Antisemitismus in Frankreich (II):
Die Gewaltwelle in den Jahren 2000 und 2002
Von Bernard Schmid
Der schlimmste Ausdruck dieses Grundklimas
sind die beiden Wellen von Gewalttaten, die vor allem im Herbst 2000 (kurz
nach Ausbruch der Zweiten Intifada) und im März / April 2002 (nach Beginn
der Auseinandersetzungen um Jenin) für eine Dauer von jeweils ein bis zwei
Monaten zu verzeichnen waren.
Die schlimmsten Erinnerungen wurden vor allem
im Frühjahr 2002 wachgerüttelt. In Marseille brannte eine Synagoge
weitgehend aus. Nahezu zeitgleich wurde die Vorderwand eines jüdischen
Gebetshauses in La Duchère einem "sozialen Problemviertel" bei Lyon mit
Hilfe eines so genannten Rammbock-Autos (voiture-bélier) eingedrückt. Es
handelt sich um eine kriminelle Methode, wie sie seit einigen Jahren in
mehreren französischen Banlieues verbreitet ist: Ein Auto wird in volle
Fahrt gebracht, und seine Wucht zum Rammen eines Gebäudes eingesetzt. 14
jüdische Jugendliche des Fußballclubs Maccabée in Bondy, einer
Trabantenstadt nördlich von Paris, wurden durch eine größere Bande
angegriffen und mit Schlägen malträtiert. Und diese Attacken bildeten nur
die Spitze eines Eisbergs. Zwischen dem 29. März und dem 17. April des
vergangenen Jahres wurden insgesamt 395 Straftaten unterschiedlicher Schwere
gegen jüdische Menschen und Einrichtungen festgestellt. Das reichte vom
Verbaldelikt (Beleidigung, Bedrohung) über das Anspucken bis zu Gewalttaten
wie den genannten.
Das Schlimmste scheint in dieser Hinsicht
vorüber zu sein; Mitte August 2002 meldete die Pariser Abendzeitung "Le
Monde" (vom 11./12. 08.), die konstant über die Gewaltwelle informiert
hatte: "Die antijüdischen Gewaltakte sind der Welle vom April stark
zurückgegangen." Das bedeutet nicht, dass es zu keinen Gewalttaten mehr
komme (ebenso, wie es eine konstante Rate von rassistischen Straftaten gegen
Einwanderergruppen gibt). Eines der jüngsten Beispiel ist die Schändung
einer Synagoge in der Pariser Vorstadt Saint-Denis in der Nacht vom 25. auf
den 26. Juli dieses Jahres. Noch jüngeren Datums ist die körperliche
Aggression gegen den Rabbiner der Pariser Vorstadt Ris-Orangis, Michel
Serfaty, der am vorigen Freitag Abend (17. Oktober) von vier in einem Auto
sitzenden Männer ins Gesicht geschlagen und beschimpft wurde. Die beiden
mutmaßlichen Haupttäter, ein 21- und ein 25jähriger aus der Pariser
Banlieue, sitzen in Haft.
Das Profil der Täter, soweit bekannt, lässt
sich im Wesentlichen in zwei Gruppen einteilen. Die deutlich größere Gruppe
der gefassten Urheber von Gewalt- oder Straftaten gegen jüdische Menschen
oder Symbole, soweit es um die letzten beiden Jahre geht, besteht aus jungen
Männern oder Jugendlichen aus der arabischstämmigen Einwanderergruppe. Diese
sind in den meisten Fällen bereits polizeibekannt oder vorbestraft, bevor
sie mit Gewaltakten gegen Juden in Erscheinung treten, und gehören in der
Regel keiner organisierten Bewegung (welcher Natur auch immer) an. Sie
scheinen in losen Kleingruppen zu handeln, die sich in einer allgemein von
Gewalt geprägten Umgebung bewegen wie sie in bestimmten Zonen der
"sozialen Brennpunkte" in den Trabantenstädten, wohin die Gesellschaft ihre
Armen und ihre Probleme abschiebt, anzutreffen ist. Ein kleinere Teil
dagegen besteht aus "klassischen", ideologisch strukturierten Antisemiten
aus dem Umfeld der französischen extremen Rechten.
Daher konzentrieren sich auch die Gewalttaten
räumlich auf jene Zonen, wo entweder sichtbare jüdische Communities selbst
in sozialen Unterschichtvierteln wohnen das gilt vor allem für aus
Nordafrika eingewanderte jüdische Bevölkerung oder aber wo gemischte
Wohngebiete mit jüdischem Bevölkerungsanteil unmittelbar dicht an marode
Hochhaussiedlungen angrenzen. Ersteres ist etwa in Sarcelles der Fall, wo
Ende der Fünfziger Jahre eine der allerersten (und bis heute größten)
Hochhaussiedlungen Frankreichs 15 Kilometer nördlich von Paris entstand
und zugleich eine der größten jüdischen Gemeinden Frankreichs lebt, mit
hohem Anteil an Einwanderern aus Nordafrika. Zweiteres gilt etwa für größere
Teile des 19. Pariser Arrondissements: In diesem Bezirk herrscht einer der
höchsten Armutsraten innerhalb von Paris, mit einigen der verrufensten
Hochhaussiedlungen innerhalb der Stadtgrenzen. Dabei existieren auch hier
einige halb "abgeschriebene" Zonen, in denen ein Teil der
Einwandererbevölkerung "geparkt" wird, wenngleich sie weit weniger
ausgedehnt sind als in den Trabantenstädten. Zugleich bestehen hier mehrere
Straßenzüge intensiven und sichtbaren (da orthodoxen) jüdischen Lebens, etwa
nördlich des Parc de la Villette oder auch, südlich davon (in der rue Manin,
oder im Stadtteil Belleville). In diesem Dreieck im nordöstlichen Paris war
die Spannung vor allem im Herbst 2000 deutlich spürbar. Mittlerweile dagegen
ist sie zumindest aus dem jüdischen Alltagsleben, wie es auf der Straße
sichtbar ist, wieder verschwunden.
Dennoch darf der Eindruck nicht darüber
hinweg täuschen, dass die Ereignisse psychische Spuren hinterlassen haben.
Viele jüdischen Menschen haben an Vertrauen verloren und reagieren mit
unterschiedlichen Strategien darauf. Eine Zeitlang neigten einige von ihnen
dazu, ihr Judentum zu verbergen, indem sie etwa die Kippa durch eine
"unverfänglichere" Kopfbedeckung, wie Baseballkappen, austauschten. Diese
Erscheinung ist aber seit einem Jahr stark zurückgegangen, und die Kippa
wird wieder deutlich sichtbar getragen. Andererseits aber reagiert ein Teil
von ihnen auch durch einen geistigen Rückzug auf die Grenzen ihrer eigenen
Community, oder auf den Gedanken nach Auswanderung (1).
Wieder andere warnen davor, sich zu isolieren und "selbst zu ghettoisieren",
und legen die Betonung darauf, jüdische Menschen seien nicht die einzigen
Opfer von Gewalt in jenen "Problemzonen", in denen sich die Mehrzahl der
Angriffe in den vergangenen Jahren ereigneten.
Anmerkung:
(1) Vgl. dazu auch die Reportage in "Le Monde" vom 20. September 2003: "Le
malaise persistant des juifs de France".
hagalil.com
02-11-2002
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