Antisemitismus aus kritisch-theoretischer Sicht:
2.1. Grundlagen der Entstehung des Subjekts
Die Verbindung, welche kritische
Theorie zwischen der Psychoanalyse Sigmund Freuds und einer
materialistischen Gesellschaftskritik geschaffen hat, ist ein Meilenstein in
der Fortentwicklung der Sozialwissenschaften.
Gerade Freuds in der Aufklärung wurzelnde Haltung, seine Entwicklung der
Psychoanalyse zur materialistischen Wissenschaft und das spekulative
Element, welches sich in der Triebtheorie äußert, bietet den Kritischen
Theoretikern die Anknüpfungspunkte.
Aus Freuds Theorie heraus entwickelte
die Kritische Theorie das politisch-psychologische Konzept der autoritären
Persönlichkeit, oder anders des autoritär-masochistischen Charakters, dessen
Ich-Struktur durch gesellschaftliche Faktoren geschwächt und gestört ist.
Diese Form beschädigter Subjektivität, die sich offen zeigt für
antidemokratische und antisemitische Einstellungen, ist nicht zu denken ohne
Bezug auf die selbst schon irrationale Form moderner Gesellschaft. Trotz der
Integration analytischer Psychologie verweist Adorno darauf, dass der
Antisemitismus nicht psychologisiert werden sollte. Eine Deutung als bloß
subjektives Problem weist er bereits in der Studie über die
Authoritarian Personality zurück: "We do not pretend that psychology
is the cause and ideology the effect. But we try to interrelate both as
intimately as possible (…)".
Dementsprechend sind auch die
Entstehungsgründe der autoritären Persönlichkeit nicht nur in falscher
Erziehung zu suchen.
Die autoritäre Persönlichkeit,
beschrieben als Idealtypus, zeichnet sich aus durch eine unreflektierte
Bindung an soziale Normen und Werte, die sich in starker und steifer
Konventionalität und einem Hang zum Konformismus ausdrückt.
Autoritätsgebundene Individuen ordnen sich in der Regel Autoritäten blind
unter, wobei sie ihre eigene, real erfahrene, Ohnmacht kompensieren, in dem
sie alles was ihnen machtvoll erscheint überhöhen. Zugleich zeigen sie sich
aggressiv und hängen oft roher physischer Gewalt an oder delegieren diese.
In bezug auf Emotionen zeigen sich autoritäre Persönlichkeiten insensibel
und kalt. Engagement und Interesse an sozialen Fragen ist ihnen äußerlich
und fremd. Dafür äußern sie sich oft sexualisierend und sind insgesamt
fixiert auf Dinge die dem Trieblichen zugehören. Das Denken
Autoritätsgebundener ist festgelegt auf Stereotype und Personalisierungen
von Sachverhalten, wobei eigene nicht zugelassene Wünsche oder Regungen auf
andere Personen oder Gruppen projiziert werden. Statt solidarische Gefühle
gegenüber anderen zu entwickeln, zeigen sie sich anfällig für Vorurteile,
agitatorische Manipulation und suchen in Gemeinschaften narzisstische
Aufwertungen ihrer Person oder Eigengruppe.
Das stereotype Denken der Autoritätsgebundenen, welches weiter unten
eingehender erläutert wird, bildet das psychische Pendant zu einer
Produktionsweise, die im Zuge der Massenproduktion auf standardisierten
Abläufe und nur scheinbar einmaligen Varianten sich wiederholender Schemata
basiert. Einher mit dem Autoritarismus geht auch immer eine Ablehnung
dessen, was gesellschaftlich als weiblich gilt. Daraus wird die Folie zur
Ablehnung dessen, was als ‚anders’ gilt gebildet. Nicht zufällig werden auch
den Juden oft sogenannte feminine Züge, wie Schwäche, Gefühlsbetontheit,
Sinnlichkeit oder auch Homosexualität angedichtet.
Der autoritäre Charakter ist das völlige Gegenteil einer
autonomen, kritisch-reflektierten und mündigen Persönlichkeit, wie sie vom
Denken der Aufklärung intendiert ist. Er liegt aber zugleich in der
gescheiterten Aufklärung und ihrer ursprünglichen Begrenzung auf das
männliche Subjekt begründet. Da durch diese Charakterform die Mehrheit der
Mitglieder in den entwickelten Ländern ausgezeichnet sind, wird sie nicht
als abweichende Problematik erkannt, sondern stellt tendenziell eine Norm
dar. Aufgrund dessen erfolgt ihre Untersuchung und Problematisierung in den
Sozialwissenschaften eher marginal. Die Form des Charakters bildet sich in
den ersten Kindheitsjahren, wobei die Kritische Theorie von einem
dynamischeren Begriff des Charakters ausgeht als es Freud getan hat. Der
Charakter leistet nach Freud die Vermittlung zwischen menschlichen Trieben
und dem was gesellschaftlich erforderliches Verhalten darstellt. Da Freud
die bürgerliche Gesellschaft als Endzustand begreift, geht er von der
Notwendigkeit einer solchen Vermittlung aus. Die Integration des Menschen in
die bestehende Kultur ist ihm ein notwendiger Vorgang, mag dieser daran noch
so viel leiden. Die Genese des autoritär-masochistischen Charakters wird im
Weiteren dargestellt.
Im wesentlichen gründet die Kritik des
Autoritarismus seitens Kritischer Theoretiker auf Freuds Modell der
psychischen Instanzen. Diese drei Instanzen, das Es, das Ich und das
Über-Ich, bilden laut Freuds Theorie den psychischen Apparat. Dessen
ältester Teil, als grundlegende und zuerst existierende seelische Instanz,
ist das Es. Aus ihm entstammen auch die Triebe.
Wesentlich bestehen zwei Gruppen von Trieben als treibende Kräfte der
menschlichen Psyche: die Selbsterhaltungstriebe und die Sexualtriebe. Die
den letzteren innewohnende Energie benannte Freud als Libido.
Das Es ist bestrebt diese ursprünglichen Triebe zu befriedigen und nimmt
dabei keine Rücksichten auf die physische Aufrechterhaltung des Menschen.
Die Orientierung des Es ist allein das Lustprinzip.
Das Ich entwickelt sich im Laufe der
menschlichen Persönlichkeitsbildung aus einem Teil des Es heraus und
vermittelt zwischen diesem und der Außenwelt. Das Ich wird aufgebaut auf der
Grundlage individueller Erfahrungen mit diesem Äußeren, insofern orientiert
sich das Ich am Realitätsprinzip.
Die konstruktive Leistung der Ich-Instanz besteht darin, "daß es zwischen
Triebanspruch und Befriedigungshandlung die Denktätigkeit einschaltet, die
nach Orientierung in der Gegenwart und Verwertung früherer Erfahrungen durch
Probehandlungen den Erfolg der beabsichtigten Unternehmung zu erraten
sucht."
Unter dem Einfluss des Ich werden also
die Befriedigungen der Triebe reguliert. Das Ich kann anhand seiner
Erfahrungen entscheiden, ob solche Befriedigung opportun erscheint oder
nicht. Diese Entscheidungen können ergo zur Triebunterdrückung oder
–verschiebung, zur Sublimierung des Wunsches führen. Dennoch bleibt das Ich
auf Lustgewinn ausgerichtet und strebt nach Allmacht, seine primäre Struktur
ist narzisstisch. Das Ich steht in einem permanenten Druckverhältnis
zwischen den aggressiven Forderungen des Es und der Außenwelt. Da seine
Herkunft im Es liegt, ist es gegen dieses nicht scharf abgegrenzt. Die
Abwehr gegen die Forderungen des Es bleiben unzulänglich und können nur
temporär unterdrückt werden, so führt der Verzicht auf die Trieberfüllung zu
äußeren Aggressionen.
Adorno fasst das Ich, in Erweiterung des Freudschen Begriffs,
dialektisch auf als etwas Psychisches und Außerpsychisches zugleich. Seine
Funktion als "Organisationsform aller seelischen Regungen, als
Identitätsprinzip, welches Individualität erst konstituiert"
beschreibt noch die klassische Psychoanalyse. Wie oben
erwähnt orientiert sich diese Funktion des Ichs an der Innenwelt, der
Libido, und der Außenwelt. Prägnant skizziert Weyand die Dialektik des
Ichs:
"Das psychologische Moment ist bezogen auf die Vermittlung
der im Charakter verfestigten psychischen Innenwelt und der Außenwelt. Das
nicht-psychologische Moment ist (...) auf die sachlich angemessene Reflexion
darauf, also auf die Reflexion der eigenen Lebensbedingungen, bezogen.
Reflektiert das Ich auf sein Verhältnis zur Außenwelt, so bezieht es sich in
seiner Reflexion auf sich, d.h. die Beziehung ist reflexiv. Das ist nur
möglich, wenn das Ich das Moment der Selbständigkeit gegen seine Innenwelt
und seine Außenwelt hat."
Zwar benötigt auch die psychologische
Komponente des Ichs ein Moment der Selbständigkeit, da sie ansonsten unfähig
wäre ihre Vermittlungstätigkeit zwischen Es, Über-Ich und der Außenwelt zu
gewährleisten. Aber das psychologische Ich ist nicht die Instanz der
Reflexion, es unterscheidet nicht zwischen richtig und falsch. Seine
ständige Überforderung ist dem Gesellschaftlichen geschuldet. Es wird quasi
aufgerieben, bleibt unidentisch, zwischen libidinösen Bedürfnissen und der
realen Selbsterhaltung: "In der antagonistischen
Gesellschaft sind die Menschen, jeder einzelne, unidentisch mit sich,
Sozialcharakter und psychologischer in einem, und Kraft solcher Spaltung a
priori beschädigt."
Entscheidend sind an Adornos Begriff von
einem dialektischen Ich die Möglichkeit der Reflexion und die Einbeziehung
der gesellschaftlichen Struktur. Das schwache Ich ist zwar unfähig zur
aktuellen Selbstreflexion der eigenen Lebensbedingungen, als Möglichkeit
bleibt sie ihm jedoch vorhanden. Die entscheidende Konsequenz daraus ist,
dass die Autoritären nicht freizusprechen sind von der Verantwortung für die
Folgen ihrer Handlungen. Wie weit es gelingt das Ich und damit die
Reflexionsfähigkeit zu stärken, ist auch eine wesentliche Frage der
Erziehung in der Kindheit. Das betrifft nicht nur die Position der Eltern,
sondern auch die von Schule und politischer Bildung, die, das möchte ich
vorwegnehmen, bereits in der Grundschulzeit einsetzen sollte. Was in der
Beschränkung, auf welche ich in Kapitel 6. eingehen werde, durch Pädagogik
zu erreichen ist, wäre eine frühkindliche Überforderung durch übermäßigen
autoritären, wie gesellschaftlichen, Druck abzubauen.
Die dritte psychische Instanz, das
Über-Ich, entwickelt sich in Freuds Sichtweise aus dem Ich heraus. Das
geschieht unter dem Einfluss der Eltern,
als äußeren Autoritäten, in den ersten Lebensjahren. Das Über-Ich
repräsentiert die gesellschaftlichen Normen, Werte, Gesetze und Sitten im
psychischen Apparat. Es bildet somit den verinnerlichten kulturellen Überbau
in der Persönlichkeit. Qua Integration eines Teils der Außenwelt, also über
Identifizierung, setzt die neu geschaffene psychische Instanz die
Tätigkeit der Eltern (und später der LehrerInnen und ErzieherInnen) im
Inneren fort. Ein Teil des Realitätsprinzips findet sich damit im Über-Ich.
Das Über-Ich wirkt dabei häufig rigider als die äußeren Instanzen auf das
Ich ein.
Erich Fromm hat die Funktion der Eltern in diesem Prozess präzisiert. Seine
Bezeichnung der Familie als "psychologische Agentur der Gesellschaft"
weist darauf hin, dass die Inhalte des Identifizierungsprozesses, die
Normen, Werte und Erziehungsideale, nicht unabhängig von der sozialen Lage
der Familie sind. Vielmehr transportiert die Familie, die in der jeweiligen
Klasse und im sozialen Milieu relevanten Normen zusätzlich oder auch
abweichend zu den allgemein gesellschaftlich relevanten Einstellungen.
Festzuhalten ist daran, dass der Familie die Rolle der Anpassung der Kinder
an die gegebene Gesellschaftsformation zukommt. Diese Funktion hat sich
allerdings in den letzten Jahrzehnten abgeschwächt. In immer früheren
Stadien der individuellen Entwicklung, als sie noch die Kritische Theorie
sieht, übernehmen außerfamiliäre "gesellschaftliche Gruppen, etwa das
Fernsehen oder die Jugendgruppe"
die ursprüngliche Rolle der Familie als Sozialisationsinstanz.
Freud sieht die Eindämmung der aggressiven Neigungen und der
Sexualität als kulturelle Leistung an. Aus diesem triebökonomischen Gewinn
speist sich das menschliche Unbehagen in der Kultur: "Der Kulturmensch hat
für ein Stück Glücksmöglichkeit ein Stück Sicherheit eingetauscht."
Erst mit der Ausprägung des Über-Ichs
lässt sich von der Existenz eines Gewissens sprechen und der Möglichkeit von
Schuldbewusstsein. Das Gewissen entsteht durch Introjektion der, eigentlich
aus dem Ich stammenden, Aggressionen, welche durch deren Unterdrückung gegen
das Ich selbst gerichtet werden:
"Dort wird sie (die Aggression, I.S.) von einem Anteil des
Ich übernommen, das sich als Über-Ich dem übrigen entgegenstellt, und nun
als >>Gewissen<< gegen das Ich dieselbe strenge Aggressionsbereitschaft
ausübt, die das Ich gerne an anderen, fremden Individuen befriedigt hätte.
Die Spannung zwischen dem gestrengen Über-Ich und dem ihm unterworfenen Ich
heißen wir Schuldbewusstsein; sie äußert sich als Strafbedürfnis."
Dieses Strafbedürfnis drückt bereits aus, wie das Ich unter
dem Einfluss des sadistischen Über-Ichs masochistisch geworden ist. Fromm
hat herausgestellt, dass dieser Prozess der Bildung des Über-Ichs ein
dialektischer ist. Infolge der Verinnerlichung der gesellschaftlichen
Autorität verklärt das Individuum diese Autorität, indem es die
Eigenschaften des eigenen Über-Ichs wiederum auf die äußere Gewalt
überträgt. Nur über diesen Prozess der Projektion, in welchem der äußeren
Gewalt "Über-Ich-Qualitäten" zugesprochen werden, wird erklärlich, warum die
Existenz von Autorität als anthropologische Konstante, als etwas
Natürliches, betrachtet wird. Durch den Mechanismus der Projektion ist
jeglicher Begriff von Autorität rationaler Kritik entzogen. Die Funktion
dieser psychischen Instanz ist also gekoppelt an Form und Inhalt der
maßgeblichen gesellschaftlichen Autoritäten und würde mit diesen
verschwinden, bzw. ihren Charakter verändern.
Die Ausbildung von Individualität, die Bildung des Ichs der
Einzelnen, verortet die Freudsche Psychoanalyse im wesentlichen in der
ödipalen Phase, also im Alter von vier Jahren. In dieser Phase soll sich das
Kind aus dem Abhängigkeitsverhältnis von der Mutter lösen, die väterliche
Autorität verinnerlichen und sich mit deren Träger identifizieren. In dieser
Abfolge führt die Identifizierung, die ihre Ursache in den primären
Identifizierungen des Kindes mit der Mutter hat, zur Bildung des Über-Ichs.
Freud postuliert die Lösung des Ödipuskomplexes durch das männliche Kind als
notwendige Bedingung der Ausbildung der dritten psychischen Instanz. Demnach
empfindet der Junge für die Mutter, als "erstes und stärkstes Liebesobjekt",
in der Zeit seiner Libidoentwicklung, in der phallischen Phase während des
Alters von zwei bis drei Jahren ein starkes genital-sexuelles Verlangen. Der
Vater, bisher Repräsentant von Stärke und Autorität, wird dem Kind nun zum
Rivalen, den es beseitigen möchte. Folgt man Freud, so greift die Mutter in
Reaktion auf dieses Verlangen, das sie nicht billigen kann, zur Drohung der
Kastration. Diese Kastrationsdrohung ist die erste massive narzisstische
Verletzung.
Die sich entwickelnden Aggressionen des Kindes richten sich gegen den Vater,
welcher ihm die Wunschbefriedigung unmöglich macht. Da die väterliche
Autorität dem kleinen Jungen jedoch übermächtig erscheint, wird diese
schwierige Situation in Freuds Analyse gelöst, indem das Kind die Autorität
"durch Identifizierung in sich aufnimmt, die nun das Über-Ich wird und in
den Besitz all der Aggressionen gerät, die man gern (...) gegen sie ausgeübt
hätte."
Das Ich des Kindes ist somit gezwungen seine Rolle als
Erniedrigtes anzuerkennen. Im Subjekt entstehen sowohl die innere Angst vor
der Autorität, als auch deren Anerkennung.
Dieser Triebverzicht bildet in der Freudianischen
Psychoanalyse das Modell der Entstehung von Kultur. Während aber durch den
Prozess der Verinnerlichung die Liebe, seitens und zu, der äußeren Autorität
gewahrt bleibt, bleiben im Innern die aus der Aggression des Ich
entstehenden Schuldgefühle und Ängste bestehen. Das Ich kann sie vor dem
Über-Ich nicht geheim halten und wird permanent von diesem Repräsentanten
kultureller Anforderungen unterdrückt.
Bereits Fromm problematisierte die Auffassung des
Ödipuskomplexes durch Freud. Die Rollen von Vater und Mutter sind bei Fromm
nur die von Repräsentanten patriarchaler gesellschaftlicher Verhältnisse. Im
zeitlichen Ablauf frühkindlicher Entwicklung ist der Vater "zwar dem Kind
gegenüber (...) der erste Vermittler der gesellschaftlichen Autorität, aber
(inhaltlich gesehen) ist er nicht ihr Vorbild, sondern ihr Abbild."
Es ist die autoritäre Struktur des Gesellschaftlichen,
vertreten durch die verschiedensten Repräsentanten von ErzieherInnen, über
die Mitschüler oder auch LehrerInnen, welche die Individuen verinnerlichen.
Trotz einiger Revisionen des Freudschen Verständnisses vom Ödipuskomplex
rückt die Kritische Theorie allerdings nicht von diesem problematischen
Modell ab.
Für das weibliche Kind behauptet Freud die Existenz des
Penisneides als wesentlich. Es wäre von vergeblichem Bemühen gekennzeichnet,
die männliche Masturbation in der phallischen Phase zu imitieren. Da das
Mädchen hieraus, mangels eines Penis, nicht ausreichende Befriedigung
erlangen würde, ließe es von seinem Tun ab und würde die gefühlte
‚Minderwertigkeit’ auf seine ganze Person ausdehnen. Die normale weibliche
Entwicklung sieht Freud darin, dass sich das Mädchen von der Mutter lösen
würde, da es ihr den angeblichen Mangel des fehlenden Penis verüble. In
einem Prozess der Identifizierung wendet es sich dem Vater zu und will die
Rolle der Mutter bei ihm einnehmen. An die Stelle der Mutterbindung tritt
die Mutteridentifizierung.
Den scheinbar natürlichen Kinderwunsch der Frau sieht Freud als Resultat aus
der Abspaltung des Wunsches nach einem Penis. Die Mutter bleibt, da sie
nicht nur als Schuldige für den nichtvorhandenen Penis betrachtet wird,
sondern auch zwischen dem Mädchen und dem Vater steht, ein Objekt des
Hasses. Frauen treten bei Freud dem Kulturellen als hemmend gegenüber, da
sie "die Interessen der Familie und des Sexuallebens"
vertreten und der Triebsublimierung nicht gewachsen seien.
Mit Recht kritisiert die feministische Psychoanalyse das,
zumindest an diesen Stellen, biologistische Modell von Freuds Theorie. Die
amerikanische Psychoanalytikerin Jessica Benjamin geht davon aus, im Penis
eher ein Machtsymbol und nicht den gesellschaftlichen Träger von Macht zu
sehen. Im Prozess der Individuation besteht der "Wunsch von Kindern
beiderlei Geschlechts, sich mit dem Vater zu identifizieren, der als
Repräsentant der Außenwelt erlebt wird."
Die Konsequenz dieser Theorie ist auch die Erkenntnis, dass
das kleine Mädchen durchaus zur Identifikation mit der Macht strebt. Nur
wird sein Verlangen vor dem Hintergrund der patriarchalen Matrix
unterdrückt; erst aufgrund dessen erlebt sich das Mädchen als minderwertig.
Der intersubjektive Ansatz feministischer Psychoanalyse entwickelt Fromms
Einwände gegen Freud, in Bezug auf die Rolle des Vaters, weiter. In dieser
Arbeit können nicht die verschiedenen Implikationen einer
feministisch-psychoanalytischen Kritik an Freud diskutiert werden. Bei aller
Kritik ist aber auch "für Benjamin jede Herrschaftsinternalisierung gefangen
in der sadomasochistischen Dialektik von Bemächtigung und Unterwerfung."
So werden denn auch Frauen wie Männer zu Trägern und
Trägerinnen autoritärer Charakterstrukturen.
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