Berliner Zeitung - Artikel vom 7. März
2000
Marlies Emmerich
Das Entlassungsschreiben besteht aus zwei
dürren Zeilen: "Mit diesem Brief kündigen wir das Arbeitsverhältnis
fristlos, mit freundlichen Grüßen." Damit steht Walter Rothschild auf der
Straße. Doch trotz der Entscheidung des Gemeindevorstandes ist der liberale
Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin zuversichtlich, das Amt weiter
ausüben zu können. Denn der 46-jährige geborene Brite hat in Berlin auch
Unterstützer.
Drei von fünf Berliner Synagogenvorständen - die
beiden der traditionellen Synagogen am Kreuzberger Fraenkelufer und in der
Rykestraße in Prenzlauer Berg ebenso wie der Vorstand der egalitären
Synagoge in der Oranienburger Straße in Mitte - haben den Rabbiner wissen
lassen, dass es "nicht unser Wunsch" sei, sich von ihm zu trennen. Die
Vorstände wünschen, weiter mit dem unkonventionellen Mann zu arbeiten, der
auf so unkonventionelle Weise gekommen war.
Vor fast genau zwei Jahren hatte
Gemeindevorsitzender Andreas Nachama den Rabbiner Rothschild aus dessen
Vertrag mit der jüdischen Gemeinde in Aruba - einer karibischen Insel vor
der Küste Venezuelas - herausgekauft. Nachama wollte ihn dringend in der
wachsenden Berliner Gemeinde von rund 12 000 Mitgliedern haben, der
Rabbinerposten war seit Jahren vakant. Innerhalb kurzer Zeit musste
Rothschild mit seiner Frau, den beiden inzwischen sechs und zwölf Jahre
alten Jungen und der 14-jährigen Tochter nach Deutschland umziehen. Für den
ausgebildeten Lehrer ein oft praktizierter Vorgang. Nach dem Studium in
Cambridge und am Londoner Leo-Baeck-Rabbinercollege hatte es den "politisch
etwas links von der Mitte" stehenden Juden nach Wien, Prag, Bratislava,
München gezogen und dann auch noch zu "etwas Zagreb" hin.
Jetzt heißt es in der Berliner Gemeinde, der
Ärger habe gleich am Anfang begonnen. Ein Mitglied sagt, "der richtig nette
Kerl mit dem schwarzen englischen Humor" habe sich in vielen Dingen "blöde
benommen und sich jedenfalls nicht wie ein Rabbiner verhalten". Andere sehen
die Auseinandersetzung eher aus religiöser Sicht und werfen Rothschild vor,
zu liberale Positionen zu vertreten, etwa die Gebetsinhalte zu modern zu
gestalten. Wieder andere sagen, ihm fehle "die Hausmacht". Rothschild selbst
spricht von einer "wichtigen und heiligen Arbeit" in der "bunten Gemeinde".
Fünf Synagogen mit vier verschiedenen Gebetsbüchern und Kantoren sowie fünf
Gesangsbüchern machten das Leben "interessant und spannend." "Da muss man
selbst pluralistisch sein", sagt der Rabbiner. Rothschild räumt ein,
zwischen Nachama und ihm stimme die "persönliche Chemie" nicht. Für
Außenstehende mag das tatsächliche Problem - die Beterschaft in der größten
und einflussreichsten Synagoge in der Pestalozzistraße - schwer verständlich
sein. Das Gotteshaus hat einen gemischten Chor und eine Orgel, was kein
konservativer Rabbiner akzeptiert. Rothschild hingegen stören dort die
traditionellen Gebetsinhalte.
Noch Anfang Februar hatten die Mitglieder des
Kultusausschusses empfohlen, einen zweiten liberalen Rabbiner einzustellen,
um den Konflikt zu entschärfen. Die Repräsentantenversammlung, das
Gemeindeparlament, entschied dann Mitte Februar hinter verschlossenen Türen
über den Fall. Nach Angaben von Repräsentant Julius Schoeps soll noch einmal
eine gütliche Lösung mit Rothschild vorgeschlagen worden sein, andere sagen,
neun von eigentlich 21 Stimmen der Repräsentanz hätten für die Kündigung
gestimmt. Manche reden von einem "geheimen Tribunal" der anwesenden elf
Mitglieder.
Am Montag hat Rothschild vorsichtshalber einen
Anwalt eingeschaltet. "Wenn es total nötig ist", schließt Rothschild nicht
aus, das Schiedsgericht beim Zentralrat der Juden in Deutschland anzurufen.
Doch nach der Entlassung Rothschilds stehen die Synagogen vorerst wieder
ohne Rabbiner da.
Der Wirbel um die Kündigung (vor den Synagogen
kursieren Flugblätter zum "Mobbing") zeigt nur ein Beispiel für die
Zerrissenheit der Einheitsgemeinde. Andere Streitfälle - so um
internationale Positionierung oder Personalfragen - schwelen, angekündigte
Misstrauensanträge werden nicht eingebracht. "Der ganze Vorstand wackelt
ohnehin schon", sagt Schoeps. Über die wirklich großen Konflikte soll am 12.
April geredet werden.