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Die Jüdische Gemeinde zu Berlin
lässt ihre Mitgliedschaft in einem weltweiten liberalen Gemeindeverbund
ruhen - obwohl sie zu den Gründern gehörte. Zugleich strebt der
schwelende Konflikt um die Kündigung des liberalen Rabbiners Rothschild
seinem Höhepunkt zu
Wer Augen hatte zum Sehen, der sah:
Der kompakte Rabbiner Walter Rothschild öffnete leise die Tür und warf
durch seine immense Brille einen kurzen Blick durch den Saal. Dann
senkte er den Kopf, den ein großer schwarzer Hut ziert, schlich sich an
dem Tisch vorbei, an dem er früher sitzen durfte und verdrückte sich in
die letzte Stuhlreihe. Sein Chef, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde
zu Berlin würdigte ihn keines Blickes. Nicht für eine Sekunde unterbrach
Andreas Nachama seine Rede. Es sollte ein schwarzer Abend für Rabbiner
Rothschild und das liberale Judentum in Deutschland werden.
Denn am Mittwoch eskalierten in der
"Repräsentantenversammlung", dem Berliner Gemeindeparlament der größten
jüdischen Gemeinde der Bundesrepublik, zwei Konflikte von bundesweiter
Bedeutung, die seit Monaten brodeln und um die Frage kreisen: Wie
liberal soll das deutsche Judentum sein? Es ging um den Rang der
liberalen Juden hier zu Lande und die Kämpfe um den einzigen liberalen
Rabbiner, der in einer Einheitsgemeinde angestellt ist - angestellt war.
Rothschild wurde am 16. Februar fristlos gekündigt, ohne Begründung.
Die Kündigung fand weltweit
Beachtung: Während das deutsche Judentum der Vorkriegszeit einen starken
liberalen Zweig hatte (so gab es in Berlin die erste Rabbinerin
überhaupt), waren nach der Shoah die hier gestrandeten Juden aus dem
Osten mehrheitlich orthodox. Zugleich wurden in Deutschland
Einheitsgemeinden gegründet, die alle Strömungen vereinen sollten. Da
die meisten Mitglieder orthodox waren, hatten die Gemeinden mit Ausnahme
Berlins keine liberalen Rabbiner.
Auch deshalb ist Rabbi Rothschild
von solcher Bedeutung. Der gebürtige Engländer wurde 1998 von einer
Südseeinsel ins kalte Berlin gebracht. Er sollte sich um mindestens fünf
Synagogen kümmern. In einer gab es rasch Stunk: Das Gotteshaus in der
Pestalozzi-Straße, das als Hauptsynagoge gilt, versteht sich zwar als
liberal, hat aber die Fortentwicklung des liberalen Judentums in den USA
und England, wo Rothschild geprägt wurde, nicht mitgemacht. Gleichzeitig
ist es keineswegs orthodox, denn es gibt einen gemischten Chor und eine
Orgel - ein orthodoxer Rabbiner kann dort nicht amtieren.
Der witzige und unkonventionelle
Rothschild eckte schon nach drei Monaten an, weil er in einer Predigt
eine Kondomschachtel zeigte - Leute, die es wissen müssen, sagen: Schon
da stand er kurz vor seiner Entlassung. Mit Mühe habe ihn Andreas
Nachama, der ihn geholt und sogar aus seinem Südseevertrag herausgekauft
hatte, halten können. Aber die Konflikte brachen nicht ab. Auch wenn
weder Nachama noch Rothschild darüber offiziell mit der Presse reden
wollen - in der Gemeinde ist bekannt, dass Nachamas Vater, der hoch
angesehene, in ganz Europa bekannte Oberkantor Estrongo Nachama, nichts
mit Rothschild anfangen konnte. Estrongo, der die Synagoge Jahrzehnte
prägte, habe es nicht vertragen, dass jemand den Ritus so anders
gestaltete. Seit etwa sieben Monaten ist es Rothschild verboten, dort zu
predigen.
Als Estrongo Nachama im Januar
starb, hätte sich die Situation vielleicht beruhigen können, stattdessen
gewann sie noch an Dramatik. Die Repräsentantenversammlung beschloss die
Kündigung Rothschilds. Der beklagte sich öffentlich, sie sei in einer
Nacht-und-Nebel-Aktion durchgepeitscht worden. In der
Repräsentantenversammlung ist dagegen zu hören, es sei alles koscher
gelaufen. Zudem hätten die Repräsentanten den Entschluss noch einmal
einstimmig bekräftigt. Der Konflikt mit Estrongo Nachama scheint auch
nur die halbe Geschichte zu sein: Doch die ganze wollen weder Andreas
Nachama noch Rothschild erzählen, da sie offenbar Dritte betrifft. "Ich
schweige eisern", sagt Nachama - trotz der Vorwürfe gegen seinen Vater.
Am Mittwoch drohte nun der ganze
Konflikt wieder in der Öffentlichkeit breit getreten zu werden: Die
Repräsentantenversammlung sollte über die Frage beraten, ob in der
Gemeindezeitschrift jüdisches berlin der Abdruck von Leserbriefen
verhindert wurde, die sich für Rothschild aussprachen. Ein paar
Demonstranten forderten mit Plakaten vor dem Saal. "Demokratie und
Transparenz für alle".
Doch die Repräsentantenversammlung
befasste sich inhaltlich gar nicht mit dieser Frage. Nachama erklärte,
er habe nie irgendein Veto gegenüber Briefen ausgesprochen. Keiner der
15 anwesenden Repräsentanten schlug sich auf die Seite der
Rothschild-Verteidiger. Es wurde lediglich beschlossen, dass in Zukunft
das dreiköpfige Präsidium des Gemeindeparlaments "verantwortlich im
Sinne des Presserechts" sein sollte. Ein Demonstrant, der zugleich im
Vorstand einer liberalen Synagoge ist, wertete dies als Rückschlag für
die Forderungen nach mehr Offenheit. Doch es kam noch dicker für
Rothschild und die liberalen Juden. Andreas Nachama erklärte seinen
Rücktritt aus dem Führungsrat des Weltverbandes liberaler Juden, der
World Union for Progressive Judaism. Er fühlte sich brüskiert vom Leiter
des Verbandes, Rabbi Richard Block. Dieser war eingeladen worden, in der
Repräsentantenversammlung zu sprechen. Er sollte zu Vorwürfen Stellung
nehmen, die deutsche Tochterorganisation seines Verbandes spalte das
deutsche Judentum (siehe Kasten). Doch Block hatte auf die Einladung von
Nachama nur schriftlich, in einem englischsprachigen Brief geantwortet.
Obwohl wenige Tage zuvor sowieso in Berlin, fand er keine Zeit, das
Gemeindeparlament zu besuchen.
Die Parlamentarier waren beleidigt
über Blocks Verhalten. Sie hoben das Thema überraschend auf die
Tagesordnung und votierten mit klarer Mehrheit dafür, die Mitgliedschaft
im Verband ruhen zu lassen. Entsetzt über die Entscheidung zeigte sich
Julius Schoeps. Der Repräsentant ist Leiter des Moses Mendelssohn
Zentrums für europäisch-jüdische Studien in Potsdam, dem ein Kolleg zur
Ausbildung liberaler Rabbiner angegliedert ist. Die Ausbildungsstätte
steht der deutschen Tochterorganisation der World Union nahe. Der
Geschichtsprofessor zeigte auf das Bild des legendären Berliner
Rabbiners und World-Union-Mitgründers Leo Baeck an der Stirnseite des
Saales und fragte, ob man ihn nun abhängen wolle. Stehend erklärte
Schoeps, er werde aus Protest seine Mitgliedschaft in der Versammlung
ruhen lassen, "bis sich die Dinge klären".
Rabbi Rothschild, ausgebildet am
liberalen Leo-Baeck-Institut in London und auch Mitglied der World
Union, sagte nach der Entscheidung gegen elf Uhr nachts, er sei
"deprimiert" über den Beschluss. Dies sei "für Berlin katastrophal",
meinte er noch. Dann stand Rothschild von seinem Stuhl in der letzten
Reihe auf, um zu gehen. Nachama dagegen kommentierte trocken, nun müsse
sich die World Union in Deutschland eben auf andere Gemeinden als die
Berliner stützen - auch die gemeinsame liberale Ausrichtung des
Gemeindevorsitzenden und seines umstrittenen Rabbis verbindet die beiden
nicht mehr. Am Montag wird das Schiedsgericht des Zentralrats in Berlin
über die Klage Rothschilds gegen seine Kündigung beraten.
in taz-Berlin vom
14.4.2000
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17-04-2000
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