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Eigentlich
war der Journalist Fabrizio Coisson ganz privat unterwegs, als er
vor einigen Wochen über Roms Flohmarkt Porta Portese schlenderte,
auf der Suche nach antiquarischen Titeln für seine Bibliothek. Und
eigentlich wirkten die vier in billige Pappe gebundenen Bände, die
da aus dem Karton eines der Trödler hervorlugten, nicht gerade wie
bibliophile Sammlerstücke.
Doch kaum schlug
Coisson den ersten Band auf, wurde der Journalist im Büchernarr
wieder wach. Eine handschriftliche Note, unterzeichnet von einem
gewissen Osborne, informierte über den Inhalt: "Allied News
Bulletins", die von September 1940 an alle zwei Tage "to the Pope"
gingen, an Papst Pius XII.
Der Autor, Sir
DArcy Godolphin Osborne, war seit 1936 britischer Botschafter am
Heiligen Stuhl, und er hatte nach Italiens Kriegseintritt Zuflucht
hinter den Mauern des Vatikans gefunden. Tag für Tag hörte er von
dort drei Jahre lang die BBC-Nachrichten ab, fasste die wichtigsten
Ereignisse in britisch-nüchterner Diktion auf eng beschriebenen
Seiten zusammen.
Meist geht es da
um den Kriegsverlauf, wird Ihre Heiligkeit zum Beispiel informiert,
dass die Bombardierung Londons "geringe Schäden verursacht und nur
wenige Opfer gefordert hat". Doch vom Herbst 1940 an werden auch die
Judenverfolgungen und die Situation in den deutsch besetzten Staaten
angesprochen. Osborne schreibt: "Die Deutschen fachen in Ungarn,
Rumänien und Bulgarien den Antisemitismus an" (17. Oktober 1940);
"schreckliche Nachrichten über die Lage in Polen: drei Millionen
Polen sind getötet worden" (21. September 1940). Im weiteren
Kriegsverlauf werden die Meldungen über die Judenvernichtung
präziser: "In der Slowakei wurden 77 Prozent der jüdischen
Bevölkerung an unbekannte Orte deportiert; dies bedeutet
wahrscheinlich ihren Tod" (7. Januar 1943). "Die Zahl der Juden im
Warschauer Ghetto ist von 400.000 im letzten Juli auf jetzt nur noch
35.000 gesunken" (20. Januar 1943).
Fabrizio Coisson
spielt die Bedeutung der Papiere herunter. "Wirkliche Sensationen
finden sich da drin nicht", meint er achselzuckend, "und außerdem
spricht Osborne die Judenverfolgung nur sporadisch an." Ungelegen
dürften die Osborne-Bulletins dem Vatikan dennoch kommen, hegt doch
Papst Woytila die Absicht, Pius XII. im Doppelpack mit Johannes
XXIII. heilig zu sprechen (ein schönes Beispiel katholischer
Proporzpolitik). Mag sein, dass die Osborne-Meldungen kein
grundlegend neues Bild von Pius XII. schaffen, doch sie
vervollständigen das Bild von einem Papst, der schon früh Kenntnis
von der Vernichtung der Juden hatte und dennoch sein Schweigen nicht
brach.
Coisson nimmt
Pius mit dem Hinweis in Schutz, die Deportation der 1.000 Juden aus
Rom im Oktober 1943 sei Osborne nur die Bemerkung wert gewesen, die
Deutschen brächten nun auch in Italien "antisemitische Maßnahmen zur
Anwendung". In diesem Falle aber musste der Papst nicht erst durch
britische Quellen informiert werden. Die Juden Roms wurden direkt an
den vatikanischen Mauern vorbei zum Bahnhof getrieben. Laut flehten
sie den Papst um Hilfe an - eine Antwort erhielten sie nicht.
taz Nr. 6155
vom 30.5.2000
TAZ-Bericht MICHAEL BRAUN
haGalil onLine
01-06-2000
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