinnenministers, ob das Boot nicht "voll" sei - ein Slogan, den vor vielen Jahren die NPD und die Republikaner auszuschlachten versuchten - vergiften die ohnehin schlechte Atmosphäre im vereinten Deutschland.

Fremde geblieben Während im Sommer das Augenmerk für kurze Zeit ausschließlich auf dem Rechtsradikalismus liegt, befindet sich der Bundesinnenminister in der Toskana, auch der Bundeskanzler ist auf Tauchstation gegangen, und kein Politiker erscheint in Dessau, wo ein Schwarzer getötet wird. Erst Wochen später, viel zu spät, zwingt sich Schröder zu einer symbolischen Geste an der Stelle, wo dieser Mann ermordet wurde. Nur Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zeigt seit eh und je Flagge gegenüber dem Rechtsextremismus - und wird dafür in den Medien auch schon mal belächelt.

Nein, wir, die Kinder der Überlebenden, wissen nur zu gut, wo wir leben. Und haben uns bereits vor dem Fall der Mauer keine Illusionen gemacht. Weder über unseren eigenen westlichen Staat, noch über den Arbeiter-und-Bauern-Staat da drüben. Wir, die Kinder der Überlebenden wissen, dass wir in der Gesellschaft der Kinder der Mörder leben und uns besser nicht auf diese Gesellschaft verlassen dürfen. Der Weg in die Synagogen war immer einer durch den Kordon von israelischen Sicherheitsbeamten und deutscher Polizei. Insofern hat das Attentat von Düsseldorf nichts geändert. Wenn wir nun am Sonntag erneut in die Synagogen gehen, zum höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, dann werden einfach noch ein bisschen mehr Polizisten herumstehen, die Straßen komplett abgesperrt, unsere Isolation in diesem Land noch offensichtlicher sein.

Aber was macht das? Die plötzliche Erkenntnis, die so viele nichtjüdische Menschen jetzt er Juden nach Düsseldorf Fortsetzung von Seite 13 ---fasst, jüdisches Leben sei in Deutschland nicht mehr sicher, hat für uns keinen Sensationswert. Wir wissen und leben das. Tag für Tag. Denn "Sicherheit" würde bedeuten, dass diese Gesellschaft uns Juden nicht mehr als das "Fremde" ansieht, als das "Andere". Das aber ist nicht der Fall. Nie der Fall gewesen.Ebenso wie die viel zitierte deutsch-jüdische Symbiose vor dem Krieg eine Lüge ist, so ist dieser deutsch-jüdische Nachkriegskonsens eines gemeinsamen Weges, der "Versöhnung", wie das gerne mit dieser religiös-moralischen Metapher apostrophiert wird, immer eine Lüge gewesen, die auch die Juden gebraucht haben, um vor sich selbst zu rechtfertigen, dass sie sich selber noch mehr erniedrigt haben als die Nazis das je tun konnten: indem sie freiwillig im Land der Mörder geblieben waren, Seite an Seite, Wand an Wand, mit den Verfolgern und Peinigern und der schweigenden Mehrheit lebten, die all das zugelassen hat.

Und nun leben wir wieder mit einer schweigenden Mehrheit Seite an Seite, Wand an Wand - und wiederholen das Leben unserer Eltern. Das ist unser Fluch. Aber auch unser Recht. Denn wir wurden nicht gefragt, ob wir hier geboren werden wollen. Wir wurden nicht gefragt, ob wir hier in diesem Land, mit dieser Sprache, mit dieser Kultur, mit dieser schrecklichen Ambivalenz, mit dieser inneren Heimatlosigkeit aufwachsen wollen. Nun sind wir heimatlos. Mitten in Deutschland. Und nicht erst seit Düsseldorf. Sondern schon immer.

Chance der Vaterlandslosen Na und? Ist nicht die Heimatlosigkeit der Ort, an dem sich ein freier Geist am wohlsten fühlt? Welche Sicherheit würde uns denn irgendeine Form von "Heimat" geben? Es gibt sie nicht und damit leben wir stets im Auge des Hurricans, im Zentrum der existenziellen Herausforderungen, die das Leben an jeden von uns mit seiner ganzen Unwägbarkeit stellt. Das ist unsere Chance und unser Vorteil gegenüber euch, die ihr immer noch an einem Heimat- und Nationenbegriff herumkaut, der längst obsolet geworden ist.

Doch rückständig, wie dieses Deutschland immer schon war, merkt ihr nicht, was ihr euch da selbst antut. Das kann uns egal sein. Wir sind da, aber wir sind in Wirklichkeit frei. So frei, wie ihr es nie sein werdet. Dafür beneidet ihr uns insgeheim - und dafür hasst ihr uns auch. Aber das ist euer Problem. Und wenn ihr alle Synagogen Deutschlands und alle jüdischen Friedhöfe in Schutt und Asche verwandeln werdet: Es ist eure Erde, die da brennen und rauchen wird. Wir aber, wir werden dann längst weg sein und euch mit euch selbst allein lassen.

Zeitzeuge der Zweiten Generation // Richard Chaim Schneider wurde 1957 als Kind ungarischer Juden in München geboren, wo er Germanistik, Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie studierte. Zehn Jahre arbeitete er an verschiedenen Theatern in Europa. Seit 1989 ist er als Autor und Filmemacher für die ARD tätig.

Unter dem Titel "Wir sind da!" legte Schneider im Ullstein Berlin Verlag Zeitzeugen-Interviews zur Geschichte der Juden in Nachkriegsdeutschland vor. Er ist auch Autor von "Fetisch Holocaust. Die Judenvernichtung - verdrängt und vermarktet" sowie "Israel am Wendepunkt. Von der Demokratie zum Fundamentalismus?"

ULLSTEIN Wieder erwachendes jüdisches Leben in Deutschland: Die Einweihung der neu errichteten Synagoge im Frankfurter Westend am 6. 9. 1950.

haGalil onLine 10-10-2000

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