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Antisemitismus in Frankreich (V):
"Die verlorenen Gebiete der Republik"

Wie oben (unter 4.) beschrieben, schien der Antisemitismus in Frankreich - jedenfalls auf Massenebene - nach dem Zweiten Weltkrieg zurückgedrängt zu sein, oder hauptsächlich noch im engeren Milieu der extremen Rechten zu existieren. Zugleich wurde nach dem Ende des Vichy-Regimes die, zuerst 1905 als Konsequenz aus der Dreyfus-Affäre eingeführte, laizistische Trennung von Staat und (katholischer) Religion wieder eingeführt, somit universalistisch-republikanischen Werten wieder Geltung verschafft.

Droht nun dieser weitgehend erreichte historische Konsens der Französischen Republik einzureißen? Etwa konkret im Zusammenhang damit, dass der staatliche Laizismus etwa im Schulunterricht durch die Präsenz muslimischer Einwanderer(kinder) in Frage gestellt wird? (1) Diese Idee, in Verbindung mit dem Aufkommen eines neuen Antisemitismus, der spezifisch islamisch-migrantische Züge trage, wird durch einige AutorInnen verfochten.

Beispielsweise durch die AutorInnen des Sammelbands "Die verlorenen Gebiete der Republik" (2). Entgegen dem selbst gesteckten Anspruch, der im Untertitel formuliert wird ­ "Antisemitismus, Rassismus und Sexismus in schulischer Umgebung" ­ behandelt das 238 Seiten umfassende Buch nicht alle Formen von Diskriminierung, die es in diesem Bereich gibt, sondern fast ausschließlich Manifestationen von Hass gegen jüdische SchülerInnen, die von "arabischstämmigen" Kindern und Jugendlichen ausgehen.

Sich auf diesen Problembereich zu konzentrieren, ist prinzipiell legitim, zumal er im Zeitraum der Entstehung des Buches ­ im Frühsommer und Sommer 2002 ­ eine Quelle besonders spektakulärer Gewalttaten darstellte. Nur hätte man dann wohl den Anspruch nicht so hoch stecken und so umfassend formulieren dürfen, wie dies auf der Titelseite des Sammelbands geschieht. Alle drei dort genannten Problemfelder ausführlich zu behandeln, dafür hätte ein Buch von diesem Umfang sicherlich auch nicht genügt. Insofern war die Herausgabe des, freilich schnell geschriebenen und eilig zusammengefassten, Bandes sinn- und verdienstvoll; er fasst tatsächlich einige kritikwürdige bis erschreckende Beobachtungen zusammen. Das betrifft vor allem die sich häufenden Berichte über die Schwierigkeit, Unterricht über die Shoah namentlich in Schulen, die in so genannten Problemzonen oder sozialen Brennpunkten liegen, zu halten. Hier zeigt sich die Kehrseite eines Prozesses, der mit einem im Prinzip legitimen Anliegen begann: Die Kinder arabischer, auch afrikanischer Einwanderer wehren sich im Unterricht dagegen, dass "ihre" Geschichte ­ etwa jene der Kolonialisierung ­ entweder zu kurz kommt oder aber auf sehr parteiische Weise verhandelt wird. Doch von diesem Ansatz ausgehend, hat sich die Auseinandersetzung in der Praxis auf ein anderes Terrain verschoben ­ ähnlich wie in manchen US-Städten streben unterschiedliche Communities zunehmend danach, "ihre" Wahrheit, "ihre" Version von der Welt verabsolutieren und von jener der Anderen nichts mehr hören zu wollen.

Weit problematischer an dem Buch aber ist die Sichtweise, die im Hinblick auf diskriminierende oder anderweitige negative Verhaltensweisen von SchülerInnen, die meist der Migrationsbevölkerung entstammen, eingenommen wird. Quer durch die Beiträge zieht sich dabei sehr oft eine Herangehensweise, die den Anspruch auf Respekt der (schulischen) Autorität und auf Unterbindung als "abweichend" empfundenen Verhaltens mit dem Problem antisemitischer oder rassistischer, stigmatisierender Ideologien vollkommen vermengt. So wird häufig (auch wenn dies durch den Herausgeber nicht beabsichtigt ist, der in seinem Vorwort eine umfassendere kritische Perspektive formuliert) objektiv ein Standpunkt eingenommen, der das Problematische vorwiegend im Abweichen von den Ansprüchen der Mehrheitsgesellschaft und der Autorität der schulischen Amtsperson sucht. Etwa, wenn die Autoren mehrerer Beiträge sich ausführlich darüber empören, dass bestimmte SchülerInnen ­ deren migrantische Herkunft dabei stark betont wird ­ sich nicht für die drei Schweigeminuten erheben wollten, die nach dem 11. September 2001 durch die Schulleitungen angeordnet wurden. Die Motive für dieses widerstrebende Verhalten waren dabei jedenfalls durchmischter Natur: Drückten manche ihren Hass gegen alles "Amerikanische" oder "Pro-Israelische" aus, der auch über den Tod von zahlreichen ZivilistInnen in New York hinwegging, so handelte es sich bei anderen eher um einen Protest gegen die Autorität, die als parteiisch und keineswegs aus humanistischen Motiven heraus handelnd empfunden wurde. ("Für 200.000 Tote in Algerien während der Neunziger Jahre und eine Million Tote in Ruanda hat niemand uns gebeten, aufzustehen", sagten maghrebinische Jugendliche zum Verfasser dieser Zeilen.)

Besonders fatal aber sind jene Beiträge, die tatsächlich eine "Ethnisierung" des Untersuchungsgegenstands vornehmen. Dabei sticht etwa der Beitrag einer Geschichtslehrerin hervor, die auf S. 102 schreibt: "Je nach der ethnischen Zusammensetzung der Schule und der dabei vorherrschenden Komponente, griff der Negationismus (Anm.: der französische Begriff für die Negierung, also Leugnung des Holocaust) den einen oder den anderen Genozid an", die Autorin spricht dabei vom Holocaust sowie vom Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges. "Die Nicht-Existenz einer türkischen Community in meiner Schule erklärt die Abwesenheit von Reaktionen zu diesem Thema (Anm.: bezüglich des Armenier-Mords). Hingegen gab der Unterricht zum Zweiten Weltkrieg und dem Genozid an den Juden den Vorurteilen der maghrebinischen Schüler freien Lauf."

Man muss in diesem Fall darauf bestehen, dass es weder "die ethnische Zusammensetzung" einer Schule, noch die "Existenz oder Nicht-Existenz einer Community" für sich genommen sind, welche das Aufkommen von Tendenzen zur Leugnung des Holocaust oder aber der Massenmorde an Armeniern zu erklären vermögen. Sondern dass es sich um gesellschaftliche und politische bzw. alltagsideologische Prozesse handelt, die in verschiedenen Bevölkerungsgruppen zugleich am Werk sind und die in der Zunahme des Kommunitarismus (auf Kosten gesamtgesellschaftlicher, universeller Wertvorstellungen), dem Anwachsen von Ressentiments, der Abnahme von Mitgefühl für die Angehörigen anderer Communities bestehen. Eine solch essentialistische und ethnisierende Herangehensweise wie jene der Autoren führt ­ über den Umkehrschluss aus ihrer Aussage also: "Es befinden sich Türken in meiner Klasse, also ist es normal, dass die Morde an Armeniern geleugnet werden" ­ geradezu zu einer Entlastung des Individuums. Denn dieses "kann" dann gar nichts anders, als gemäß seiner Herkunft den Holocaust oder den Armenier-Mord zu leugnen, wenn nicht zu begrüßen ­ das Gegenteil müsste dann Erstaunen hervorrufen.

Anmerkungen:
(1) Siehe dazu etwa die heftige und teilweise sehr ideologisch geführte Debatte über das muslimische Kopftuch in öffentlichen (laizistischen) Schulen bzw. die Frage seines Verbots. Diese Diskussion, die 1989 zum ersten Mal eskaliert war, wurde jüngst - im September/Oktober 2003 - erneut durch den Schul-Ausschluss zweier Kopftruch tragender Mädchen, Lila und Alma Lévy, in der Pariser Vorstadt Aubervilliers ausgelöst. Doch der konkret vorliegende Fall ist reichlich untypisch, insofern, als hier ein repressiver Einfluss durch den Vater oder die großen Brüder definitiv ausgeschlossen werden kann, angesichts des familiären Hintergrunds: Der Vater der beiden Mädchen ist “Jude ohne Gott³, also Atheist jüdischer Herkunft, und Rechtsanwalt einer Antirassismus-Organisation; die Mutter ist christliche Kabylin (algerischer Herkunft). Beide Eltern lehnten das Kopftuchtragen ihrer Töchter zunächst klar ab, treten jedoch auch gegen ihren schulischen Einfluss auf. Vielleicht erlaubt dieser (Sonder-)Fall, klarer zu sehen, dass es sich nicht in allen Fällen um ein Anzeichen nackter Unterdrückung der Frauen durch ihre Familie - was auch oft genug vorkommen mag - handelt, sondern das Auftauchen des Kopftuchs sehr unterschiedliche Hintergründe haben kann. In diesem Fall handelt es sich allem Anschein nach um eine spezifische Form pubertärer Identitätsfindung und jugendlicher “Revolte³ gegen die Mehrheitsgesellschaft, wie problematisch auch immer die Symbole tatsächlich sind, derer sie sich bedient. Aus der Perspektive der Emanzipation bleibt sicherlich ein reales Problem, aber unter gegebenen Bedingungen gibt es keine einfachen (Praxis-)Antworten.
(2) Emmanuel Brenner (Hg.): "Les territoires perdus de la République. Antisémitisme, racisme et sexisme en milieu scolaire." Paris, Mille et une nuits, 2002.

hagalil.com 23-11-2003


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