„Wir waren zuerst hier!“

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Massada

Archäologie ist in Israel mehr als nur eine Wissenschaft. Ausgrabungen können schnell zu einem Politikum werden – vor allem in Jerusalem…

Von Ralf Balke

Wer irgendwo zwischen Jordan und Mittelmeer zu buddeln anfängt, der wird schnell auf Scherben, Münzen oder sonstige Artefakte aus der Vergangenheit stoßen. Und was für jeden Bauunternehmer ein Alptraum sein kann, nämlich die Entdeckung alter Gebäudestrukturen oder antiker Gräber, ist ein wahres Eldorado für die israelischen Archäologen. Aber nicht nur für sie. Denn auch im Streit darüber, wem nun was in der Region gehört, liefern die Ausgrabungsstätten quasi die Munition für den Krieg der Worte, der regelmäßig stattfindet. „In den meisten Staaten des Nahen Ostens ist die Archäologie noch heute eine nationale Aufgabe, und die Grabfunde haben politische Folgen“, brachte es einmal Amy Dockser Marcus, viele Jahre Korrespondentin des Wall Street Journals in Tel Aviv, auf den Punkt. Die Tatsache, dass so gut wie alle nationalen Symbole Israels und seiner arabischen Nachbarstaaten auf archäologischen Funden basieren, mag diese These unterstützen. Selbst das israelische Münzgeld der Gegenwart ist alten jüdischen Münzen aus antiker Zeit nachempfunden. Und auch die internationalen Medien machen munter mit. Wer über das Tagesgeschehen aus der Region berichtet, greift gerne auf alttestamentarische Figuren wie König David und König Salomon zurück oder bezieht sich schon mal auf Orte wie Armageddon – schließlich gehören das Land und seine Geschichte nicht nur in Israel zum Arsenal der kollektiven historischen Erinnerungen, sondern aufgrund seiner Wahrnehmung als Heiliges Land für die drei großen monotheistischen Religionen weiten Teilen der Welt.

Ein Beispiel aus jüngster Zeit verdeutlicht das Ganze: Erst Anfang des Jahres entdeckten Archäologen in der Cäsarea ein wunderschönes und bestens erhaltenes Mosaik, das schätzungsweise 1800 Jahre alt ist. Zu sehen sind Szenen aus dem Alltagsleben von damals und die Menschen, die das Land Israel bewohnten, darunter auch Juden. Genau deswegen war der Fund nicht einfach nur eine kleine Meldung irgendwo in der Zeitung, sondern tagelang Top-Thema auf allen Nachrichten-Kanälen. „Denn für die Israelis ist Archäologie mehr als nur ein nationales Hobby“, erklärt der politische Kommentator Micah Halperin in der Jerusalem Post, das Phänomen „Es grenzt geradezu an einer Obsession.“ Bereits Kinder und Jugendliche sind begeistert bei der Sache. So beteiligten sich allein im vergangenen Jahr über 2500 Schüler der 4. bis 12. Jahrgangsstufen an den Ausgrabungen in Modiin-Maccabim-Reut und förderten unter anderem alte Schmuckstücke aus der Kreuzfahrerzeit zutage. Wohl prominentester Freizeit-Archäologe war General-Legende Moshe Dayan, der bereits im Alter von neun Jahren antike Tongefässe auf einem Feld einsammelte und gerne auch schon mal ganz spontan eine Kabinettssitzung verließ, nur weil er von einer Ausgrabung in der Nähe hörte. „In dem er sich durch die Erde buddelte, konnte Dayan nach seiner eigenen Vergangenheit suchen und auf einer ganz besonderen Art mit der Geschichte kommunizieren“, schreibt der amerikanische Autor Rich Cohen. „Es war eine recht aggressive Variante der Archäologie, die er praktizierte. Statt sich durch Akten zu wälzen, arbeitete sich Dayan durch die Sedimentschichten.“ Und damit nähert sich Cohen auch dem eigentlichen Grund an, warum Archäologie eine israelische Leidenschaft ist. Dass Dayan dabei alles andere als professionell zur Sache ging und zahlreiche Funde einfach bei sich zuhause hortete, sei nur am Rande erwähnt.

„Es geht darum zu beweisen, dass Juden schon immer dorthin gehörten, wo heute der Staat Israel ist“, so Micah Halperin. „Steine und alte Ruinen sind so etwas wie die Belege dafür, dass sie seit den Tagen Abrahams hier lebten.“ Der Archäologie kommt also die Aufgabe zu, das Narrativ einer über Jahrtausende andauernden jüdischen Präsenz in der Region mit Fakten zu untermauern. So wie im Fall der wohl 3000 Jahre alten Tonscherben mit ihren hebräischen Textinschriften, die 2008 in Khirbet Qeiyafa, einer befestigten Stadt aus biblischen Zeiten knapp 30 Kilometer südwestlich von Jerusalem, wo der Legende nach David gegen Goliath gekämpft haben soll, ausgegraben wurden. Der definitiv bedeutsamste Fund aber waren die 1947 von einem beduinischen Schafhirten in einer Höhle bei Qumran am Toten Meer entdeckten Schriftrollen, die mit ihren 2000 Jahren die bis dato ältesten überlieferten Bibelabschriften sind. Und so darf es auch nicht verwundern, dass israelische Archäologen weltweit einen hervorragenden Ruf geniessen – nicht zuletzt deshalb, weil sie mittlerweile modernste Hightech bei der Untersuchung ihrer Artefakte benutzen und neue Wege gehen. Wie zum Beispiel Dr. Dafna Langgut von der Universität Tel Aviv, deren Fachgebiet die Archäobotanik ist. Sie beschäftigt sich mit botanischen Überbleibseln im archäologischen Kontext. „Zahlreiche weitere Informationen über das Leben der Menschen damals lassen sich durch die Analyse von fossilen Getreidepollen oder Phytolithen, also vorwiegend aus Pflanzenresten bestehendes kalkiges oder kieseliges Gestein, herausfiltern.“ Antike Müllplätze, wie eine kürzlich in Jerusalem entdeckte, sind wahre Goldgruben für sie.

Gerade dort zu graben kann aber schnell zum Politikum werden und wahre Krisen heraufbeschwören – vor allem rund um den Tempelberg. So werfen israelische Archäologen seit Jahren bereits dem Waqf, der religiösen Stiftung der Muslime, die das Areal in Jerusalem verwaltet, vor, sie würden bei Bauarbeiten Abraum systematisch entsorgen und nicht einer notwendigen wissenschaftlichen Untersuchung unterziehen. Auf diese Weise würde man gezielt alle historischen Spuren vernichten wollen, die auf die Existenz des einstigen jüdischen Tempels hinweisen könnten. Umgekehrt unterstellen die Muslime den Israelis immer wieder, sie würden durch Bauarbeiten und Ausgrabungen gezielt das Fundament der al-Aksa-Moschee beschädigen. Daraus entwickelte sich bereits eine regelrechte Verschwörungstheorie, die in der gesamten islamischen Welt seither die Runde macht. Und im September 1996 kam es zu Ausschreitungen, nur weil Israel einen antiken Tunnelgang von der Klagemauer zur Via Dolorosa geöffnet hatte. Damals starben 15 Israelis und 61 Palästinenser. Genau deswegen kann auch mal das israelische Verteidigungsministerium intervenieren und archäologische Untersuchungen stoppen – wie 2007, als beim Neubau einer zuvor eingestürzten Brücke am Mughrabi-Tor am Tempelberg bei Schachtarbeiten für die Bodenverankerungen auch Archäologen einen Blick auf das Areal warfen. Man wollte auf jeden Fall eine Wiederholung der blutigen Auseinandersetzungen von 1996 verhindern.

Welche Bedeutung das Thema im Kontext des Nahostkonflikts hat, zeigt die Tatsache, dass die Tinte auf dem Gaza-Jericho-Abkommen von 1993 noch nicht trocken war, als die gerade ins Leben gerufene Autonomiebehörde von Jassir Arafat als eine ihrer ersten Maßnahmen die Einrichtung eines palästinensischen Ministerium für Archäologie beschloss. Als ob es damals nicht genug Streitpunkte in den Verhandlungen um eine mögliche Teilung des Landes gab, kam nun noch die Frage darüber hinzu, wer wo nach Altertümern graben darf. Dabei ging es den Beteiligten zumeist weniger darum, neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen, sondern einfach nur zu beweisen: „Wir waren zuerst hier!“ Ursprünglich sollten die Palästinenser nur die Kontrolle über islamische Ausgrabungsstätten im Westjordanland erhalten. Doch die Autonomiebehörde wollte überall in ihrem kleinen Reich buddeln dürfen und forderte darüber hinaus die Übergabe aller auf ihrem Gebiet gemachten Funde, darunter auch die Qumran-Schriftrollen – natürlich vergebens.

Archäologie war ebenfalls den frühen Zionisten mehr als nur eine reine Herzensangelegenheit. Bereits 1913 hatten sie die Gesellschaft zur Erforschung von Eretz Israel und seinen Altertümern gegründet, später bekannt unter dem Namen Jewish Palestine Exploration Society. Bemerkenswerterweise waren die doch eigentlich recht säkularen Vertreter der jüdischen Nationalbewegung sehr an dem interessiert, was unter das Stichwort „Biblische Archäologie“ fällt. Die biblische Erzählung sollte durch Funde bestätigt werden und der zionistischen Bewegung so Legitimität verschaffen. Oft kam es in der Archäologenzunft daher auch zu heftigen Kontroversen, weil die wissenschaftlichen Ergebnisse nicht unbedingt immer das hergaben, was manche sich erhofft hatten. Für Aufsehen sorgte insbesondere der Tel Aviver Archäologe Israel Finkelstein, als er die These vertrat, dass das biblische Jerusalem ein ziemlich unbedeutendes Kaff gewesen sein soll. Und 1986 etablierte sich die Stiftung Elad, das hebräische Akronym für El Ir David, zu deutsch: Zur Davidstadt, die der Siedlerbewegung ideologisch nahe steht. Ihre Anhänger nehmen es mit der Wissenschaftlichkeit nicht ganz so genau, wenn darum geht, das Jüdische in archäologische Funde hineinzudeuten oder diesem eine überproportionale Bedeutung zuzusprechen. Vertreter der Stiftung sehen das wenig überraschend anders. „Fakt ist, dass es diejenigen gibt, die sich von unseren Forschungen bedroht fühlen – das können die Vereinten Nationen, Palästinenser oder sonst wer sein“, so Zeev Orenstein, bei Elad zuständig für internationale Angelegenheiten. „Deswegen bemühen sie auch die Archäologie und machen sie politisch.“ Und mit der NGO Emek Shaveh hat sich 2009 so etwas wie ein linkes Gegenstück dazu etabliert. „Archäologie ist eine Wissenschaft“, betont ihr Direktor Yoanathan Mizrachi. „Es geht darum, die Geschichte des Landes kennenzulernen. Und wir stellen einen großen Unterschied fest, wie damit in Ost-Jerusalem sowie der Westbank umgegangen wird und was im Rest von Israel passiert.“

Und selbst die alttestamentarische Geschichte vom Auszug aus Ägypten kann heute noch politische Beziehungen belasten. „Wenn es um den Exodus geht, zeigen die ägyptischen Behörden wenig Begeisterung“, weiß Amy Dockser Marcus zu berichten „Im Kairo-Museum, wo die offizielle Version von Ägyptens Vergangenheit gepflegt wird, ist der Exodus ein Tabuthema.“ Auch seien die alten Israeliten nicht für den Bau der Pyramiden verantwortlich gewesen. Ägypter allein hätten sie errichtet – das hätten Funde bestätigt. Die Mitwirkung anderer Gruppen, insbesondere der Vorfahren der ungeliebten Israelis, passt einfach nicht ins ägyptische Selbstbild und würde am Nationalstolz kratzen. Wie man sieht: Archäologie liefert nicht nur Erkenntnisse über das Leben aus der damaligen Zeit, sondern viel Wissenswertes über die Befindlichkeiten der Gesellschaften im Nahen Osten.

Bild oben: Ausgrabungen auf Massada, (c) Franziska Werners