Der Holocaust sei eine israelische
Erfindung, die den Zionisten dazu diene, 'die Weltherrschaft zu übernehmen'. Mit
dieser Erfindung manipuliere Israel 'die Intellektuellen und Politiker der
internationalen Gemeinschaft', damit diese - gegen ihren Willen - den
'zionistischen Unrechtsstaat' weiter politisch und finanziell unterstützten.
Dies stellte Anfang Februar die halbstaatliche syrische Zeitung Tishrin fest.
Radio Damaskus legte kurze Zeit später
nach und erklärte, 'die wahren Nazis des 20. Jahrhunderts' seien die
israelischen Truppen auf dem Golan, im Südlibanon und der Westbank, und das
'Gerede über den Holocaust' solle nur von dem Terror ablenken, den Israel dort
ausübe. Große Teile der israelischen Öffentlichkeit reagierten: Sie verglichen
die Tishrin mit dem Stürmer, man attestierte den Syrern, das Erbe der Nazis
angetreten zu haben.
Solche arabischen Aktionen und
israelischen Reaktionen, in denen beide Seiten sich mit Bezügen zur deutschen
Geschichte beschimpfen, sind seit langem Bestandteil des Krieges zwischen Israel
und seinen arabischen Nachbarn. Vor dem Sechs-Tage-Krieg etwa drückte sich in
Israel die Furcht, die Araber könnten die von Radio Kairo täglich wiederholte
Drohung wahr machen, alle Juden 'ins Meer zu schmeißen', in Begriffen wie
'Vernichtung' und 'Auslöschung' aus, die bis dahin der Beschreibung des
Schicksals des europäischen Judentums vorbehalten gewesen waren.
Wenn die Angst der Israelis vor den
Palästinensern ihre Wurzeln auch in den zeitweisen Kollaboration
palästinensischer Führer wie des Muftis von Jerusalem, Mohammed el-Husseini, mit
den Nazis hatten, kommt die israelische Reaktion doch in die Nähe einer
simplifizierenden historischen Analogie: Trotz Verbalradikalismus,
Geschichtsfälschung und terroristischen Attacken - der arabische Antisemitismus
ist nicht mit der Ausrottungspolitik der Nazis gleichzusetzen.
Obwohl die Geschichte der zionistischen
Bewegung bis ins 19. Jahrhundert zurückgeht und die Schaffung eines Judenstaates
lange vor der Vernichtung des europäischen Judentums anvisiert war, ist es der
Holocaust, der das israelische Selbstverständnis nachhaltig prägt. Nur die
Errichtung eines eigenen Staates, so die Schlussfolgerung, biete die Sicherheit,
dass sich die Vernichtung niemals wiederholen werde.
Deshalb war und ist für die arabische
Seite der Kampf gegen den Zionismus und den Staat Israel auch ein Kampf gegen
die israelische Form der Erinnerung an die Shoah. Alle Versuche, den Holocaust
zu leugnen oder ihn zu einer israelischen Erfindung zu erklären, ebenso wie die
Tradition, sich zu den wahren Opfern einer angeblich nazi-ähnlichen Form der
Verfolgung zu machen, zielen auf die Legitimit des jüdischen Staates.
So druckte etwa das PLO-Journal Al
Istiqlal 1989 einen Artikel mit der Überschrift 'Die Gaskammern waren die größte
Lüge des 20. Jahrhunderts'. Darin wurde unter anderem behauptet,
nationalsozialistische Konzentrationslager seien 'wesentlich zivilisiertere Orte
gewesen als es israelische Gefängnisse heute sind'. Solche Chiffren wurden -
angereichert mit Bildern und Symbolen aus der nationalsozialistischen
Vernichtungspraxis - mit dem palästinensischen Opfer- und Märtyrermythos
verknüpft. Zahllos sind die Beispiele, in denen israelische Flüchtlingslager und
Gefängnisse nicht nur mit deutschen Konzentrationslagern gleichgesetzt, sondern
die palästinensische Realität in einer Terminologie dargestellt wird, die sonst
den NS-Lagern vorbehalten bleibt.
Dies wiederum verstärkte die Haltung
Israels, die arabischen Führer - vor allem die Palästinenser - zu Erben der
Nazis zu erklären. Der israelische Autor Tom Segev, dessen Buch 'Die siebte
Million: der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung' auch in Deutschland
Aufsehen erregte, stellte fest, dass es in Israel 'noch keinen bedeutenden
arabischen Führer gegeben hat, der nicht irgendwann als 'arabischer Hitler'
tituliert wurde'. Segev zielt auf einen verborgenen Aspekt des israelischen
Selbstverständnisses: Der Unabhängigkeitskrieg gegen die arabischen Armeen 1948
wurde, folgt man seiner Argumentation, auch mit dem Ziel eines nachholenden
militärischen Siegs der Juden über ihre Feinde - vor allem die
Nationalsozialisten - geführt. Die Legitimation dieses Krieges sei dann zum
festen Bestandteil der zionistischen Staatsräson geworden.
Erst Ende der achtziger Jahre begannen
israelische Historiker und Publizisten, diesen stillen Gründungskonsens des
jüdischen Staates in Frage zu stellen. In einem 1998 erschienenen Aufsatz über
Israel und den Umgang mit dem Holocaust bemerkte erneut Tom Segev, eine
Verständigung zwischen jüdischen Israelis und Palästinensern sei nur möglich,
'wenn die Israelis lernen, sich mit der Tragödie der Palästinenser zu
identifizieren, und wenn die Palästinenser den Stellenwert des Holocausts in der
Welt der Israelis begreifen'.
Da bisher von arabischer Seite hierzu
kaum Reaktionen kamen, ist ein kürzlich in der in London verlegten arabischen
Tageszeitung Al-Hayat erschienener Beitrag umso bemerkenswerter, der als eine
erste arabische Antwort auf Segevs Veröffentlichungen gelesen werden kann. Unter
dem Titel 'Universalizing the Holocaust' kritisieren Hazem Saghiyeh und Saleh
Bashir, zwei im Libanon lebende Publizisten, die bisherige
arabisch-palästinensische wie auch die israelische Auseinandersetzung mit dem
Holocaust und schlagen eine neue Grundlage der Diskussion vor.
Saghiyeh und Bashir vergleichen die
europäische Diskussion über den Holocaust mit der abwehrenden oder bestenfalls
reservierten Haltung, die arabische Intellektuelle einzunehmen pflegen. Dass
beispielsweise Frankreich von seiner bisherigen Selbst-Wahrnehmung als Opfer und
Gegner des Nationalsozialismus abrückt und Mitschuld an der Deportation
französischer Juden einräume, dass auch in so genannten neutralen Ländern wie
Schweden oder der Schweiz ähnliche Debatten geführt werden, sei keinesfalls -
wie von arabischer Seite oft behauptet - ein weiterer Sieg der 'weltweit
agierenden zionistischen Lobby'.
Die Autoren konstatieren vielmehr, in
Europa entwickle sich ein neues Verständnis der eigenen geschichtlichen
Verstrickung in die Vernichtung des europäischen Judentums. Obwohl der Titel des
Artikels erwarten ließe, dass Saghiyeh und Bashir sich auf die neuesten
deutsch-europäischen 'Universaldiskurse' über die globalen Lehren des Holocaust
beziehen, vermeiden sie jeden Querverweis auf die aktuellen Debatten um die
vermeintliche Wiederkehr von Auschwitz im jugoslawischen oder tschetschenischen
Krieg. Somit fehlt auch die Funktionalisierung der Diskussion in Deutschland,
sich nun als ein 'normales' Land unter anderen darzustellen.
Ihr Ansatz konzentriert sich allein auf
den Nahen Osten, wo es ihrer Meinung nach weniger um Fragen der Landverteilung
und Sicherheit gehe, als darum, 'wie Araber und Palästinenser sich gegenüber dem
Holocaust und wie die Juden sich gegenüber den palästinensischen Opfern
verhalten'. Erst eine konstruktive Beantwortung dieser Frage könne die Grundlage
einer wirklichen Koexistenz in der Region sein.
Um eine Ebene gegenseitiger Verständigung
zu erreichen, müssten die Palästinenser endgültig darauf verzichten, sich als
die wahren Opfer des Holocaust zu inszenieren oder diesen gleich ganz zu
leugnen. Bisher nämlich hätten sie mehrheitlich 'den weit verbreiteten Glauben
übernommen, dass eine Bestätigung des Holocausts die Anerkennung des
Existenzrechtes des israelischen Staates beinhalte. Deshalb zogen sie es vor,
seine Realität entweder anzuzweifeln oder ihn sogar mit heiterer Gelassenheit zu
leugnen.' Der Holocaust müsse als 'das schrecklichste Kapitel der bisherigen
Menschheitsgeschichte' begriffen werden.
Aber ohne Relativierungen, kommen auch
Saghiyeh und Bashir nicht aus: Die jüdische Leidensgeschichte müsse als
universale verstanden werden; heute hätten etwa 'die Türken in Deutschland, die
Algerier in Frankreich und die Schwarzen überall auf der Welt unter
rassistischer Verfolgung zu leiden, die, trotz aller Unterschiede, Kontinuitäten
mit der Unterdrückung der Juden aufweist, welche im Holocaust kulminierte'. Die
aus dem Holocaust zu ziehenden Lehren, dass Ähnliches nie wieder geschehen
dürfe, hätten zudem längst den Horizont einer exklusiv jüdischen Perspektive
transzendiert und seien integraler Teil des 'Gedächtnisses der Menschheit'
geworden.
Würde sich diese Erkenntnis in der
arabischen Diskussion durchsetzen, so Saghiyeh und Bashir, wäre keinesfalls das
Unrecht geschmälert, das den Palästinensern seit Gründung des Staates Israel
angetan worden sei. Im Gegenteil könnte von Israel eine neue Form der
Verantwortlichkeit gegenüber den Palästinensern und ihrer geschichtlichen
Erfahrung eingefordert werden. Sobald die palästinensische Gesellschaft sich mit
dem Holocaust auch als Teil ihrer eigenen Geschichte beschäftigte, würde sie
aufhören, dessen Realität und damit das Existenzrecht Israels zu leugnen und so
helfen, ein Klima gegenseitigen Vertrauens zu schaffen.
Diese Universalisierung aber werde nur
möglich, wenn Israel anerkenne, 'dass es auch andere Ungerechtigkeit gebe -
besonders die eigene gegenüber den Palästinensern'. Eine Koexistenz sei im Nahen
Osten nur dann möglich, wenn beide Seiten aufhörten, ausschließlich in ihrer
eigenen Geschichte zu leben und beginnen würden, die Geschichte des jeweils
anderen in die eigene zu assimilieren.
Der Artikel von Hazem Saghiyeh und Saleh
Bashir wurde mit dem 'Common Ground Award for Journalism in the Middle East' des
Lurie Fund for Investigative Journalism ausgezeichnet. Dieser Preis wird
jährlich für drei journalistische Beiträge vergeben, die sich mit der Suche nach
neuen Wegen in der arabisch-israelischen Verständigung beschäftigen. Die
Auszeichnung sowie die Tatsache, dass Ende Februar die israelische Tageszeitung
Ha'aretz den Beitrag dem israelischen Publikum vorstellte, weist darauf hin,
dass auch in Israel das Interesse an einer neuen Art der Auseinandersetzung
wächst.
haGalil onLine
23-04-2000
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