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Jüdische Weisheit
 
 

Eine Frage der Haltung:
Der neue Antisemitenkatechismus

Von Moshe Zimmermann

Zwei Fragen machen viele Deutsche ratlos: Wird unser Land tatsächlich von einer Flut des Antisemitismus überschwemmt? Dürfen wir uns über Israel nicht kritisch äußern, weil uns dann automatisch Antisemitismus vorzuwerfen ist? Schüchtern sucht man nach einer klaren Grenze zwischen legitimer Kritik und Antisemitismus, nach einem eindeutigen Warnsignal bei Grenzüberschreitungen. Als Antisemitismusforscher stelle ich den folgenden Katechismus für Jürgen Möllemann, Michel Friedman und Guido Westerwelle zur Verfügung.

Was ist eigentlich Antisemitismus?

Ein Begriff, der im Jahr 1879 von einem Deutschen erfunden wurde, um den nicht mehr salonfähigen Begriff "Judenfeindschaft" oder "Judenfresser" zu ersetzen. Antisemit ist einer, der aufgrund eines Vorurteils "die" Juden – als vermeintliche Rasse, Nation, Religionsgemeinschaft oder soziale Gruppe – pauschal negativ bewertet und daraus im relevanten Fall auch soziale oder politische Konsequenzen zieht.

Kann ein Araber Antisemit sein?

Ja. Mit dem Begriff "Antisemit" wollte man von Anfang an nur die Juden angreifen. Ein arabischer beziehungsweise muslimischer Antisemitismus ist also nicht ausgeschlossen. In der muslimischen Tradition gibt es zwar ansatzweise auch eine pejorative Haltung gegenüber Juden. Doch erst seit Beginn des arabisch-zionistischen Konflikts bedienten sich Araber im Nahen Osten der vorrangig aus Europa importierten antisemitischen Argumente und Bilder, quasi als Schützenhilfe im neuen, akuten Kampf. Dieser arabische Antisemitismus hat den paradoxen Weg zurück nach Europa gefunden, wo heute beträchtliche arabische Minderheiten leben.

Was erklärt diese gegenwärtige Welle des Antisemitismus?

Die aktuelle Situation im Nahen Osten. Die Reaktion auf Israels Verhalten während der Intifada verwandelt die ursprüngliche anti-israelische Haltung von Muslimen oder Arabern in Antisemitismus. Ein Anschlag auf eine Synagoge ist ein antisemitischer Akt, auch wenn sich dahinter eine trotzige Reaktion auf die israelische Politik verbirgt. Die Zahlen solcher Angriffe seit Oktober 2000 sprechen eine deutliche Sprache.

Gilt diese Regel auch für "autochthone" Europäer?

Gewiss. Die antisemitische Tradition hat sich zwar in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa abgeschwächt, aber der Konflikt in Nahost (und besonders die Intifada) dient als Rechtfertigung auch für "autochthone" Europäer, ihre antisemitischen Vorurteile zu reaktivieren. Wer die Sympathien von Antisemiten für sich gewinnen will oder sich auf Stimmenfang antisemitischer Wähler befindet, der kann es entweder über die Verwendung des antisemitischen Diskurses tun oder die Menschen aus der nicht- "autochthonen" Gruppe unterstützen wie Jamal Karsli, die antisemitische Narrative und Bilder verwenden. Wer das tut, ist selbst Antisemit oder Mitläufer.

Gibt es dann keine Kritik an israelischer Politik, ja keine Kritik an Israel, die nicht automatisch als Antisemitismus zu werten ist?

Jede ehrliche Kritik, die auf Sachkenntnissen beruht, ohne von judenfeindlichen Stereotypen und Pauschalisierungen Gebrauch zu machen oder latente antisemitische Sentimente heraufbeschwören zu wollen, ist nicht, kann nicht antisemitisch sein, und ist deshalb legitim, auch in Europa, ja sogar in Deutschland.

Es ist einfach, den "klassischen" Antisemiten zu entlarven: Er denkt, dass man Juden vergasen darf oder zumindest "loswerden" muss, leugnet im selben Atemzug Auschwitz, spricht offen von einer jüdischen Weltverschwörung oder von jüdischer Geldgier und will keine Juden in der Nachbarschaft. Woran erkennt man jedoch den Antisemitenwolf im Israel-Kritiker- Schafspelz?

Eben an den Assoziationen, die der Kritiker heraufbeschwört, an den von ihm gewählten Angriffszielen und nicht zuletzt an seiner eigentlichen Absicht. Erstens geht es um die Assoziationswelt des Israel-Kritikers. Die Sprache ist ja die Mutter aller Assoziationen: Werden Shylock, Judas oder Der Stürmer im Zusammenhang mit dem Thema Israel erwähnt, wird hinter dem deutschen Juden der Auslandsisraeli vermutet, wird von "Auge-um-Auge"- Mentalität oder von Deutschen vs. Juden gesprochen, werden der stereotype "reiche Jude", der "Kosmopolit" oder das "Weltjudentum" in die Diskussion hineingezogen; kommt in der Karikatur die "jüdische" Nase oder der Hinweis auf Ritualmord zum Vorschein – dann befindet man sich bereits im Bereich des Antisemitismus, weit über die legitime Sharon- oder Israel-Kritik hinaus. Zweitens geht es um die Gruppe, gegen die die Kritik geäußert wird: Wenn es sich nicht um den spezifischen Politiker (israelischen oder auch deutschen) oder um die spezifische Organisation (auch wenn sie "Jüdischer Weltkongress" heißt) handelt, sondern um den vermeintlichen Vertreter "des" Judentums oder "der" Juden, wenn nicht an israelische, sondern an jüdische Charakteristika gedacht wird – sind wir bereits beim Antisemitismus angelangt.

Und drittens und vielleicht noch wichtiger: Auf die Absicht kommt es an. Ein und derselbe Satz oder Ausdruck kann unterschiedliche Intentionen haben. Sogar Vergleiche mit dem Nationalsozialismus erhalten so eine unterschiedliche Bedeutung: Ein Vergleich kann auf die Unterschiede abzielen, er kann als Mahnung dienen, er kann aber auch eine Verharmlosung oder Relativierung des Nationalsozialismus beabsichtigen oder eine Delegitimierung des Judentums. Ob ein Israel-Kritiker eine antisemitische Absicht hat, kann man meist nur indirekt erfahren, wenn man die Denkweise des Kritikers oder die Adressaten dieser Vergleiche und historischen Anspielungen kennt. Die vor etwa 15 Jahren gefallenen Äußerungen des Historikers Ernst Nolte bieten ein typisches Beispiel. In der Regel braucht der Beobachter jedoch viel Fingerspitzengefühl.

Können die Juden nicht selbst Antisemitismus schüren?

Nein. Aber auch Juden können dazu beitragen, dass latente Antisemiten sich ‘outen’. Ohne das bereits vorhandene antisemitische Vorurteil hätten das Wort oder die Tat eines Juden nicht die auf Juden bezogene Reaktion heraufbeschworen. Wenn zum Beispiel jemand sowohl jüdisch als auch pro- israelisch, Parteimitglied, Medienmensch etc. ist und gerade wegen seines Jüdischseins angegriffen wird – ist wahrscheinlich Antisemitismus im Spiel.

Ist der Aufschrei "Wolf, Wolf, Antisemitismus!" unter den Juden nicht oft übertrieben?

Heute ist Auschwitz aus den Köpfen nicht mehr wegzudenken. Auschwitz macht viele Juden zu Paranoikern.

Erklärt das auch die israelische Überreaktion beim eigentlichen oder vermeintlichen Antisemitismus?

Nur teilweise. Für die israelische Politik der letzten 25 Jahre gilt jeder Hinweis auf Antisemitismus, ob in Nahost oder Europa, als Bestätigung der im Zionismus verbreiteten Vermutung, dass der Antisemitismus allgegenwärtig und ewig ist und Israel deshalb vom Nachdenken über seine Ideologie und Politik – gegenüber Palästinensern, israelischen Arabern, linken "Verrätern" etc. – freigestellt sei. Versteht man die Welt so, ist in den eigenen Augen alles, was Israel tut, legitim, quasi das Vorbeugen eines neuen Auschwitz. Kurz: Der gegenwärtige Antisemitismus dient just jener israelischen Politik, die ehrliche Israel-Kritiker verurteilen.

Der Autor lehrt Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem und ist Direktor des Richard-Koeber-Centers for German History.

hagalil.com 30-05-2002


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