Antisemitismus im Gewand des Intellektualismus
Kommentar von Avi Becker,
Ha’aretz, 07.10.2002
Die Abnahme von antisemitischen Vorfällen in Europa
während der vergangenen Monate täuscht. Wegen der internationalen Kritik,
besonders ausgehend von den USA, greifen einige europäische Regierungen
derzeit mit rigorosen Maßnahmen durch, um die gewalttätigen Ausbrüche gegen
Juden zu verhindern. Doch die Statistiken führen in die Irre und verbergen
antiisraelische und antisemitische Trends, die weltweit eine zentrale
Position unter Intellektuellen und in der akademischen Welt eingenommen
haben. Anstatt Synagogen anzuzünden und mit gewaltsamen Schikanen gegen
jüdische Kinder oder Rabbiner vorzugehen, gibt es nun eine Kampagne der
Hetze, die sich unter dem Mantel des Intellektualismus verbirgt.
Intellektuelle und Aktivisten von Bürgerrechtsbewegungen
versuchen tatsächlich zu erklären, dass der Terror gegen Israel und die
Angriffe auf Juden Israel anzulasten sind. Ihre Analyse verbindet die
Delegitimisierung des Staates Israel mit traditionellen antisemitischen
Motiven und Stereotypen. Gemäß jeden objektiven Kriteriums ist dies eine
neue Welle des Antisemitismus und seit dem Zweiten Weltkrieg ein
beispielloses Geschehen. Und es ist schwer, dafür irgend ein Gefühl von
Verantwortung unter Staatsmännern und Intellektuellen zu finden.
Die gesamte Gewalt gegen Juden, Ausdrücke von Hass
–inklusive der Schreie "Tötet die Juden", die man auf den Straßen und
Universitätsplätzen in Europa und anderswo auf der Welt hört-, vielsagende
Stille oder verzerrte Erklärungen, die Israel für die Ereignisse
verantwortlich machen, charakterisieren das, was nun "der neue
Antisemitismus" genannt wird.
Der Rektor der Harvard Universität, Lawrence Summers,
erhob kürzlich seine Stimme wegen des moralischen Verfalls der
Intellektuellen. Als früherer Finanzminister in der Clinton-Regierung
bezeichnete sich Summers während seiner Promotionsrede an der Universität
als nicht praktizierender Jude, der in seinem ganzen Leben niemals mit
Antisemitismus konfrontiert worden sei. In der Vergangenheit, so erklärte
er, hatte er Versuche, Kritik an Israel als Antisemitismus zu bezeichnen,
zurückgewiesen. Doch nun, sagt er, ist Antisemitismus nicht länger das
Monopol der unteren Schichten des rechtsextremen Flügels, sondern fasst Fuß
bei aufgeklärten Intellektuellen, deren antiisraelische Einstellung von
antisemitischer Aktivität gekennzeichnet ist. Summers sagte, dass er diesen
Antisemitismus in der wachsenden Befürwortung für einen ökonomischen und
akademischen Boykott Israels, in der bewussten Gleichgültigkeit gegenüber
dem Sammeln von Geld für antiisraelische Terroristengruppen an den
Universitäten und in den Demonstrationen der politisch Linken, die Israel
verurteilen und Ariel Sharon mit Hitler vergleichen, sieht.
Vor ein paar Monaten hat der jüdische Intellektuelle Alain
Finkielkraut in Paris gesagt, dass unverhohlener französischer
Antisemitismus nun in der extrem Linken und nicht in der extrem Rechten,
repräsentiert von Le Pen und seinen rechten Unterstützern, zu finden ist.
Kürzliche Wahlkampagnen in Frankreich, Deutschland und Dänemark beinhalteten
antiisraelische und antisemitische Rhetorik, um den verborgenen Rassismus
der Massen anzusprechen.
Eine Analyse der antisemitischen Ereignisse zeigt, dass es
eine Symbiose von Aktivitäten gewalttätiger Hooligans und der Atmosphäre in
intellektuellen Kreisen und Medien gibt. Das UN-Treffen gegen Rassismus, das
letztes Jahr in Durban, Südafrika, stattgefunden hatte, war die Schrift an
der Wand, aus der niemand eine Lehre gezogen hat. Angesehene Medien wie "The
Guardian", "BBC" und "Le Monde" zitierten Intellektuelle, die das
Existenzrecht Israels in Frage stellten. Die europäische Presse,
Bürgerrechtsgruppen und UNWRA, die Flüchtlingsagentur der UN, müssen sich
erst noch für die Verleumdung, die sie über die Operation der israelischen
Verteidigungsstreitkräfte in Jenin verbreitet haben und die zu einem
Ausbruch von antisemitischen Ereignissen führte, entschuldigen.
Diese Atmosphäre ist es, die die öffentliche Diskussion in
Europa nährt. Unter der Leitung von Syrien, einem Staat, der den Terror
unterstützt und gegenwärtig die Präsidentschaft im UN-Sicherheitsrat
innehat, ist Europa nun bereit, die Definition für die Verantwortung des
mörderischen Terrors zu ignorieren und allein Israel zu beschuldigen. Und
bei der UN-Kommission für Menschenrechte in Genf, unter deren
Mitgliedstaaten auch "aufgeklärte" Länder wie Syrien, Libanon und Sudan
sind, werden Entscheidungen getroffen, die Gründe für das Morden von
jüdischen Israelis liefern.
Der neue Antisemitismus verfinstert die Vernunft und die
Moral und bringt Konzepte durcheinander. Die unheilige Allianz zwischen
europäischen Linken, deren Ränge auch mit Akademikern und Intellektuellen
gefüllt sind, und islamischen Fundamentalisten und Terroristen gefährdet
Israel und die Juden und bedroht außerdem die moralische Stärke der
westlichen Kultur.
Der Autor ist Generalsekretär des World Jewish Congress.
hagalil.com
27-05-2002
|