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Antisemitismus aus kritisch-theoretischer Sicht
Möglichkeiten und Grenzen politischer Bildungsarbeit in einem gesellschaftlichen Problemfeld


Von Ingolf Seidel

2.2. Der sado-masochistische Charakter

Ebenso wie die feministische Psychoanalyse thematisieren die Kritischen Theoretiker fundamental die psychischen Regressionen und Leiden, welche die Menschheit sich antat, "bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war (...)."[42]

Nicht von ungefähr dient Horkheimer/Adorno der Mann Odysseus und dessen Gefährten als Sinnbild dieses Charakters. Odysseus, der sich im zwölften Gesang der Odyssee Homers von seinen Gefährten an den Mast des Schiffes binden lässt, um den lockenden Gesängen der Sirenen zu lauschen, steht an der Grenze zum Verlassen der dunklen und naturhaften, auch triebbehafteten, Vorzeit. Den Gefährten, die Arbeit verrichtend, bleibt der Genuss des Gesanges verwehrt, welcher zugleich lustvoll, als auch das Selbst gefährdend ist. Mit verstopften Ohren rudern sie ihren Herrn.

"Frisch und konzentriert müssen die Arbeitenden nach vorwärts blicken und liegen lassen, was zur Seite liegt. Den Trieb, der zur Ablenkung drängt, müssen sie verbissen in zusätzliche Anstrengung sublimieren."[43]

Ihr Herr, Odysseus, aber wählt einen anderen Weg. Freiwillig, aber hilflos, an den Mast gebunden fordert er die anderen auf ihn stärker zu fesseln, je größer die Lockung des Sirenen­gesangs wird, "so wie nachmals die Bürger auch sich selber das Glück um so hartnäckiger verweigerten, je näher es ihnen mit dem Anwachsen der eigenen Macht rückte."[44]

Dieses Modell herrschaftlicher Subjektivierung im Versagen der Lust wird mit dem später aufkommenden Liberalismus und der Aufklärung hegemonial. Die bürgerliche Produktions­weise erfordert geradezu ein Subjekt, das auf das Ideal des männlich-zweckgerichteten Denkens ausgerichtet ist. Aus der Heteronomie durch Fürsten und Feudalherren geraten die Einzelnen in die Abhängigkeit der neuen Herrschaft, die gleichzeitig Teil ihres Charakters wird.

"Autonomie, in ihrer bürgerlichen Form, ist hier nur denkbar um den Preis der Abgrenzung und Herrschaft gegenüber der inneren und äußeren Natur wie gegenüber anderen Subjekten."[45]

Die von den Individuen ins Über-Ich integrierte Autorität bedeutet auch eine Integration von Gewalt, in Form triebunterdrückender Normen. Freud sieht zu diesem Prozess keine Alternative. Der von ihm richtig beschriebene Vorgang des Triebverzichts zugunsten eines Realitätsprinzips, ohne das Realitätsprinzip selber zu hinterfragen[46], trägt die Dialektik eines der Aufklärung verpflichteten Denkens in sich, welches noch im Erkennen die psychischen Schäden des Individuums hinnimmt. Die Verdrängung des Triebes ist nur dann effektiv und gewissermaßen automatisch, wenn schon die Triebabwehr verdrängt wird. Die Verdrängung selbst geschieht mit Hilfe von Energie, die wiederum den psychischen Haushalt schwächt. So werden ‚gefährliche’ Triebdurchbrüche zwar durch intensive Verdrängung weitgehend verhindert, aber das hat den Preis der Einschränkung des Ichs, dessen Reaktionen "steifer und unrealistischer"[47] werden. Die typische Konventionalität und Starrheit der Autoritären hat hier ihren Ursprung.

Das Ich, welches unter den Bedingungen bürgerlicher Subjektgenese gegenüber der internalisierten gesellschaftlichen Autorität nachgeben muss, findet seine Lusterfüllung in masochistischer Unterwerfung. Das Individuum findet also Gefallen an seiner gesell­schaft­lichen Anpassung. Diese Lust des schwachen Ichs bleibt jedoch ambivalent, da sie aus der Angst vor dem Mächtigen resultiert. Die Bewunderung und Liebe zur Macht erwächst aus diesem Lustgefühl, was nicht bedeutet, dass die Autorität nicht gleichzeitig vom autoritär-masochistischen Charakter gehasst wird.[48] Diese Ambivalenz drückt sich oft in einer Auf­spaltung derjenigen aus, die real oder phantasiert als Mächtige erlebt werden, in solche mit guten oder mit schlechten Eigenschaften. "Beispiele hierfür sind der Haß gegen die Götter fremder Religionen" oder "gegen das Finanzkapital im Gegensatz zum »schaffenden Kapital«"[49]. Mit den positiv besetzten Autoritäten kann sich das beschädigte Selbst identifizieren, es erhält den Lustgewinn, die Wärme an der es ihm in der modernen, verwalteten Welt ihm fehlt. Allerdings erscheint die Integration der gesellschaftlichen Autorität der Kritischen Theorie ambivalent. Dafür sprechen rigide Äußerungen des Gewissens: "Was verboten ist, kann akzeptabel sein, wenn es nicht zu sozialem Konflikt führt. Das allzu starre Über-Ich ist nicht wirklich integriert worden, es bleibt äußerlich."[50]

Solch halb gelungene Integration der Autorität existiert häufig. So noch im Komplex des betrunkenen Autofahrers, der weiß, welche Norm er verletzt und auch darauf baut, dass sein Handeln unentdeckt bleibt. Diese halbe Integration, die sich in schleichenden Versuchen äußert die Norm zu umgehen, verhindert letztendlich auch eine Reflexion der bestehenden Verhältnisse.

Die Kehrseite und notwendige Ergänzung des Masochismus bildet der Sadismus herrschaftlich Subjektivierter. Da sie auf grundlegende Wünsche verzichten und in einem permanenten Zustand der Versagung leben, fühlen sie sich betrogen und lauern ständig, ob es nicht andere gibt, die ‚es besser’ haben könnten. An diesen, mögen sie real oder imaginiert sein, findet der autoritäre Sadismus sein Objekt[51]. Adorno meint in diesem Sadismus die Herkunft der idiosynkratischen[52] Reaktion des Ethnozentrismus verorten zu können. Der Autoritäre versteht sein Gefühlsleben als anständige Norm, ohne gleichzeitig zu wirklicher Kritik gesellschaftlicher Autorität befähigt zu sein. In der Konsequenz verachtet er alle, die von diesen Normen abweichen und wünscht ihre Bestrafung. "Spenden äußere Autoritäten oder die Masse solcher Aggression Beifall, vermag sie gewalttätige Formen anzunehmen."[53] Nicht nur die Geschehnisse in Deutschland während des National­sozialismus, auch die Dramatik der Pogrome der frühen 90er Jahre in Rostock, Mannheim oder Hoyerswerda scheinen der Kritischen Theorie hier Recht zu geben. Letztere sind nicht denkbar ohne die Diskussion um die de facto Aushöhlung des Paragraphen 16 des Grund­ge­setzes seitens der politischen Klasse und der Medien, welche gleichzeitig die Flüchtlinge stigmatisiert hat. Der sich austobende Mob, eine Mischung aus Neonazis, BürgerInnen und ‚normalen’ Jugendlichen, hat so seine ressentimentgeladenen Vorurteile quasi gesellschaft­lich unterstützt ausgelebt.

Überhaupt finden die autoritären Charaktere im Aufgehen in der Gruppe, der Masse oder der Nation die Kompensation ihres eigenen schwachen Ichs. Zugleich bietet die Identifikation mit dem nationalen Kollektiv die Möglichkeit, über die Definition von Eigen- und Fremdgruppe sich selbst als Teil eines idealisierten Kollektivs zu Lasten der ‚Anderen’, der Mitglieder der Fremdgruppe, aufzuwerten. Adorno beschreibt den autoritären Charakter als ‚Radfahrernatur’: In dem Maße wie er sich den moralischen Autoritäten der Eigen­gruppe gegenüber unterwürfig zeigt, so sehr steht er bereit, diejenigen anzugreifen, die unter ihm stehen oder außerhalb der Gruppe verortet werden[54]. In der Massengesellschaft, in der die Einzelnen sich als ohnmächtig erfahren, ihr individueller Narzissmus permanent gekränkt wird, suchen sie ihre Aufwertung im kollektiven Narzissmus des Nationalen.[55] Die Bereitschaft des autoritär-masochistischen Charakters "die Befriedigung der eigenen Wünsche nach Größe und Stärke durch Aufgehen in die Macht"[56] zu erfüllen, kann "nicht nur durch das Verhältnis zum Herrscher, sondern auch durch das Partizipieren am Glanz der Nation oder Rasse erreicht"[57] werden.

Das Aufgehen im nationalen Kollektiv oder einer adäquaten Gruppe verspricht dem autoritären Selbst eine umgelenkte Befriedigung der Libido. Die Beteiligten erleben es als Genuss, "sich schrankenlos ihren Leidenschaften hinzugeben und dabei in der Masse aufzugehen, das Gefühl ihrer individuellen Abgrenzung zu verlieren."[58]

Das Kollektiv wird mit den Merkmalen der höchsten Autorität besetzt, um den größt­möglichen Lustgewinn aus der Teilhabe an der Macht zu gewinnen. Die Nation gewährt also als falsche Kollektiv-Identität, das, was den Einzelnen an Ich-Identität fehlt. Noch die, welche am Rand der Gesellschaft stehen, so marginalisiert sie ökonomisch sein mögen, finden im Aufgehen in der Nation ihre vermeintliche Größe und Befriedigung. Jede Ideologie, die diese Voraussetzungen erfüllt oder zu erfüllen verspricht, wird vor diesem Hintergrund akzeptiert. Rassismus, Nationalismus und Antisemitismus bieten den autoritären Subjekten Anknüpfungspunkte zur Ersatzbefriedigung. Aber auch die Angebote des Panarabismus oder der Aufbau einer "Nation Europa" können ein Angebot eines solchen Kollektiv-Ichs darstellen. Das Kollektive ihres Wahnsystems, zumal im Antisemi­tis­mus, erspart ihnen als Einzelne die offene Psychose. So erlaubt, nach Adornos Beschreibung, der abgekapselte Wahn den autoritätsgebundenen Charakteren, sich in anderen Belangen nur um so realistischer zu gerieren.

"Das pathische Moment steckt bei ihnen eher in diesem Realismus selber, einer bestimmten Art von Kälte und Affektlosigkeit."[59]

Wir werden dieser in der Untersuchung des manipulativ-autoritären Charakters in ihrer extremsten Form begegnen.

In der faschistischen Variante haben die autoritären Subjekte schließlich ihr Über-Ich gänzlich veräußert und an die Figur eines Führers gebunden, der dem Kollektiv als Urvater dient.

"Die Bildung der Vorstellung einer allmächtigen und ungezügelten Vaterfigur, die den individuellen Vater weit überragt und sich deshalb zur Vergrößerung, zu einem »Massen-Ich« eignet, ist der einzige Weg, die
»passiv-masochistische Einstellung«, in der »man seinen Willen verlieren muß«, zu proklamieren."[60]

Das Gewissen regrediert oder entwickelt sich erst gar nicht und wird durch die Identifikation mit einer kollektiven Identität ersetzt, die sich dadurch auszeichnet, dass sie heteronom, starr und unterdrückend ist, somit dem eigenen Denken des Individuums fremd bleibt und daher leicht auswechselbar ist. So hat auch Hitler für die Deutschen die Funktion einer gefürchteten Autorität eingenommen. Die libidinöse Bindung, die laut Freud solche Massen ausmacht[61], ist hier verschoben auf die Nation.

Die zwanghafte, pathische Suche nach Identität der Einzelnen in der Nation lässt die herrschaftlich Subjektivierten alles verfolgen was diesem Muster nicht entspricht: Das Nicht-Identische. Ohne Land und ohne Staat sind es besonders die Juden, die dem Autoritären vor dem Hintergrund der jahrhundertlangen christlichen Verfolgung und Stigmatisierung, als das perfekte Abbild einer Identität im Nicht-Identischen erscheinen[62]. Egal wie schwach die zu Verfolgenden auch sein mögen, sie bleiben dem autoritären, vorurteilsvollen Charakter ein permanenter negativer Reiz. Der Autoritäre ist beinahe besessen davon, die Unterschiede gewaltsam einzuebnen, diejenigen, die er als Fremde definiert, der Eigengruppe gleichzumachen oder sie zu vernichten. Dabei ist seine Irrationalität das Normale geworden. Die Irrationalität der herrschaftlich Subjektivierten wird das gesellschaftlich Normale und wiederspiegelt die Irrationalität des ökonomischen Prinzips, auf welches ich in Kapitel 4. detaillierter eingehen werde.

Es gehört zu den Erkenntnissen der Studien zum autoritären Charakter, dass die vorurteils­vollen, sado-masochistischen Charaktere im Schnitt der Gesellschaft besser angepasst sind, als die Nicht-Vorurteilsvollen. Bei letzteren stellen Adorno et al. weitaus mehr neurotische und selbstzweiflerische Reaktionen fest. Kollektiver Narzissmus und die Orientierung am Realitätsprinzip scheinen sich also durchaus nicht zu widersprechen, im Gegenteil. Vielmehr ist es für diejenigen, die psychologisch zum Autoritarismus disponiert sind und nationalistischen gesellschaftlichen Modellen anhängen "das kollektive Wahnsystem, dem sie sich verschreiben"[63], das es ihnen erlaubt "in anderen Regionen nur um so »realistischer« sich zu verhalten. Das pathische Moment steckt bei ihnen eher in diesem Realismus selber, einer bestimmten Art von Kälte und Affektlosigkeit."[64]

  • [42] Horkheimer / Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. (Fischer) 1969 (1944), S. 40.

  • [43] Ebda., S. 40.

  • [44] Ebda., S. 40.

  • [45] Rensmann: Kritische Theorie über den Antisemitismus, a.a.O., S.53f.

  • [46] Vgl. Theodor W. Adorno: Die revidierte Psychoanalyse, in: Ders.: Soziologische Schriften I, a.a.O, (1952), S. 39.

  • [47] Fromm: Der autoritäre Charakter, a.a.O. S. 92.

  • [48] Vgl. ebda., S. 111.

  • [49] Ebda., S. 111

  • [50] Theodor W. Adorno: Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1995 (1950), S. 325.

  • [51] Vgl. ebda., S. 50.

  • [52] Idiosynkrasien sind extreme Abneigungen und Überempfindlichkeiten, der Psyche entstammend, sich aggressiv gegen bestimmte Personengruppen, Reize oder auch Anschauungen richten.

  • [53] Ebda., S. 51.

  • [54] Vgl. Theodor W. Adorno: Vorurteil und Charakter, in: Ders.: Soziologische Schriften II.2. Gesammelte Schriften Bd. 9.2, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2003 (1952), S. 368.

  • [55] Vgl. Theodor W. Adorno: Meinung Wahn Gesellschaft in: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft II. Gesammelte Schriften Bd. 10.2, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2003 (1961), S. 589.

  • [56] Fromm: Der autoritäre Charakter, a.a.O. S. 121.

  • [57] Ebda., S. 121.

  • [58] Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse in: Ders.: Massenpsychologie und Ich-Analyse. Die Zukunft einer Illusion, Frankfurt a. M. (Fischer) 2002 (1921), S. 48.

  • [59] Theodor W. Adorno: Bemerkungen über Politik und Neurose, in: Ders.: Kritik. Kleine Schriften Zur Gesellschaft, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1971 (1954), S. 92f.

  • [60] Theodor W. Adorno: Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda, in: Ders.: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, a.a.O., (1951) S. 45.

  • [61] Vgl. Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse, a.a.O., S.53ff.

  • [62] Vgl. Detlef Claussen: Grenzen der Aufklärung, a.a.O., S. 200f.

  • [63] Adorno: Bemerkungen über Politik und Neurose, a.a.O., S. 92.

  • [64] Ebda., S. 92f.

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hagalil.com 21-03-2004


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