antisemitismus.net / klick-nach-rechts.de / nahost-politik.de / zionismus.info

haGalil onLine - http://www.hagalil.com
     

hagalil.com
Search haGalil


Newsletter abonnieren
Bücher / Morascha
Koscher leben...
Jüdische Weisheit
 
 

Frankreich:
Die Diskussion um den "Neuen Antisemitismus"

Oder: Gibt es einen spezifisch migrantischen Antisemitismus?
Debatte, Hintergründe, Literaturbesprechung

Von Bernard Schmid

In Frankreich lebt sowohl die größte jüdische Community in Europa (ohne Russland), vor allem aufgrund der Zuwanderung von Juden und Jüdinnen aus dem ehemals kolonisierten Nordafrika nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die dortigen jüdischen Gemeinden, die oft seit vielen Jahrhunderten davor bestanden, waren vor allem nach 1492 bedeutsam geworden, da sie die aus Spanien ­ zur selben Zeit wie die Muslime ­ vertriebenen jüdischen Flüchtlinge aufnahmen. Doch die Kolonialperiode vertiefte die bereits vorher bestehenden, aber nicht zu unmittelbaren Konfrontationen führenden Brüche in den vorgefundenen Gesellschaften. Die muslimischen Bevölkerungsteile konstituierten sich, gegen die im 19. und 20. Jahrhundert zugewanderten Europäer, zur Nation. Dabei fand sich die jüdische Bevölkerung, obwohl sie seit Jahrhunderten ansässig war, meist auf der anderen Seite der Spaltungslinie wieder. Einer der Gründe dafür ist, dass die französische Kolonialbevölkerung sich die jüdische Bevölkerung zu assimilieren suchte, teilweise um einen Keil in die vorhandene Gesellschaft zu treiben und teilweise auch einfach als Ausfluss liberaler Gedanken (die aber nicht auf die "eingeborene" Mehrheitsbevölkerung ausgedehnt wurden).

Im zur Siedlungskolonie transformierten Algerien etwa, in dem eine nach Religionsgruppen geschichtete Apartheid-Gesellschaft herrschte, machte das Crémieux-Dekret von 1870 die einheimischen (oder aus Europa zugewanderten) Juden zu französischen Staatsbürgern. Sie standen damit rechtlich auf (fast) gleicher Stufe wie die aus Frankreich, aber auch Italien und Spanien zugewanderten europäischen Siedler. Dagegen wandte sich im späten 19. Jahrhundert eine heftige antisemitische Bewegung in der europäischen Bevölkerung, die durch den Schriftsteller Edouard Drumont - den Autor von "La France juive" (1886) - angeführt wurde. Doch mit der Unabhängigkeit 1962 verließ der Großteil der algerischen Juden das Land mit den "Pieds-Noirs" genannten europäischen Siedlern, da sie meinten, nicht ihren Platz im neuen Staat finden zu können.

In den Nachbarländern Marokko und Tunesien, die auf unblutigere Weise ihre Unabhängigkeit erlangen konnten, kam es nicht zu einem vergleichbaren einschneidenden Bruch. Doch mit dem arabisch-israelischen Krieg 1967 kam es besonders in Tunesien zu mehrfachen Ausschreitungen gegen die einheimische jüdische Bevölkerung, die der "Sympathie mit dem Feind" verdächtigt wurde. Heute leben in beiden Ländern noch jeweils rund 3.000 bis 5.000 sich offen als Juden bekennende Menschen, während der größere Teil nach Frankreich (oder Israel) ausgewandert ist. In der Regel werden sie repektiert, doch mit den Attentaten gegen die Synagoge von Djerba (April 2002) sowie dem Massaker von Casablanca (Mai 2003) geriet sie ins Visier eines brutalen Terrorismus, der allerdings von transnational operierenden Kleingruppen ausgeht und nicht wirklich aus der "Mitte der Gesellschaft" kommt.

In Frankreich, wo vor dem Zweiten Weltkrieg rund 300.000 Juden lebten ­ von denen ein Viertel während der Shoah ermordet wurde -, wuchs die jüdische Bevölkerung durch diese Zuwanderung von Sepharden nach 1970 an. Heute leben hier geschätzte 600.000 jüdische Menschen, von denen ungefähr ein Drittel an die kommunitären Einrichtungen religiöser (das Consistoire) oder säkular-politischer Natur (den Zentralrat CRIF) gebunden ist. 60 bis 70 Prozent unter ihnen sind nordafrikanisch-spanischer Herkunft.

Aus dieser Vorgeschichte erklärt sich indirekt mit, warum mitunter ein besonderes Misstrauensverhältnis zwischen "jüdischer" und "arabischer" Bevölkerungsgruppe herrscht. Beide Begriffe sind eigentlich ungenau, vor allem wenn sie gegeneinander gestellt werden: Ein Teil der Juden ist arabischer Muttersprache. Und viele angebliche "Araber" stammen in Wirklichkeit aus der berberischen Bevölkerung in Marokko und Algerien, die eigene Sprachen spricht; einige von ihnen kultivieren diese Differenz, manche pflegen sogar einen anti-arabischen (pro-berberischen) Rassismus, während andere sich unter die Sammelbezeichnung "Araber" aufnehmen lassen.

Diese "Kollektiverinnerungen", die unter anderem an die Konflikte in Nordafrika gebunden sind, würden unter den Bedingungen allgemeiner gesellschaftlicher Teilhabe und Partizipation vielleicht nur Spuren im Gedächtnis darstellen, die kaum praktische Relevanz hätten. Individuelles Missverhalten würde es vermutlich geben. Aber in Zeiten der Spannungen, die durch die Misere (von Teilen der Bevölkerung, vor allem auch der eingewanderten) und die gesellschaftliche Ausgrenzung der Migranten angeheizt werden, brechen diese Konflikterinnerungen auf kollektiver Ebene wieder auf. Dann drohen sie zu Spaltungs-, zu Bruchlinien zu werden. Im Extremfall, und dieser ist in den letzten drei Jahren wiederholt eingetreten, führen sie zu Gewalt.

Dabei bilden die historische Erinnerung und zugleich der vermeintlich größere ökonomische Erfolg der jüdischen Community nach ihrer Eingliederung ­ in Wirklichkeit lebt ein Teil der Juden aus Nordafrika und Osteuropa in wirklich armen Verhältnissen ­ eine Grundlage für Missgunst bei einem Teil der maghrebinischen Community. Jene steht im allgemeinen auf der untersten Stufe in der Hierarchie der französischen Gesellschaft, wobei auch hier die individuellen Situationen heterogen ausfallen. Für manche Angehörigen der letzt genannten Community bildet der Ausdruck negativer Gefühle gegen "die Juden" aber auch ein wohlfeiles Mittel zur Frustrationsabfuhr. Denn wenn man die eigenen Schwierigkeiten - die oftmals auf manifeste Diskriminierung bei der Arbeitsplatzsuche zurückzuführen sind - auf eine noch kleinere Minderheit schieben kann, die vermeintlich an der Zurücksetzung schuldig ist, dann kann man sich subjektiv doch irgendwie "dazu gehörig" fühlen. Es ist vermutlich einfacher, damit subjektiv umzugehen, als sich bewusst kritisch gegen die Mehrheitsgesellschaft zu stellen.

In manchen Fällen wird diese Kanalisierung der Frustration durch "die Juden" durch organisatorische Kerne gefördert, die in den Banlieues Fuß fassen konnten. ("Organisatorische Kerne" deswegen, weil so gut wie keine strukturierte Organisation unter den oft gesellschaftlich atomisierten BewohnerInnen der Trabantenstädte wirklich verankert ist, jedenfalls nicht als "Massen"organisation. Das galt früher für die KP, doch ist auch diese in den Trabantenstädten auf dem Rückzug.)

hagalil.com 26-10-2003


Spenden Sie mit PayPal - schnell, kostenlos und sicher!
 

haGalil.com ist kostenlos! Trotzdem: haGalil kostet Geld!

Die bei haGalil onLine und den angeschlossenen Domains veröffentlichten Texte spiegeln Meinungen und Kenntnisstand der jeweiligen Autoren.
Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Herausgeber bzw. der Gesamtredaktion wieder.
haGalil onLine

[Impressum]
Kontakt: hagalil@hagalil.com
haGalil - Postfach 900504 - D-81505 München

1995-2014 © haGalil onLine® bzw. den angeg. Rechteinhabern
Munich - Tel Aviv - All Rights Reserved