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Ferner erwachse den Juden aus dem Mysterium heraus, Gottes auserwähltes Volk zu
sein, weltweit der Auftrag zu einer universellen Ethik. Gegen die Grunderfahrung
des Andersseins helfe auch nicht Assimilation - das habe die Erfahrung der
deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert gezeigt, so Hertzberg in der
Disput-Sendung weiter.
Das jüdische Schicksal weise heutzutage auf die Schwierigkeit hin, wie
Mehrheiten mit Minderheiten umgehen, so Hertzberg. In den Vereinigten Staaten,
wo der im osteuropäischen Ost-Galizien geborene Hertzberg seit seiner Kindheit
lebt, sei Toleranz gegenüber fremden Kulturen mit eigenen Identitäten weit
verbreitet. Hertzberg habe es allerdings besondere Überwindung gekostet, nach
Deutschland zu kommen, nachdem 37 Mitglieder seiner Familie durch die
Nationalsozialisten umgebracht wurden.
Hertzberg bekennt im "Baden-Badener Disput", dass er anlässlich des Erscheinens
seines Buches "Wer ist Jude" im Münchner Hanser Verlag erst jetzt zum ersten Mal
nach Deutschland gereist ist: "Ich will eine Brücke bilden zu den Urenkeln
meiner Generation."
Der französischen Politologe Alfred Grosser, der als Kind mit seinem
deutsch-jüdischen Vater 1933 von Frankfurt am Main nach Frankreich emigrierte,
hält Hertzberg in der von der Literaturwissenschaftlerin Gertrud Höhler
moderierten Disput-Runde dagegen: "Man verliert seine Identität nicht, wenn man
sich anpasst." Demnach könne man Jude im religiösen Sinne sein und zugleich
patriotischer Bürger seines Landes.
Der in Israel und Deutschland lehrende Historiker Dan Diner weist in dieser
Gesprächsrunde darauf hin, dass Säkularisation auch in Israel immer religiös und
kulturell gebunden sei. So stelle etwa die israelische Fahne den Gebetsschal
dar, ein zutiefst jüdisches Symbol. Diese Symbole reichten tief in die Psyche
der Menschen hinein, unabhängig davon, ob sie sich als Atheisten oder im
religiösen Sinne als Juden verständen. Freilich, so Diner weiter, färbe der
Holocaust die Wahrnehmung des Vergangenen: "Hitlers Taten bestätigen im
negativen Sinne gewisse Bilder des Auserwähltseins." Das jüdische Schicksal sei
aber schon lange vor der Vernichtung der europäischen Juden durch die
Nationalsozialisten eine Bürde gewesen.
Hertzberg wies in der Sendung darauf hin, dass die "Befreiung der Juden" erst
mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert begonnen hätte und ein Experiment gewesen
sei, das 200 Jahre bis zum Dritten Reich währte. Der Philosoph Christoph Türcke
geht bis in die Anfänge der Zivilisation zurück, um die Erfahrung des
Erwähltseins als etwas Schreckliches zu belegen: In archaischen Zeiten seien
diejenigen in einem Kollektiv auserwählt worden, die für die Gruppe geopfert
werden sollten. Im Alten Testament bekam der Erwählungsgedanke für die Juden
dann eine ganz besondere Wendung, so Türcke im Südwest-Disput weiter.
SWR 3/3/2000
haGalil onLine 01-03-2000
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