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Generationswechsel
und Wandel des Selbstverständnisses
Wer auch immer
Ignatz Bubis beerben wird, muss sich dem Generationswechsel und dem daraus
folgenden Wandel des Selbstverständnisses stellen. Der Massenmord an den
Juden wird von einer Sache des öffentlichen Zeugnisses und der persönlichen
Erinnerung zu einer Aufgabe für das kulturelle Gedächtnis: Schulbücher,
Denkmale, Filme, TV-Dokumentationen und Internet-Angebote treten an die
Stelle der letzten Überlebenden, die um der guten Sache der Aufklärung und
Erinnerung willen vor Schulklassen und SPD-Ortsvereinen die Pein eines
Seelen-Striptease auf sich nehmen und ihr Martyrium erzählen.
Ins Positive gewendet,
sagt Salomon Korn, bedeute dies, dass die Juden in Deutschland künftig
"weniger auf eine Holocaust-Identität setzen müssen und mehr auf die
Ausbildung positiver Werte des Judentums: Tradition, Religion, Wissen um die
eigene Herkunft, die Vermittlung von jüdischem Allgemeinwissen."
Damit kommt die zweite,
wahrscheinlich viel schwierigere Aufgabe in den Blick: die Integration der
großen Zahl von Einwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion, die in den
vergangenen zehn Jahren die jüdische Gemeinschaft auf ein Dreifaches hat
anschwellen lassen. Zwischen dem Ende der sechziger und dem Ende der
achtziger Jahre waren in Deutschland konstant 27.000 bis 28.000 Juden als
Gemeindemitglieder registriert. Ende 1998 waren es schon knapp 75.000.
Vielfach werden die Einwanderer schlicht und fälschlich "Russen" genannt -
dabei überwiegen Ukrainer, Balten, Weißrussen und Kaukasier bei weitem.
Die dynamischste Gemeinschaft Europas
Auch mit demnächst
wohl mehr als 100.000 Gemeindemitgliedern bleiben die Juden in Deutschland
eine verschwindend kleine Minderheit gegenüber etwa zwei Millionen
Spätaussiedlern und sechs Millionen Ausländern - bei einer Bevölkerung von
80 Millionen Menschen.
Allerdings ist auch
nicht zu bestreiten, dass die jüdische Gemeinschaft in Deutschland derzeit
die dynamischste Europas ist, die einzige Diaspora-Community mit einem
rapiden Wachstum und den daraus folgenden Hoffnungen und Überforderungen.
Integration ist ein Allerweltswort. Im Fall der jüdischen Einwanderer
verbergen sich gleich zwei Aufgaben dahinter: Die Neuen müssen sich erstens
in die jüdische Gemeinschaft hineinfinden - und für viele heißt das
buchstäblich, sich zu "judaisieren", erst einmal grundlegendes jüdisches
Wissen zu erwerben. Und sie müssen sich zweitens mit den Institutionen und
Gepflogenheiten der kapitalistischen Gesellschaft der Bundesrepublik bekannt
machen.
Was aus dem Judentum in
Deutschland wird, ist heute offener denn je. Die intellektuelle Debatte hat
jüngst zwei scharf
entgegengesetzte Prognosen
hervorgebracht. Während der in Oxford lehrende Historiker Bernard
Wasserstein in seiner aufsehenerregenden Studie über die Vanishing Diaspora
schon ein baldiges "Europa ohne Juden" sieht, preist Diana Pinto, Beraterin
des Europarates, den "neuen jüdischen Ort" Europa.
Die Umbruchssituation in
der jüdischen Gesellschaft der Bundesrepublik spielt in beiden Szenarien
eine zentrale Rolle. Wasserstein bestreitet, dass von den Zuwanderern eine
Erneuerung des jüdischen Lebens ausgehen könne. Sie seien in der Mehrzahl
der Religion und den Traditionen des Judentums viel zu sehr entfremdet. "Wir
haben die letzte Szene des letzten Aktes des mehr als ein Jahrtausend
währenden jüdischen Lebens in Osteuropa vor uns", schreibt er. Der Judaismus
höre auf, eine religiöse Kraft im Alltag der meisten Juden Europas zu sein,
die traditionelle Gelehrsamkeit und die authentische jüdische Kultur stürben
aus. Was übrig bleibe, ist nach Meinung Wassersteins nichts als
Anatevka-Folklore, von der Kulturindustrie zum Konsum für Nichtjuden
aufbereitet.
Der finsteren
Niedergangsprophetie Wassersteins stellt Diana Pinto eine Hymne an die
kommende jüdische Renaissance entgegen: "Niemals zuvor in Europas
jahrtausendealter Geschichte haben Juden auf diesem Kontinent in derart
individueller und kollektiver Freiheit gelebt wie heute." Die europäischen
Juden würden sich, nach Jahrzehnten im Schatten des Massenmords, "ihrer
eigenen kollektiven Erfolgsstory im Westen und ihrer Wiedergeburt im Osten
bewusst". Niemals zuvor habe es "auf dem europäischen Kontinent derart
vorteilhafte Vorbedingungen für eine jüdische Renaissance gegeben". Das neue
europäische Judentum sei "insbesondere das Kind demokratischer Revolutionen
des Jahres 1989". Die Juden Europas sind nach Pinto kein verschwindender
Rest, der durch den Sog der Assimilation, durch niedrige Geburtenraten und
Abwanderung dahinschmelzen muss. Im Gegenteil: Sie seien freiwillig und
bewusst hier, und wenn sie sich dieser historisch neuen Lage erst einmal
bewusst seien, würden sie "eine der prinzipiellen Antriebskräfte" dieses im
Entstehen begriffenen Gebildes.
Das europäische Judentum
müsse sich dazu vom "Israel-Alibi" verabschieden und in seiner neuen
Selbstdefinition das Gedenken an die Schoah mit der Erinnerung an den
demokratischen Aufbruch von 1989 verbinden. Wo Wasserstein nur den
Ausverkauf ehrwürdiger Tradition in marktgängig folkloristischer Form zu
sehen vermag, erkennt Pinto ein echtes Interesse an jüdischem Wissen:
"Erstmals seit tausend Jahren sind die nichtjüdischen Europäer bereit, ihre
christliche Identität zu relativieren und jüdische Weisheit und Lehre in
gleicher Wertigkeit zu rezipieren."
· · Bernard
Wasserstein: Europa ohne Juden Das europäische Judentum seit 1945;
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999; 388 S., 75,- DM
· · Diana Pinto: Europa - ein neuer "jüdischer Ort" in: Menora. Jahrbuch
für deutsch- jüdische Geschichte 1999; Philo-Verlag, Berlin 1999; 386
S., 39,80 DM
· · Micha Brumlik (Hrsg.): Zuhause, keine Heimat? Junge Juden und ihre
Zukunft in Deutschland; Bleicher-Verlag, Gerlingen 1998; 216 S., 28,- DM
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Artikel zu diesem Thema:
DIE ZEIT 2/2000:
Nach 1945 schien ein Wiederbeginn
jüdischen Lebens in Deutschland undenkbar
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