Kiddusch in Alexandria

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Berliner Beter besuchen Synagogen und folgen Maimonides’ Spuren. Eine Reportage aus Ägypten…

Von Gerhard Haase-Hindenberg
Zuerst erschienen in: Jüdische Allgemeine v. 18.01.2020

Der voll besetzte Kleinbus kommt gut voran auf der vierspurigen Autobahn zwischen dem Flughafen Kairo inmitten der Wüste und der größten Stadt Afrikas. In den engen Straßen von Wust El-Balad aber, der historischen Stadtmitte Kairos, steckt der Wagen schließlich im Stau – ausgerechnet vor einem prächtigen Gebäude im Stil eines antiken ägyptischen Tempels, das umgehend die Aufmerksamkeit der Mitreisenden auf sich zieht.

Schließlich sind sie nach Ägypten gereist, um nach Spuren der einst blühenden jüdischen Gemeinschaft zu suchen. Und hier, an der Fassade des von schwer bewaffneten Soldaten bewachten Baus, sind unübersehbar goldene Davidsterne zu erkennen.

Innenraum mit sefardischer Bestuhlung, Foto: Gerhard Haase-Hindenberg

»Das war die Kairoer Zentralsynagoge«, erklärt Rabab, die deutsch-ägyptische Reiseleiterin, ihrer Reisegruppe, die ausschließlich aus Mitgliedern und Freunden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin sowie dem einstigen Gemeinderabbiner Tovia Ben-Chorin und seiner Frau besteht. Später werden die Gäste erfahren, dass es sich um die Synagoge Scha’ar Haschamajim (Tor zum Himmel) handelt, die von den Ägyptern auch Ismailia-Tempel oder nach dem Namen der Straße, an der sie liegt, schlicht Adly-Synagoge genannt wird.

Das kleine Hotel, in dem die zwölfköpfige Berliner Gruppe in den nächsten Tagen wohnen wird, ist etwa 300 Meter vom Tahrir-Platz entfernt, wo Kairos Jugend vor acht Jahren den Aufstand probte. Heute gehört es dem Sohn des einstigen Hotelgründers, der nach dem Camp-David-Friedensabkommen zwischen Israel und Ägypten der erste Botschafter Ägyptens in Israel war. Um die Ecke liegt das legendäre Café Riche. Dort ist für den Abend ein Treffen mit Magda Haroun verabredet, der Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde von Ägypten.

Das Café Riche hat seine glorreichsten Zeiten lange hinter sich, als hier der Literaturnobelpreisträger Nagib Mahfuz und die arabische Kultsängerin Umm Kulthum zu den Stammgästen zählten. Auch Magda Harouns Vater, ein Kommunist und Parteigänger des ägyptischen Staatsmanns Gamal Abdel Nasser, verkehrte hier. Dies mag erklären, warum dessen Familie vom staatlich verordneten Exodus der ägyptischen Juden ab den 50er-Jahren verschont geblieben war.

Im Jahr 1956 lebten 80.000 Juden in Kairo und Alexandria. Als die Patentanwältin Magda Haroun im Jahr 2013 zur Gemeindevorsitzenden gewählt wurde, waren es noch 13 Gemeindemitglieder. Aktuell, so erklärt sie, seien es fünf. Ihnen obliegt es, sich um die zwölf Synagogen und den jüdischen Friedhof in Kairo zu kümmern.

Hierfür konnte die Nichtregierungsorganisation »Drop of Milk Association« gewonnen werden, deren Leiter Samy Ibrahim – väterlicherseits jüdisch – ins Café Riche mitgekommen ist. Seit einiger Zeit erfahren sie hierfür auch Unterstützung von ungewöhnlicher Seite. Staatspräsident Abd al-Fattah as-Sisi, der seine Kindheit in Gamaleja, einem jüdisch geprägten Wohnumfeld im historischen Teil von Kairo, verbrachte, hat die Pflege des jüdischen Friedhofs und die Restaurierung der Samuel-Menashe-Synagoge in Alexandria zur Chefsache erklärt.

Am nächsten Morgen streift die Reisegruppe durch die engen Gassen von Haret el Yahud, jenes Viertels, in dem über Jahrhunderte jüdische Handwerker und Händler an sechs Tagen der Woche ihrer Alltagsarbeit nachgingen. Hier, in der Nähe des weltberühmten Basars Khan el-Khalili, befindet sich ein Ort, der nicht nur für das sefardische Judentum ein ganz besonderer ist. In unmittelbarer Nachbarschaft von arabischen Metzgern und Metallhandwerkern befindet sich jenes unscheinbare Gebäude, in dem vor mehr als 800 Jahren der aus Córdoba stammende Moses Ben Maimon – auch bekannt als Maimonides oder Rambam – als Arme-Leute-Arzt gewirkt hat. Er war auch der Leibarzt des Sultans Saladin, doch in die Geschichtsbücher des Judentums ging er vor allem als bedeutender Philosoph und Rechtsgelehrter ein.

Unmittelbar nach Maimonides’ Tod im Dezember 1204 wurde hier eine kleine Synagoge eingerichtet. Spontan referiert Rabbiner Ben-Chorin von der Bima aus über die Systematisierung des jüdischen Rechts, Mischne Tora, die durch Maimonides im 12. Jahrhundert exakt an diesem Ort erfolgt sei. Der erfahrene Rabbiner beendet seine kurze Ansprache mit dem Bekenntnis, sich in seinem Leben viel zu wenig mit dem sefardischen Judentum und dessen reicher Kultur beschäftigt zu haben.

Manch einer in der Gruppe mag sich dabei auch an jene Aussagen erinnern, die die Sefardin Magda Haroun am Vorabend zum Thema Zionismus gemacht hat. Die zionistische Idee, geboren während der Pogrome in Osteuropa im 19. Jahrhundert, und die israelische Staatsgründung als »logische Konsequenz aus der Schoa« seien folglich »europäische Erfindungen«.

Die ägyptischen Juden hätten derartige Probleme nicht gehabt. Abgesehen von antisemitischen Äußerungen radikaler Muslimbrüder habe man seit Jahrhunderten friedvoll mit den muslimischen Nachbarn zusammengelebt. Die Probleme hätten »erst mit der Gründung Israels begonnen«. Und als die Vertreibung der ägyptischen Juden begann, sei nur weniger als ein Drittel von ihnen in den jüdischen Nachbarstaat emigriert.

Diese antizionistische Haltung einer der letzten Jüdinnen Ägyptens erinnert im Nachhinein manche in der Gruppe an die des assimilierten deutschen Judentums im 19. und frühen 20. Jahrhunderts. In jenen Kreisen ist damals die Idee vom Judenstaat auch nicht sehr populär gewesen.

In der Maimonides-Synagoge wird der Aron Hakodesch ziemlich unfeierlich für die Besucher geöffnet. Beim Blick der Gruppe auf eine einsame Torarolle erschallt spontan ein vielstimmiges Schma Jisrael. Beim Verlassen dieses besonderen Ortes spricht Marion Schubert aus, was sicher jeder in der Gruppe in diesem Moment empfindet: »Hier in dieser Synagoge im Hause des Maimonides zu sein, ist für mich etwas unwirklich, und es berührt mich sehr.« Gemeindemitglied Billy Rückert findet: »Es war überwältigend, hier zu sein, wo der Rambam gelehrt und gearbeitet hat und gestorben ist.«

Hinter der berühmten »Hängenden Kirche« im koptischen Viertel, am Ende einer langen, von Souvenirläden gesäumten Gasse, liegt die Ben-Ezra-Synagoge, die ein kleines Museum beherbergt. Hier werden zahlreiche Legenden verbreitet, die manchen Touristen beeindrucken und andere amüsieren. Zum Beispiel die, dass auf dem schmucklosen Hof hinter dem Gebäude an einem heute versandeten Nebenarm des Nil einst der kleine Moses ins Körbchen gelegt und seinem Schicksal überlassen worden sei.

Später sei er hierher zurückgekehrt, um die Israeliten auf den Exodus vorzubereiten. Und Alexander der Große sei hier dem Propheten Jeremia, »einem großen älteren Mann mit langem weißen Bart«, begegnet. So steht es in einer Broschüre, die hier verkauft wird. Nur, dass jener »ältere Herr« zum Zeitpunkt von Alexanders Ägyptenfeldzug bereits über 300 Jahre alt gewesen wäre.

Die kleine jüdische Reisegruppe hält sich lieber an das, was sichtbar ist. Die Hebräischlehrerin Miriam Rosengarten erreicht, dass die Absperrung vor der Bima für sie geöffnet wird und sie die hebräische Inschrift auf dem marmornen Toratisch lesen kann. »Meine Hilfe kommt von Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat«, übersetzt sie das Zitat aus dem 121. Psalm. Vergleichbare emotionale Reaktionen wie am Tag zuvor in der Maimonides-Synagoge aber sind bei den jüdischen Reisenden aus Berlin diesmal nicht zu erkennen.

Zum Schabbat begibt man sich ins 200 Kilometer entfernte Alexandria. Zu Beginn der Busreise stellt sich ein Zweimeter-Hüne vor, der eine Neun-Millimeter-Maschinenpistole unter dem Jackett trägt. Freundlich erklärt er der Gruppe, das Innenministerium habe ihn zu ihrem Schutz abgestellt. Gemeinsam macht man sich auf den Weg zum Mittelmeer.

Das Luxusresort im einstigen königlichen Montaza-Garten stellt sich als muslimische Herberge heraus. Zum Kiddusch müssen die Beter also mit Traubensaft vorliebnehmen. Nachdem dem Rezeptionisten klargemacht werden kann, dass man »ein kurzes Meeting mit Gebeten« plane, wird eine kleine Tafel in einer Nische in der Nähe des Swimmingpool hergerichtet. Der Kabbalat Schabbat kann beginnen. Anstelle der Challa hat jemand Mazzot mitgebracht, was zu diesem Ort auch dann passt, wenn nicht Pessach ist.

Auf einer Terrasse zwei Etagen über der improvisierten Gebetsstätte findet eine muslimische Hochzeit statt. Als die jüdische Beterschaft sich schließlich zum Lecha Dodi erhebt und sich in Richtung Tür dreht, steht – einer Fata Morgana gleich – eine leibhaftige Braut dort oben und blickt auf die Fremden herunter. Was mag sie wohl denken, als sich die Gruppe vor ihr verneigt? Rabab, die muslimische Reiseleiterin die als Gast am Kabbalat Schabbat teilnimmt, zeigt sich am Ende sehr berührt von dem religiösen Ritual. Bevor sich die Gruppe in Richtung Speisesaal aufmacht, bittet sie die männlichen Beter, doch bitte die Kippa abzunehmen.

Am letzten Tag der Reise macht Samy von der »Drop of Milk Association« möglich, was selbst Ägyptern nicht ohne Weiteres vergönnt ist. Die schwer bewaffneten Soldaten vor der Scha’ar-Haschamajim-Synagoge treten zur Seite und lassen die Reisegruppe passieren. Im Hof hinter dem Gotteshaus ist dann auch Magda Haroun wieder da und präsentiert den Schlüssel zur Synagoge in Form einer Palme, die noch immer das Symbol der Juden von Kairo ist.

Hinter der bescheiden wirkenden Tür entdeckt die Reisegruppe einen imposanten Tempel mit sefardischer Bestuhlung, wo man in gegenüberliegenden Reihen im 90-Grad-Winkel zur Bima sitzt.

Mitte der 60er-Jahre war diese Synagoge zum letzten Mal gefüllt. Seither kommen nur gelegentlich an Feiertagen die wenigen Kairoer Juden mit jüdischem Botschaftspersonal aus verschiedenen diplomatischen Vertretungen zusammen. Hierzu lädt Samy dann einen Rabbiner aus Israel ein. Den Rest der Zeit aber schlummern die 13 Torarollen in ihren aufwendig und kunstvoll gestalteten Kästen im Aron Hakodesch.

Zum Abschied singt die Gruppe das »Osse Schalom«, das in den Gewölben der Synagoge widerhallt. Und Magda Haroun erzählt im kleinen Kreis eine Geschichte aus ihrem Elternhaus, die stellvertretend für die Zerrissenheit der verbliebenen ägyptischen Juden stehen könnte. An jenem Tag, als Präsident Sadat in Jerusalem vor der Knesset sprach, habe ihr Vater im Gefängnis gesessen, weil er ein erklärter Gegner dieser Annäherung an Israel gewesen war. Ihre Mutter aber habe vor Freude geweint.

Im September 2020 (vor Rosh Hashana) wird es wieder eine solche Reise geben. Interessenten melden sich bitte unter dem Stichwort „Kairo-Reise“ bei Gerhard Haase-Hindenberg: haasehindenberg(at)web.de

Bild oben: Die Synagoge Scha’ar Hschamajim ist die ehemalige Kairoer Zentralsynagoge. Von den Ägyptern wird sie auch Ismailia-Tempel oder schlicht Adly-Synagoge genannt. Foto: Gerhard Haase-Hindenberg