aspekte:
Zu viel Political Correctness?
Ist unsere Konsensgesellschaft am Ende?
Haben die Bürger die seit Jahren um sich greifende Welle der Political
Correctness (PC) satt?
Die Kunst der Provokation ist derzeit hoch
entwickelt: Le Pen, Haider, Pim Fortuyn - die Generation der Populisten, die
sich ihre Stimmen mit Ressentiments einfangen, ist nun auch in Deutschland
angekommen. Hierzulande versucht Jürgen W. Möllemann mit populistischen Sprüchen
18 Prozent Stimmen für die FDP zu sichern, offenbar ohne Rücksicht darauf, von
wem sie kommen.
Warum schweigen die Intellektuellen und Künstler dazu? Was die beiden
Berufs-Provokateure Maxim Biller (Journalist und Autor) und Christoph
Schlingensief (Bürgerschreck und Theaterregisseur) dazu sagen:
http://zdf.de/wissen/aspekte ...
aspekte: Wie ist das Klima in einer Gesellschaft, in der
Politiker wie Möllemann meinen, die Sorgen der schweigenden Mehrheit
anzusprechen?
Maxim Biller: Die schweigende Mehrheit ist - fangen wir erst mal damit an -
komplett unpolitisch. Die schweigende Mehrheit ist neidisch. Die schweigende
Mehrheit ist rassistisch. Die schweigende Mehrheit ist faul. Die schweigende
Mehrheit hat Angst um das, was sie besitzt. Und je mehr sie besitzt, desto
größere Angst hat sie. Die schweigende Mehrheit will nicht teilen. Die
schweigende Mehrheit ist egoistisch.[...] Also, nehmen Sie mal das Beispiel
Holland. Ich mein Holland, so ungefähr das reichste Land dieser Erde, und die
glauben, sie hätten das schlimmere Problem als Bangladesh, und darum haben die
jemand wie Fortuyn überhaupt so weit kommen lassen. Aus dem Grund, ich find das
eigentlich alles so unheimlich lächerlich, dass ich gar nicht sagen kann, wie
lächerlich es ist. Das Problem ist nur, dass solche lächerlichen
Ausgangssituationen historisch sehr oft zu Katastrophen geführt haben und an so
einem Punkt stehen wir eigentlich im Moment. [...]
Gibt es in Europa eine neue Welle des Antisemitismus?
Wir leben in einer Zeit, in der Antisemiten nicht mehr zugeben, dass sie
Antisemiten sind. Ich finde, dass ist im Vergleich zu der Zeit vor 60, 70 Jahren
ein großer Fortschritt. Zum andern aber ist natürlich der Antisemitismus immer
nur, sagen wir die Avantgarde, ich würde sagen das Avantgardegefühl der
Reaktionären. Also das, was in Frankreich oder was in Österreich geschah und
geschieht, hatte erst mal weniger mit Juden zu tun gehabt, auch wenn es sie
natürlich auch betrifft. Und das, was ich vorhin gesagt habe, gilt immer noch.
Europa ist der reichste Kontinent dieser Erde, den Leuten geht es so gut, dass
sie deshalb soviel Angst haben, es zu verlieren und sich einfach Feinde suchen.
Wir sagen immer so gerne, Menschen brauchen Sündenböcke, wir sagen immer gerne,
Menschen sind rassistisch. Wir denken aber nicht an das Individuum. Niemand
denkt daran, wie selten er Menschen trifft mit einem guten Charakter. Menschen,
die nicht neidisch sind, einfach nur in dem kleinen Umfeld, in dem wir leben.
Wie sieht die Rolle der Intellektuellen in
dieser Debatte aus?
Wir haben ein Problem mit den Intellektuellen in Deutschland, weil die
Intellektuellen inzwischen genauso verbiedermeiert sind, wie der Rest dieser
Republik. Und wenn jemand Angst um Besitzstand hat, wenn jemand Angst hat, das
richtige Stipendium zu verpassen, den richtigen Preis zu verpassen, wenn jemand
Angst hat, aus dem richtigen Verlag rauszufliegen, dann wird er natürlich auch
nicht wirklich kämpferisch sein. Also: die Verlustängste der Intellektuellen
sind so groß, dass die inzwischen kaum noch was riskieren. Also das, was
eigentlich ein Künstler und einen Intellektuellen ausmacht, nämlich immer NICHT
das zu denken, was die bürgerliche Gemeinschaft denkt, das ist komplett verloren
gegangen. In Deutschland beispielsweise einen aufregenden Text zu schreiben, der
radikal ist, der herausfordert - aber immer im Rahmen sozusagen der Liebe zum
Menschlichen - den werden Sie nicht mehr unterbringen in einer deutschen
Zeitung. Da kommen dann 17.000 Bedenken und Bedenkensträger, die alle Schiss vor
ihrem Chefredakteur haben und da die wiederum dann Schiss vor dem großen
Verleger haben, der Holtzbrinck oder Bertelsmann heißt. Denn der guckt im
Prinzip nur aufs Geld und nicht auf die Inhalte. Also wir leben, Sie können’s
nett sagen im Biedermeier. Sie können's bös' sagen: in einer Diktatur der
Durchschnittlichen.
hagalil.com
03-06-2002
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