Fünfzig Jahre sind mehr als
ein halbes Menschenleben, reich an Erlebnissen und Erfahrungen. Im
Leben einer Organisation ist dies jedoch eine relativ kleine
Zeitspanne. [...] Die Aufgaben und Ziele des Zentralrats wurden von
den Gründungsvätern präzise formuliert: das jüdische Gemeindeleben
zu fördern, die jüdische Identität zu festigen und nach außen eine
Art Wächterfunktion auszuüben - alles zusammen unter der Wahrung des
Prinzips der absoluten Souveränität jeder einzelnen
Mitgliedsgemeinde.
Betrachtet man die
Lebensumstände, unter denen der Zentralrat aufgebaut wurde, so wird
sein beispielloser Erfolg trotz mancher Kritik und manchen
Misserfolgs deutlich. Der Aufbau jüdischen Lebens nach dem
Zusammenbruch des nationalsozialistischen Terrorregimes war ein
"Aufbau aus dem Nichts", belastet mit dem Schmerz aus dem
millionenfachen Verlust von Eltern, Geschwistern, Verwandten und
Freunden.
Rufen wir uns in Erinnerung:
1946 lebten auf dem Gebiet der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland
und in Berlin rund zweihundertfünfzigtausend Juden. Diese Gruppe
jüdischer Menschen war ganz anders zusammengesetzt als die jüdische
Gemeinschaft in Deutschland vor 1933. Es waren vor allem
Schoah-Überlebende, die versteckt oder in Lagern vor der Ermordung
gerettet werden konnten. Die meisten stammten aus Osteuropa, nur
wenige von ihnen waren deutsche Juden. In den ersten Jahren
wanderten hunderttausend in die USA und weitere hunderttausend nach
Israel, Kanada und Australien aus. Die wenigen Verbliebenen waren
oft krank und zu schwach, um Deutschland zu verlassen. In rasch
einberufenen Komitees versuchten sie, gemeindeähnliche Einrichtungen
aufzubauen. Die Hauptaufgaben bestanden darin, soziale und
medizinische Hilfe zu leisten, Altenbetreuung durchzuführen,
Auswanderungswillige zu beraten und Gottesdienste durchzuführen. Die
ersten gemeindeähnlichen Gebilde waren allerdings eher
"Liquidations-Gemeinden" als Gemeinden im heutigen Sinn. Viele von
uns wussten nämlich noch nicht, ob sie tatsächlich in Deutschland
bleiben sollten - es waren die Zeiten des "Sitzens auf gepackten
Koffern".
Heute, fünfzig Jahre nach
Gründung des Zentralrats, sind die Koffer ausgepackt, die Gemeinden
sind lebendige Basis jüdischen Lebens in Deutschland. Mithin ist der
Zentralrat die Plattform kollektiver Willensbildung und das
Instrument zur Durchführung konkreter und vitaler Aufgaben, die
zwischenzeitlich über den Interessenkreis der in Deutschland
lebenden Juden weit hinausgehen. Besonders deutlich wurde dies bei
der Wahl von Ignatz Bubis sel. A. zum Präsidenten des European
Jewish Congress.
Wie sehr sich der Zentralrat
um die Bewahrung und Förderung eines lebendigen jüdischen Lebens in
Deutschland bemüht und verdient gemacht hat, zeigt eine Vielzahl von
Projekten, von denen hier nur einige wenige beispielhaft erwähnt
werden können. So wurde mit Beginn des akademischen Jahres 1979/80
in Heidelberg die Hochschule für Jüdische Studien eröffnet.
Kandidaten, die das Rabbinerdiplom erwerben wollen, werden eine
akademische Vorbildung, Kantoren, Sozialarbeitern und
Verwaltungskräften für Jüdische Gemeinden eine akademische
Ausbildung geboten. In diesem Jahr wird ein Rabbinerseminar und die
Einrichtung des Ignatz-Bubis-Lehrstuhls folgen. Die Bedeutung dieser
Hochschule aus historischer Sicht kann nicht hoch genug eingeschätzt
werden. Mit ihrer Gründung hat der Zentralrat ein Zeichen gesetzt,
kontinuierlich jüdisches Geistespotenzial in Deutschland zu sichern
und weiter aufzubauen.
Hinsichtlich des Aufbaus
sozialer Strukturen und vor allem der Gewährung dringend benötigter
Hilfen für die bedürftigen Flüchtlinge und ehemaligen
Schoah-Überlebenden gründete der Zentralrat fast zeitgleich mit sich
selbst die Zentralwohlfahrtsstelle (ZWSt). 1945 war von der "alten
ZWSt" nichts und niemand mehr übrig geblieben, und trotzdem
entstanden relativ rasch neue Strukturen eines sozialen Netzes, die
bis heute unverzichtbarer Bestandteil des jüdischen Lebens in
Deutschland sind.
Auch der stetig wachsenden
Aufgabe einer umfassenden Information über das jüdische Leben in
Deutschland, im Ausland und auch in Israel hat der Zentralrat von
Anfang an Rechnung getragen. Die 1946 erstmals erschienene
Allgemeine Jüdische Wochenzeitung (AJW) diente zunächst
als Kontakt zwischen den wenigen jüdischen Überlebenden und den
Gemeinden. [...]
Die Vielfalt der Aufgaben des
Zentralrats zu beschreiben, ohne dabei auf die Beziehungen zu den
gesellschaftlich relevanten Kräften in Deutschland einzugehen, wäre
ein höchst unvollständiges Bild. Vielen Betrachtern bleibt eher
vorborgen, dass der Zentralrat eine Vielzahl von intensiven
Kontakten zu politischen Parteien, Verbänden, Kirchen,
Jugendorganisationen und anderen relevanten Gruppen des öffentlichen
Lebens unterhält. Trotz Öffentlichkeitsarbeit und trotz des stetigen
Kampfs gegen Antisemitismus und Diskriminierung musste der
Zentralrat immer wieder bittere Niederlagen einstecken. Zum Katalog
dieser Enttäuschungen gehört die Bagatellisierung des
millionenfachen Mordes, die Glorifizierung von Taten des
Nazi-Terrorregimes und die - auch heute noch vorhandene - Neigung,
alte antisemitische Klischees in zahlreichen Publikationen wieder zu
beleben. Auch die Walser-Bubis-Debatte gehört in diese Kategorie.
Der Zentralrat sieht es als eine seiner wesentlichen Aufgaben an,
die relevanten politischen Kräfte für den Kampf gegen die
Ewiggestrigen zu gewinnen. Am Erfolg dieser Bemühungen und der
Bereitschaft der nicht jüdischen Bevölkerung, darauf zu reagieren,
wird sich zukünftig messen lassen, ob jüdisches Leben in Deutschland
wieder zur Normalität geworden ist.
Neben dem Kampf gegen
Antisemitismus und Diskriminierung hat sich der Zentralrat aber
stets auch in den Fragen der Entschädigung von Schoah-Überlebenden
engagiert. Der Zentralrat kann daher mit Recht für sich in Anspruch
nehmen, dass er über die Jahre maßgeblich, zusammen mit anderen
jüdischen Organisationen, an der Gesetzgebung des Deutschen
Bundestages im Bereich der materiellen Entschädigung von
nationalsozialistischem Unrecht beteiligt gewesen ist und so ein
beispielloses Gesetzgebungswerk geschaffen werden konnte. Auch die
in den letzten Jahren erreichten Entschädigungsprogramme für die
Überlebenden in Osteuropa, wie die Einrichtung der Stiftung zur
Entschädigung von ehemaligen Zwangsarbeitern, wären ohne die oft
unauffällige Beteiligung des Zentralrats und seiner führenden
Persönlichkeiten nicht vorstellbar gewesen.
Die letzten zehn Jahre seit
der Vereinigung Deutschlands und vor allem unsere Gegenwart sind von
einer neuen Epoche geprägt. Die Zahl der Gemeindemitglieder hat sich
durch die Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion verdreifacht.
In den kommenden Jahren erwarten wir nach den vorliegenden Zahlen
weitere dreißigtausend Zuwanderer. Dies stellt die Gemeinden und
damit den Zentralrat und die ihm angeschlossenen Landesverbände und
Gemeinden vor die große Herausforderung der Integrationsarbeit.
Eine weitere und nicht
weniger wichtige Herausforderung stellt die stärkere Einbeziehung
der jüngeren Generation in die Arbeit der Jüdischen Gemeinden und
der jüdischen Gremien dar. Dabei spielt vor allem die Attraktivität
der Gemeinden für potenzielle Gemeindemitglieder und der Anreiz zur
Teilnahme am religiösen Leben eine besondere Rolle. Von besonderer
Bedeutung ist dabei die Frage, ob wir eine praktikable Antwort zur
Anerkennung und Garantie der religiösen Vielfalt nach dem Modell der
Einheitsgemeinde finden. Die Kontinuität des jüdischen Lebens in
Deutschland findet nur dann eine Garantie, wenn wir trotz aller
Unterschiede einen Weg finden, alle Kräfte und religiösen Richtungen
gleichberechtigt nebeneinander einzubinden.
Im Rückblick lässt sich trotz
einiger kritischer Stimmen feststellen, dass sich der Zentralrat als
Institution in den vergangenen fünfzig Jahren bewährt hat. Mein
besonderer Dank gilt dabei meinen Vorgängern im Amt, die ich hier
namentlich nennen möchte: Heinz Galinski, Herbert Lewin, Werner
Nachmann und ganz besonders Ignatz Bubis. Sie alle haben den Weg der
letzten fünfzig Jahre mit ihrem Engagement und ihrem intensiven
Einsatz maßgeblich geprägt und den Zentralrat stets unterstützend
begleitet.
Zitate:
Im Kampf gegen den Antisemitismus musste der Zentralrat bittere
Niederlagen einstecken
Wir erwarten weitere 30.000 Zuwanderer - eine große Herausforderung
für die Integrationsarbeit
taz-Debatte
taz Nr. 6196 vom 19.7.2000
Kommentar PAUL SPIEGEL
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haGalil onLine
19-07-2000
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