Herr der Wörter

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Tomás Cohen ist Lyriker, lebt in Berlin und organisiert Lesungen mit internationalen Autoren…

Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg
Zuerst erschienen in: Jüdische Allgemeine v. 04.01.2020

Im Oktober habe ich in Hamburg zum 20. Mal eine »Hafenlesung« moderiert, ein Format, das ich einst mitinitiiert habe. Auch an diesem Abend präsentierten wieder Schriftsteller aus verschiedenen Ländern vor zahlreich erschienenen Zuschauern ihre Texte. Zwei Tage zuvor war der Anschlag in Halle passiert.

Deshalb bat ich am Ende der Veranstaltung das Publikum um einen Moment des Schweigens im Gedenken an die verängstigten Menschen in der Synagoge und für die beiden tödlich getroffenen Opfer. Danach bedankte ich mich bei unseren Zuschauern, dass sie sich soeben dem Kampf unseres Autorenkollektivs gegen Engstirnigkeit und Rassismus angeschlossen haben, was beides leider auch im literarischen Establishment anzutreffen ist.

Ich kam vor 35 Jahren in einem kleinen chilenischen Dorf zur Welt, das Pellhue heißt. Die Familie meines Vaters kam ursprünglich aus der Ukraine, wo mein Urgroßvater in einem kleinen Ort Rabbiner war. In den 30er-Jahren ist sie nach Chile emigriert.

Ich gehöre zur dritten Generation derer, die in Chile geboren sind. Schon als kleines Kind zog ich mit meinen Eltern nach Santiago de Chile, aber fast an jedem Wochenende haben wir in Pellhue das Haus meiner Großeltern besucht. Meine emotionale Verbindung zur Natur rührt genau von diesem kleinen Dorf an der Pazifikküste her, wo die Strände aus schwarzem Vulkansand bestehen und bis zu den dunklen Wäldern einer Gebirgskette reichen.

Meine Mutter stammt aus einfachen Verhältnissen. Ihr Vater war Tischler, ihre Mutter arbeitete als Näherin. Deren Vorfahren waren Marranos, also sefardische Juden, die vor 500 Jahren in Spanien zwangsgetauft worden waren.

Meine Eltern haben sich als Studenten in Santiago de Chile kennengelernt. Die Liebe zu meinem Vater war für meine Mutter wie ein Abenteuer, weil sie sich durch ihn mit den eigenen jüdischen Wurzeln beschäftigte und zunehmend auch mit der jüdischen Kultur. Ich selbst bin in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass wir Juden sind, aber der Glaube wurde kaum praktiziert. Meine Eltern sind beide Psychoanalytiker. Sie sind zwar mit mir an Chanukka oder zu Purim schon mal in die Synagoge gegangen, aber zu Hause gab es kaum jüdische Rituale.

Schon als Kind habe ich mich sowohl für Wörter als auch für Bilder interessiert. So habe ich bereits in ganz jungen Jahren nicht nur angefangen zu schreiben, sondern auch zu zeichnen. Ich habe mich für Comics begeistert und auch selbst welche gezeichnet.

Einige Jahre später habe ich Texte für eine Punk-Band geschrieben und diese selbst gesungen. Das war meine Annäherung an die Poesie. Mit 18 Jahren habe ich das Pablo-Neruda-Stipendium für junge Leute erhalten, die sich mit Lyrik beschäftigen. Ein Jahr lang bekam ich jeden Monat einen Geldbetrag und durfte im Haus von Pablo Neruda an einer Poesie-Werkstatt teilnehmen.

In dieser Zeit waren die Leute, mit denen ich Umgang pflegte, zwischen 25 und 35 Jahre alt, hatten also schon etwas mehr Erfahrung im Schreiben. In diesem Austausch habe ich gespürt, dass ich mich der Lyrik auf einer eher künstlerischen, emotionalen Ebene nähern sollte. So beschloss ich, nicht Literaturwissenschaft zu studieren, was vielleicht auf der Hand gelegen hätte, sondern etwas, was mit der Literatur in einem universelleren Zusammenhang steht: Bildende Kunst und im Nebenfach Musikwissenschaft.

Daraus ergab sich dann ein Stipendium für einen einjährigen Studienaufenthalt in New York. Während dieser Zeit durfte ich mich der Kunstgeschichte widmen. Dort machte ich auch ein Praktikum im Auktionshaus Christie’s – ich verfasste unter anderem die Texte für die Kataloge.

Einige meiner lyrischen Texte waren zuvor bereits in Anthologien und Literaturmagazinen publiziert worden, als ich noch Schüler war. Meinen ersten eigenen Gedichtband habe ich aber erst 2016 in Argentinien veröffentlicht. Mir war es wichtig, auf den richtigen Zeitpunkt zu warten. Heutzutage ist alles so schnelllebig. Deshalb wollte ich mir mit der ersten Veröffentlichung ganz bewusst Zeit lassen.

Das war auch der Grund, weshalb ich das frühe Angebot für ein Literaturstipendium in Israel abgelehnt habe. Damals fühlte ich mich noch nicht reif genug. Kurioserweise sind in Israel inzwischen Gedichte von mir in einer Anthologie erschienen, die ein arabischer Verlag in Haifa herausgibt.

Inspiriert werde ich beim Schreiben vor allem von zeitgenössischer klassischer Musik – von Komponisten wie Béla Bartók, Jean Sibelius, Olivier Messiaen, György Kurtág, Helmut Lachenmann oder der südkoreanischen Komponistin Unsuk Chin, die in Berlin lebt.

Bevor ich ein Gedicht zu schreiben beginne, lese ich erst einmal die Partitur einer Komposition. Um die Musik in einen Text einfließen zu lassen, fange ich oft an zu tanzen. Ich versuche, die Musik zu verkörpern – und danach beginne ich zu schreiben.

In meinem aktuellen Gedichtband, der in Kürze in Chile erscheinen wird, gibt es einen Text, der Béla Bartók gewidmet ist. Darin wird es auch einen Dialog mit dem 2. Satz der »Pastorale«, also der 6. Symphonie von Beethoven, geben. Ein anderes Gedicht ist mittelbar verbunden mit der Orgel in der St.-Katharinen-Kirche in Hamburg, die einst von Johann Sebastian Bach gespielt wurde.

Durch nordamerikanische Schriftsteller der Beat Generation, die auch über den Buddhismus geschrieben haben, allen voran Allen Ginsberg und Jack Kerouac, begann ich, mich für spirituelle Literatur zu interessieren. So geriet bald die buddhistische Lyrik in mein Blickfeld.

Befördert wurde dieses Interesse durch eine Beziehung mit einer Chilenin, die dem tibetischen Lamaismus angehörte. Bald besuchte ich buddhistische Seminare nicht nur in Chile, sondern auch in Brasilien und den USA. Wie bei Allen Ginsberg existierte neben der Beschäftigung mit dem Buddhismus bei mir dennoch das Gefühl einer jüdischen Identität. Da ich es aber nicht religiös gelebt habe, verspürte ich eine Lücke, die durch meine intensive Beschäftigung mit dem Buddhismus geschlossen wurde.

Beide – der tibetische Buddhismus wie auch das Judentum – haben ja große esoterische Anteile. Das Bemühen, Bewusstsein und Körper in Einklang zu bringen, kennt man auch aus der Kabbala, mit der mich ein Freund, der chilenische Philosoph Andrés Claro, bekannt gemacht hat.

Schließlich ging ich nach Nepal, wo ich zwei Jahre in einem tibetischen Kloster lebte. Dort lernte ich die tibetische Sprache, um die buddhistischen Schriften im Original lesen und übersetzen zu können. Danach zog ich nach Hamburg. An der dortigen Universität wollte ich den tibetischen Buddhismus aus der Perspektive der Philologie studieren.

Nach der Zeit in Nepal verspürte ich das Bedürfnis, mich wieder mit der literarischen Welt zu verbinden, und gründete ein Kollektiv ausländischer Schriftsteller. Damals habe ich die sogenannten Hafenlesungen mit ins Leben gerufen, die ich mittlerweile im Thalia-Theater organisiere.

In diesem Jahr bin ich nach Berlin gezogen, weil hier das einzige Stipendium für nichtdeutsche Literatur angeboten wird. Inzwischen arbeite ich auch für das Berliner Künstlerprogramm des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). Außerdem bin ich hier in Berlin in Kontakt mit Komponisten gekommen, deren Werke ich seit vielen Jahren kenne.

Nach meiner täglichen Arbeit beim DAAD komme ich abends oft in ein ganz besonderes Lokal. Dass es mir gefällt, beginnt schon damit, dass es mir dort erlaubt ist, meine Pfeife zu rauchen. Hier, im »Wirtshaus Wuppke«, verkehren verschiedene Generationen nebeneinander. Es kann vorkommen, dass mir rechts eine schöne ältere Dame mit einer Zahnlücke zulächelt, während sich von der anderen Seite Abiturientinnen nähern, um mich zu fragen, was ich hier lese und schreibe. Ich habe nämlich immer einige meiner Manuskripte dabei – Notizencollagen, die, je nach Thema und Tonart, wie Landkarten aussehen.

Hier schreibe ich im Rauch der Pfeife und weiß das Gleichgewicht zwischen Ablenkung und Aufmerksamkeit zu schätzen. Langsam blende ich das deutsche Umgebungsgeräusch aus, während aus meinem Inneren das chilenische Spanisch erscheint. An diesem kreativen Ort habe ich auch deutsche Juden kennengelernt, die gleich um die Ecke in der Synagoge Pestalozzistraße Beter sind. Und gelegentlich begleite ich sie dorthin.

Mehr unter http://tomascohen.com/

 

Foto: (c) Luciano Eduardo Marchant Ríos