..."As true as it is that one can understand Antisemitism
only from our society, as true it appears to me to become
that by now society itself can be properly understood
only through Antisemitism"...
Max Horkheimer
Antisemitismus aus kritisch-theoretischer Sicht
Möglichkeiten und Grenzen der politischen
Bildungsarbeit in einem gesellschaftlichen Problemfeld
Von Ingolf Seidel
1. Einleitung
Sich mit Antisemitismus im Deutschland des Jahres
2003/04 zu befassen, bedeutet nicht nur im Bewusstsein von immer
wiederkehrenden Friedhofsschändungen, Anschlägen auf Synagogen und
körperlichen Angriffe auf Juden und Jüdinnen, die sich als solche zu
erkennen geben, zu schreiben. Man ist auch konfrontiert mit einer
Gesellschaft, welche sich der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit
und der Vernichtung des europäischen Judentums nur sehr oberflächlich
gestellt hat. Dementsprechend sind auch die persönlichen Verstrickungen in
den Schuldzusammenhang von der so genannten ersten Generation der Deutschen
weitestgehend abwehrt worden. Bis heute besteht in der Abwehr von Schuld und
Verantwortung von Auschwitz eine Art intergenerationeller Komplizenschaft.
Aktuelle Meinungsumfragen zeigen nicht
nur die Präsenz der verschiedensten antisemitischen Stereotype auf, sondern
auch deren ausgeprägte Verbreitung. Die Frage, ob Juden "zuviel Einfluss auf
die Weltgeschehnisse" ausüben fand bei 59% der Befragten einer Studie, die
das Meinungsforschungsinstitut Infratest im Auftrag des American Jewish
Committee durchführte, ihre Zustimmung. Diese Befragung aus dem Oktober 2002
dokumentiert, die vollkommene oder weitgehende Zustimmung von 45% der
TeilnehmerInnen zu der Aussage, dass Geld für die Juden eine wichtigere
Rolle spielen würde, als für andere Leute.
Auch das Klischee der angeblichen jüdischen Rachsucht hat für noch 35%
seine Richtigkeit. Insgesamt geht die empirische Forschung im Post-Holocaust
Deutschland davon aus, dass 15 - 20% der (West-) Deutschen judenfeindlichen
Einstellungsmustern anhängen. Die Dramatik der Verbreitung von latentem und
manifestem Antisemitismus zeigt sich auch in den Invektiven des verstorbenen
FDP-Politikers Jürgen W. Möllemann gegenüber dem stellvertretenden
Vorsitzenden des Zentralrats der Juden oder in den stehenden Ovationen der
politischen und kulturellen Elite dieses Landes auf die
erinnerungsabwehrende und tendenziell antisemitische Rede des
Schriftstellers Martin Walser. Ebenso zeigt sich die Gleichgültigkeit und
Bewusstlosigkeit im Umgang gegenüber der deutschen Vergangenheit in
Äußerungen wie jener der RTL2-Moderatorin Carolin Beckers, die im Jahr 2001
eine Folge der Sendung ‚Big Brother’ mit dem Satz anmoderierte: "Ich sage
euch, am Wochenende ist der Holocaust passiert."
Die Reduzierung von Ideologien
auf Gewalt- und Jugendphänomene und die Ausblendung der sozialen
Bedingungen gerade von Antisemitismus und Rassismus, trotzen
jeglicher gesellschaftlicher Realität.
Das gilt auch für die Einstufung des Antisemitismus als bloße
Unterform oder spezielle Ausprägung des Rassismus. |
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Die Auseinandersetzung mit
dem Thema Antisemitismus in einem Teilbereich der Sozialpädagogik,
nämlich der politischen Bildung, erscheint dringlich geraten, angesichts
von Programmen der Bundesregierung zur Bekämpfung von Rechtsextremismus,
Rassismus und Antisemitismus, welche in der Regel die unterschiedlichen
Problematiken unter die Begriffe Gewalt und Jugend subsumieren. Diese
Reduzierung von Ideologien auf Gewalt- und Jugendphänomene und die
Ausblendung der sozialen Bedingungen gerade von Antisemitismus und
Rassismus, trotzen jeglicher gesellschaftlicher Realität. Das gilt auch
für die Einstufung des Antisemitismus als bloße Unterform oder spezielle
Ausprägung des Rassismus. Die Feuerwehrfunktion, welche der politischen
Bildung und der Pädagogik im Allgemeinen zugeschrieben wird, um
Antisemitismus und Rassismus in Deutschland zurückzudrängen, überschätzt
nicht nur deren Wirkungsmöglichkeiten, sondern abstrahiert von den
konkreten sozialen Verhältnissen, welche die Barbarei als individuelle,
wie gesellschaftliche stets auf das Neue reproduzieren. |
Der Vielschichtigkeit und Komplexität
des Themas Antisemitismus kann nur durch eine ideologiekritische Betrachtung
seiner konstituierenden Faktoren Rechnung getragen werden. Für eine
Annäherung an diese Aufgabe wird die Kritische Theorie und deren
interdisziplinärer Ansatz den Bezugsrahmen dieser Arbeit darstellen. Erst
ein solches Vorgehen, die Darstellung einer kritisch-theoretischen
Gesellschaftstheorie über den Antisemitismus, kann auf die Möglichkeiten und
Grenzen seiner Bekämpfung qua pädagogischer Intervention verweisen. Daher
werde ich notwendigerweise einen weiten Bogen spannen, der im zweiten
Kapitel die Genese des bürgerlichen Subjekts umfasst, das als Träger einer
autoritären Charakterform bereits in seiner Struktur potentiell
antisemitisch ist.
Im Anschluss werden konkrete Ausformungen des Autoritarismus, die
antisemitischen Projektionen zu untersuchen sein. Die Spannbreite der
Untersuchung umfasst im vierten Kapitel eine folgenreiche, und auf die
Grundlagen bürgerlicher Gesellschaft verweisende, antisemitische Projektion,
die der Arbeitsideologie entspringt. Über die historische Entwicklung des
Arbeitsbegriffs in Deutschland, dessen konsequente Verinnerlichung im
Vernichtungs-Antisemitismus des Nationalsozialismus kulminierte, werde ich
aufzeigen, dass Antisemitismus kein Oberflächenphänomen ist, sondern vor
allem die deutsche und europäische Kultur bis in ihre Tiefen affiziert hat.
Die Fortexistenz des antijüdischen
Ressentiments nach und wegen Auschwitz in den beiden deutschen Staaten zeigt
verschiedene Ausformungen. In Kapitel fünf werden diese
Unterschiedlichkeiten beschrieben, aber auch das gemeinsame der Motivation:
Auschwitz durch und für die Normalisierung des deutschen Kollektivs zu
funktionalisieren.
Kulturkritik
Im Rahmen dieser Arbeit wird auch auf
die kulturkritischen Elemente der Kritischen Theorie Bezug zu nehmen sein,
da alle Erziehung und Bildung der subjektiven Seite von Kultur zugehörig
ist. Politische Bildung, bei aller notwendigen Reflexion, kann, wie auch das
Denken, dieser Immanenz nicht entfliehen, sondern nur die "Unwahrheit zum
Bewusstsein ihrer selbst"
bringen. Hierin begründen sich auch, wie in der bürgerlichen
Subjektkonstruktion und der Totalität des Tauschprinzips, die Grenzen sowohl
von aufklärerischer Pädagogik und politischer Bildung. Dies wird im Kapitel
6. zu zeigen sein, um auch die praktischen Möglichkeiten pädagogischer
Interventionen auszuloten. Auf solcherart Grundbedingungen von Gesellschaft
und Kultur zu reflektieren verstehe ich auch als Aufgabe von Sozialpädagogik
und politischer Bildung, wollen sie nicht zur Verschleierung der
Problemursachen beitragen, ergo Ideologie produzieren. Abschließend werde
ich einige Ausblicke auf mögliche praktische Elemente der Bildungsarbeit
gegen Antisemitismus geben, allerdings ohne zu beanspruchen, vollständige
Konzepte darzustellen. In erster Linie verstehe ich mein Arbeiten als Kritik
in einem aufklärerischen Sinne. In der Benennung von Problematiken scheint
für mich mehr an Richtigem auf, als es eine festlegende Ausformulierung
statischer Konzepte könnte.
Holocaust
Untrennbar verbunden mit dem Begriff des
Antisemitismus sind auch die Begriffe Holocaust und Auschwitz. Der Terminus
‚Holocaust’ (von griechisch holokaustus ‚völlig verbrannt’, im übertragenen
Sinn Brandopfer) wurde aus der englischen Bibelsprache ins Deutsche
übernommen und bezeichnet die industrielle Vernichtung der europäischen
Juden. Der Begriff wird trotz seiner Problematik in diese Arbeit Eingang
finden. Der Gebrauch eines Fremdwortes für die Vernichtung der Juden und
Jüdinnen ist bereits ein Teil der Ablenkung vom Eigentlichen, der deutschen
Tat und Schuld. Hier ist Detlev Claussen zu
folgen, der über die Funktion des Wortes Holocaust schreibt:
"Das nach dem
Fernsehfilm in Mode gekommene Wort Holocaust hat keine Dimension in der
Alltagssprache, macht die Tat zu einem Bloß Fremden und bezeichnet das
bedrohlich Nahe mit einem Fremdwort."
Die Verwendung der Vokabel ‚Holocaust’
rechtfertigt sich ausschließlich damit, dass auch andere Begrifflichkeiten
in diesem Zusammenhang ungenügend bleiben müssen. Die Benutzung des Wortes
‚Shoa’ (aus dem Neuhebräischen), welche im jüdischen Kontext gebräuchlich
ist und die Tötung einer großen Zahl von Menschen bezeichnet, verbietet sich
m.E. für einen Nachfahren der Tätergeneration. Von ihr wird daher abgesehen.
Verwendet wird auch der Name ‚Auschwitz’, da er Symbol ist für die
Industriemäßigkeit der Massenvernichtung im Nationalsozialismus. Auschwitz
bezeichnet aber weiter
"die
geschichtliche Konkretion, die menschliche Beziehungen unter dem Diktat
entfesselter Herrschaft annehmen können."
Die Verwendung des Wortes trägt aber
auch der Urheberschaft des Verbrechens Rechnung und betont dessen Tradition,
sowie die Besonderheiten zur antisemitischen Tradition. Dennoch verschwinden
hinter dem Begriff auch die verschiedenen Orte an denen das Grauen seinen
Platz fand: Belzec, Sobibor, Treblinka, Majdanek und andere. Die
Schwierigkeiten in der Sprache spiegeln nur die Schwierigkeit wieder das
Unfassbare zu begreifen. Allein das reflektierende Denken darauf lässt das
Schreiben zu, ohne sich der Problemlage aber entziehen zu können.
Noch ein Wort zur
geschlechtsspezifischen Schreibweise. Ich habe mich entschlossen an jenen
Stellen, an denen Substantive auf einen an sich patriarchalen Hintergrund
verweisen, der Frauen bereits strukturell benachteiligt, die männliche
Schreibweise zu verwenden. Wenn also von Antisemiten geschrieben wird,
bedeutet es selbstverständlich nicht, dass Frauen nicht auch Täterinnen sind
oder nicht auch antisemitische Ressentiments haben. Selbstverständlich
bestimmt die Sprache wesentlich die Art unserer Wahrnehmung und Repräsentanz
in der Welt. Daher ist es mir auch angelegen dort, wo es um konkrete
Personen sich handelt, eine geschlechtsbewusste Schreibweise wählen, in der
Männer und Frauen sichtbar sind. Diese Differenzierung versucht der
postmodernen Überstrapazierung und Überbewertung von Sprache und Diskurs
Rechnung zu tragen, welche noch längst keine Änderung im materiellen
patriarchalen Verhältnis darstellt.
Neben der objektiv-gesellschaftlichen
Seite sind der wissenschaftlichen Arbeit auch immer subjektive Aspekte zu
eigen, die aber nicht von der Ersteren losgelöst sind. Es gehört zu meinem
Erkenntnisinteresse in einem eingegrenzten Bereich zu beleuchten, unter
welchen Vorzeichen politische Bildungsarbeit einen Beitrag zu leisten
vermag, Antisemitismus zu bekämpfen. Solcherart Arbeit ist auch dem
Bestreben geschuldet dem postulierten ‚Ende der Geschichte’
entgegenzutreten, welches die bürgerliche Herrschaft und Kapitalismus als
höchste Stufe menschlicher Entwicklung propagiert. Dieses zu akzeptieren
hieße auch die gesellschaftlichen Bedingungen welche Auschwitz ermöglicht
haben hinzunehmen. Das Problem von Antisemitismus und der Abwehr der
Erinnerung an Auschwitz berührt selbstverständlich auch die eigene Person
als Nachgeborener der Tätergeneration. Daher stellt für mich die
theoretische Arbeit zu Antisemitismus, als dem zentralen Ideologem des
Nationalsozialismus und die Arbeit zu diesem Thema in der Politischen
Jugend- und Erwachsenenbildung auch einen Versuch der Reflexion und
Verantwortungsübernahme dar.
Der gesellschaftlichen Dimension des
Antisemitismus Rechnung tragend fühle ich mich dem Satz vom Marx
verpflichtet, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein
erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen
ist,"
wobei die Kritische Theorie ein mögliches Repertoire liefert die Möglichkeit
zu eröffnen, "diese versteinerten Verhältnisse (...) zum Tanzen (zu)
zwingen (...)."
hagalil.com
09-02-2003
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