2.2. Der sado-masochistische Charakter
Ebenso wie die feministische Psychoanalyse thematisieren die Kritischen
Theoretiker fundamental die psychischen Regressionen und Leiden, welche die
Menschheit sich antat, "bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete,
männliche Charakter des Menschen geschaffen war (...)."
Nicht von ungefähr dient Horkheimer/Adorno der Mann Odysseus und dessen
Gefährten als Sinnbild dieses Charakters. Odysseus, der sich im zwölften
Gesang der Odyssee Homers von seinen Gefährten an den Mast des Schiffes
binden lässt, um den lockenden Gesängen der Sirenen zu lauschen, steht an
der Grenze zum Verlassen der dunklen und naturhaften, auch triebbehafteten,
Vorzeit. Den Gefährten, die Arbeit verrichtend, bleibt der Genuss des
Gesanges verwehrt, welcher zugleich lustvoll, als auch das Selbst gefährdend
ist. Mit verstopften Ohren rudern sie ihren Herrn.
"Frisch und konzentriert müssen die Arbeitenden nach vorwärts blicken und
liegen lassen, was zur Seite liegt. Den Trieb, der zur Ablenkung drängt,
müssen sie verbissen in zusätzliche Anstrengung sublimieren."
Ihr Herr, Odysseus, aber wählt einen anderen Weg. Freiwillig, aber hilflos,
an den Mast gebunden fordert er die anderen auf ihn stärker zu fesseln, je
größer die Lockung des Sirenengesangs wird, "so wie nachmals die Bürger
auch sich selber das Glück um so hartnäckiger verweigerten, je näher es
ihnen mit dem Anwachsen der eigenen Macht rückte."
Dieses Modell herrschaftlicher Subjektivierung im Versagen der Lust wird mit
dem später aufkommenden Liberalismus und der Aufklärung hegemonial. Die
bürgerliche Produktionsweise erfordert geradezu ein Subjekt, das auf das
Ideal des männlich-zweckgerichteten Denkens ausgerichtet ist. Aus der
Heteronomie durch Fürsten und Feudalherren geraten die Einzelnen in die
Abhängigkeit der neuen Herrschaft, die gleichzeitig Teil ihres Charakters
wird.
"Autonomie, in ihrer bürgerlichen Form, ist hier nur denkbar um den Preis
der Abgrenzung und Herrschaft gegenüber der inneren und äußeren Natur wie
gegenüber anderen Subjekten."
Die von den Individuen ins Über-Ich integrierte Autorität bedeutet auch eine
Integration von Gewalt, in Form triebunterdrückender Normen. Freud sieht zu
diesem Prozess keine Alternative. Der von ihm richtig beschriebene Vorgang
des Triebverzichts zugunsten eines Realitätsprinzips, ohne das
Realitätsprinzip selber zu hinterfragen,
trägt die Dialektik eines der Aufklärung verpflichteten Denkens in sich,
welches noch im Erkennen die psychischen Schäden des Individuums hinnimmt.
Die Verdrängung des Triebes ist nur dann effektiv und gewissermaßen
automatisch, wenn schon die Triebabwehr verdrängt wird. Die Verdrängung
selbst geschieht mit Hilfe von Energie, die wiederum den psychischen
Haushalt schwächt. So werden ‚gefährliche’ Triebdurchbrüche zwar durch
intensive Verdrängung weitgehend verhindert, aber das hat den Preis der
Einschränkung des Ichs, dessen Reaktionen "steifer und unrealistischer"
werden. Die typische Konventionalität und Starrheit der Autoritären hat hier
ihren Ursprung.
Das Ich, welches unter den Bedingungen bürgerlicher Subjektgenese gegenüber
der internalisierten gesellschaftlichen Autorität nachgeben muss, findet
seine Lusterfüllung in masochistischer Unterwerfung. Das Individuum findet
also Gefallen an seiner gesellschaftlichen Anpassung. Diese Lust des
schwachen Ichs bleibt jedoch ambivalent, da sie aus der Angst vor dem
Mächtigen resultiert. Die Bewunderung und Liebe zur Macht erwächst aus
diesem Lustgefühl, was nicht bedeutet, dass die Autorität nicht gleichzeitig
vom autoritär-masochistischen Charakter gehasst wird.
Diese Ambivalenz drückt sich oft in einer Aufspaltung derjenigen aus, die
real oder phantasiert als Mächtige erlebt werden, in solche mit guten oder
mit schlechten Eigenschaften. "Beispiele hierfür sind der Haß gegen die
Götter fremder Religionen" oder "gegen das Finanzkapital im Gegensatz zum
»schaffenden Kapital«".
Mit den positiv besetzten Autoritäten kann sich das beschädigte Selbst
identifizieren, es erhält den Lustgewinn, die Wärme an der es ihm in der
modernen, verwalteten Welt ihm fehlt. Allerdings erscheint die Integration
der gesellschaftlichen Autorität der Kritischen Theorie ambivalent. Dafür
sprechen rigide Äußerungen des Gewissens: "Was verboten ist, kann akzeptabel
sein, wenn es nicht zu sozialem Konflikt führt. Das allzu starre Über-Ich
ist nicht wirklich integriert worden, es bleibt äußerlich."
Solch halb gelungene Integration der Autorität existiert häufig. So noch im
Komplex des betrunkenen Autofahrers, der weiß, welche Norm er verletzt und
auch darauf baut, dass sein Handeln unentdeckt bleibt. Diese halbe
Integration, die sich in schleichenden Versuchen äußert die Norm zu umgehen,
verhindert letztendlich auch eine Reflexion der bestehenden Verhältnisse.
Die Kehrseite und notwendige Ergänzung des Masochismus bildet der Sadismus
herrschaftlich Subjektivierter. Da sie auf grundlegende Wünsche verzichten
und in einem permanenten Zustand der Versagung leben, fühlen sie sich
betrogen und lauern ständig, ob es nicht andere gibt, die ‚es besser’ haben
könnten. An diesen, mögen sie real oder imaginiert sein, findet der
autoritäre Sadismus sein Objekt.
Adorno meint in diesem Sadismus die Herkunft der idiosynkratischen
Reaktion des Ethnozentrismus verorten zu können. Der Autoritäre versteht
sein Gefühlsleben als anständige Norm, ohne gleichzeitig zu wirklicher
Kritik gesellschaftlicher Autorität befähigt zu sein. In der Konsequenz
verachtet er alle, die von diesen Normen abweichen und wünscht ihre
Bestrafung. "Spenden äußere Autoritäten oder die Masse solcher Aggression
Beifall, vermag sie gewalttätige Formen anzunehmen."
Nicht nur die Geschehnisse in Deutschland während des Nationalsozialismus,
auch die Dramatik der Pogrome der frühen 90er Jahre in Rostock, Mannheim
oder Hoyerswerda scheinen der Kritischen Theorie hier Recht zu geben.
Letztere sind nicht denkbar ohne die Diskussion um die de facto Aushöhlung
des Paragraphen 16 des Grundgesetzes seitens der politischen Klasse und
der Medien, welche gleichzeitig die Flüchtlinge stigmatisiert hat. Der sich
austobende Mob, eine Mischung aus Neonazis, BürgerInnen und ‚normalen’
Jugendlichen, hat so seine ressentimentgeladenen Vorurteile quasi
gesellschaftlich unterstützt ausgelebt.
Überhaupt finden die autoritären Charaktere im Aufgehen in der Gruppe, der
Masse oder der Nation die Kompensation ihres eigenen schwachen Ichs.
Zugleich bietet die Identifikation mit dem nationalen Kollektiv die
Möglichkeit, über die Definition von Eigen- und Fremdgruppe sich selbst als
Teil eines idealisierten Kollektivs zu Lasten der ‚Anderen’, der Mitglieder
der Fremdgruppe, aufzuwerten. Adorno beschreibt den autoritären Charakter
als ‚Radfahrernatur’: In dem Maße wie er sich den moralischen Autoritäten
der Eigengruppe gegenüber unterwürfig zeigt, so sehr steht er bereit,
diejenigen anzugreifen, die unter ihm stehen oder außerhalb der Gruppe
verortet werden.
In der Massengesellschaft, in der die Einzelnen sich als ohnmächtig
erfahren, ihr individueller Narzissmus permanent gekränkt wird, suchen sie
ihre Aufwertung im kollektiven Narzissmus des Nationalen.
Die Bereitschaft des autoritär-masochistischen Charakters "die Befriedigung
der eigenen Wünsche nach Größe und Stärke durch Aufgehen in die Macht"
zu erfüllen, kann "nicht nur durch das Verhältnis zum Herrscher, sondern
auch durch das Partizipieren am Glanz der Nation oder Rasse erreicht"
werden.
Das Aufgehen im nationalen Kollektiv oder einer adäquaten Gruppe verspricht
dem autoritären Selbst eine umgelenkte Befriedigung der Libido. Die
Beteiligten erleben es als Genuss, "sich schrankenlos ihren Leidenschaften
hinzugeben und dabei in der Masse aufzugehen, das Gefühl ihrer individuellen
Abgrenzung zu verlieren."
Das Kollektiv wird mit den Merkmalen der höchsten Autorität besetzt, um den
größtmöglichen Lustgewinn aus der Teilhabe an der Macht zu gewinnen. Die
Nation gewährt also als falsche Kollektiv-Identität, das, was den Einzelnen
an Ich-Identität fehlt. Noch die, welche am Rand der Gesellschaft stehen, so
marginalisiert sie ökonomisch sein mögen, finden im Aufgehen in der Nation
ihre vermeintliche Größe und Befriedigung. Jede Ideologie, die diese
Voraussetzungen erfüllt oder zu erfüllen verspricht, wird vor diesem
Hintergrund akzeptiert. Rassismus, Nationalismus und Antisemitismus bieten
den autoritären Subjekten Anknüpfungspunkte zur Ersatzbefriedigung. Aber
auch die Angebote des Panarabismus oder der Aufbau einer "Nation Europa"
können ein Angebot eines solchen Kollektiv-Ichs darstellen. Das Kollektive
ihres Wahnsystems, zumal im Antisemitismus, erspart ihnen als Einzelne die
offene Psychose. So erlaubt, nach Adornos Beschreibung, der abgekapselte
Wahn den autoritätsgebundenen Charakteren, sich in anderen Belangen nur um
so realistischer zu gerieren.
"Das pathische Moment steckt bei ihnen eher in diesem Realismus selber,
einer bestimmten Art von Kälte und Affektlosigkeit."
Wir werden dieser in der Untersuchung des manipulativ-autoritären Charakters
in ihrer extremsten Form begegnen.
In der faschistischen Variante haben die autoritären Subjekte schließlich
ihr Über-Ich gänzlich veräußert und an die Figur eines Führers gebunden, der
dem Kollektiv als Urvater dient.
"Die Bildung der Vorstellung einer allmächtigen und ungezügelten Vaterfigur,
die den individuellen Vater weit überragt und sich deshalb zur Vergrößerung,
zu einem »Massen-Ich« eignet, ist der einzige Weg, die
»passiv-masochistische Einstellung«, in der »man seinen Willen verlieren
muß«, zu proklamieren."
Das Gewissen regrediert oder entwickelt sich erst gar nicht und wird durch
die Identifikation mit einer kollektiven Identität ersetzt, die sich dadurch
auszeichnet, dass sie heteronom, starr und unterdrückend ist, somit dem
eigenen Denken des Individuums fremd bleibt und daher leicht auswechselbar
ist. So hat auch Hitler für die Deutschen die Funktion einer gefürchteten
Autorität eingenommen. Die libidinöse Bindung, die laut Freud solche Massen
ausmacht,
ist hier verschoben auf die Nation.
Die zwanghafte, pathische Suche nach Identität der Einzelnen in der Nation
lässt die herrschaftlich Subjektivierten alles verfolgen was diesem Muster
nicht entspricht: Das Nicht-Identische. Ohne Land und ohne Staat sind es
besonders die Juden, die dem Autoritären vor dem Hintergrund der
jahrhundertlangen christlichen Verfolgung und Stigmatisierung, als das
perfekte Abbild einer Identität im Nicht-Identischen erscheinen.
Egal wie schwach die zu Verfolgenden auch sein mögen, sie bleiben dem
autoritären, vorurteilsvollen Charakter ein permanenter negativer Reiz. Der
Autoritäre ist beinahe besessen davon, die Unterschiede gewaltsam
einzuebnen, diejenigen, die er als Fremde definiert, der Eigengruppe
gleichzumachen oder sie zu vernichten. Dabei ist seine Irrationalität das
Normale geworden. Die Irrationalität der herrschaftlich Subjektivierten wird
das gesellschaftlich Normale und wiederspiegelt die Irrationalität des
ökonomischen Prinzips, auf welches ich in Kapitel 4. detaillierter eingehen
werde.
Es gehört zu den Erkenntnissen der Studien zum autoritären Charakter,
dass die vorurteilsvollen, sado-masochistischen Charaktere im Schnitt der
Gesellschaft besser angepasst sind, als die Nicht-Vorurteilsvollen. Bei
letzteren stellen Adorno et al. weitaus mehr neurotische und
selbstzweiflerische Reaktionen fest. Kollektiver Narzissmus und die
Orientierung am Realitätsprinzip scheinen sich also durchaus nicht zu
widersprechen, im Gegenteil. Vielmehr ist es für diejenigen, die
psychologisch zum Autoritarismus disponiert sind und nationalistischen
gesellschaftlichen Modellen anhängen "das kollektive Wahnsystem, dem sie
sich verschreiben",
das es ihnen erlaubt "in anderen Regionen nur um so »realistischer« sich zu
verhalten. Das pathische Moment steckt bei ihnen eher in diesem Realismus
selber, einer bestimmten Art von Kälte und Affektlosigkeit."
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