Mesusoth

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Der vorliegende Text erschien vor 100 Jahren in der von Martin Buber herausgegebenen Zeitschrift „Der Jude“. Der Schriftsteller Josef Kastein beschäftigt sich darin mit der im Judentum traditionellen Schriftkapsel am Türstock. Kastein, der in Bremen geboren und aufgewachsen war, zog schon 1926 in die Schweiz und 1935 nach Palästina. Er starb 1946 in Haifa. Kasteins Text spricht von der Sichtbarmachung jüdischer Häuser und hat damit auch 100 Jahre nach Erscheinen erstaunliche Aktualität…

Von Josef Kastein, Bremen
Erschienen in: Der Jude, 4. Jahrgang (1919/1920), Heft 5

ולקחו מן הדם ונתנו על שתי המזוזת ועל המשקוף
Sie nahmen von dem Blut und gaben es an die beiden Pfosten und an die Oberschwelle.

An unseren Häusern und an den Pfosten unserer Räume sind Mesusoth. Wir erkennen daran das Haus eines Juden. Sie sind die Sichtbarmachung unserer Häuser. Von dieser Sichtbarmachung möchte ich sprechen, als ein Wort aus dem jüdischen Alltag des Galuth und als eine Frage nach dem Schönheitswert unserer Formen. Formen binden. Auch tote Formen. Sie binden doppelt, wenn wir sie auch lieben, das heißt: wenn sie für uns noch Leben haben. Nur Achtung vor der Form ist unschöpferisch, ist Friedhofssentimentalität. Ein Symbol lebt, sobald oder solange das Bewußtsein von dem Geschehen lebt, von dem es abzuleiten ist.

Die erste Sichtbarmachung unserer Häuser ist getragen von einer großen dramatischen Gebärde. Aus dem Dunkel der ägyptischen Verknechtung ringen sich Anfänge der Volksbefreiung. Gotteswunder geschehen, die sich mehren und steigern. Denn diese Offenbarung der Macht soll groß sein. Es soll ein Haufe von Knechten zu einem Volke erbaut werden. Mitten aus der Vernichtung des Widerstrebenden soll das große Schreiten der Strafe über ihre Häuser hinweggehen. Die Häuser sollen gezeichnet sein. Blut des Opfers über die Pfosten und Schwellen gestrichen. Eine neue Symbolik: Nicht die Pfosten und Schwellen, die tote Umgrenzung des Raumes, schützen vor dem großen Sterben der Erstgeburt, sondern der Geist des selbstgenossenen Opfers.

היה הדם לכם לאת על הבתים אשר אתם שם וראיתי את הדם ופסחתי עלכם ולא יהיה בכם נגף למשחית בהכתי בארץ מצרים

Wo aber das Blut der befreienden Opfer schon die Türpfosten umgibt, da weiß ich, daß dort Menschen aufbruchbereit stehen zur Wanderung in meine Provinzen. Und es wird nicht mehr Raum sein für das Blut der Strafe.

So wurde ein Zeichen an der Schwelle unseres Hauses. Je größer der Abstand der Zeit vom Erleben wurde, desto sachlicher wurde die Form des Symbols. Eine neue Zeit, die sich nur noch erinnerte und nicht einmal im Erinnern stark genug war, erhob von neuem die Forderung, die Pfosten unseres Hauses kenntlich zu machen. Es war die Forderung an den Volksgenossen, sich ein sichtbares Symbol zu schaffen, um auch von außen an den Geist der Gemeinschaft gemahnt zu sein,   וכתבתם על מזוזות ביתך ובשעריך. Friedsamer ist das Zeichen geworden, geistiger, dem Geschehen entrückt, nicht mehr abgestellt auf die Wucht äußeren Erlebens, sondern anheimgegeben dem persönlichen Drang, Treue zu halten und sie zu versichern durch äußeres Zeichen.

Besteht ein sachlicher Zusammenhang zwischen der Blutzeichnung und dem Verlangen der Aufschrift? Hat der, der die Aufschrift forderte, an die große Sichtbarmachung aus der Nacht des Exodus gedacht? Es ist gleich, sofern nur unsere Vorstellung diesen Weg macht, denn wir wollen irgend einem Geschehen von gestern die Hand reichen, um ein Symbol von heute zu lieben.

Weiter noch wendet sich die Zeit vom schöpferischen Geschehen. Es wird nicht mehr auferbaut in großen Handlungen, es heißt nicht mehr „Werden“, es heißt nur noch „Bleiben“. Arterhaltung, Artabsonderung, Treue an das Gestern, Abwehr gegen das Heute des Exils und Vorsorge für ein gefährdetes Morgen. Das קריאת שמע, das Bekenntnis der Gottzugehörigkeit, wird als der tatsächliche Inhalt bestimmt, der in dem Zeichen an den Pfosten, in den Mesusoth, enthalten sein soll. Und wie alle Form verkleinert wird, wenn sie auf sich selbst gestellt ist, so hat sich auch um die Vorschrift der Mesusoth der einengende und auslegende Geist der Zeit bemüht. In festumrissener und unwandelbarer Vorschrift steht dieses Zeichen eines Tages da. Es kommt in unseren jüdischen Alltag hinüber. Wir sehen es beim Eingang und beim Ausgang an den Pfosten aller unserer Türen und Tore. Wir leben weiter, oft näher dem jüdischen Wollen, oft ferner. Wir haben für die Zeit zu leben und für die Vergangenheit und für die Zukunft. Und unsere Symbole?

Wir lassen weiter Zeit vergehen. Bis zu der Zeit, da wir noch Kinder waren. An jeder Türe in unserem Hause fanden wir die Mesusoth. Wir wußten bald, was sie bedeutete. Aber wir erlebten auch bald hier und da, wenn etwa ein Fremder oder ein neues Dienstmädchen nach der Bedeutung dieses eigenartigen Gegenstandes fragten, daß die Verlegenheit hoch aufwuchs unter denen, für die Gesetzestreue Pietät heißt. Wir hörten seltsame Antworten: Das ist so an jüdischen Häusern; das ist ein altes jüdisches Zeichen; das ist immer hier am Hause gewesen; das ist ein alter Klingelkontakt . . . und auch wir schämten uns. „Sei Jude im Hause und Mensch auf der Straße.“ Das nannte man Liberalität. Oder Humanität. Wir verstanden beides nicht. Und wir schämten uns.

Und dann kam eines Tages ein kleiner, schwarzgekleideter Mann, mit langem Mantel und einer großen Ledertasche. Wir wußten bald, daß er jedes Jahr kam, jedes Jahr so ziemlich um die gleiche Zeit, wenn ihn seine Geschäftsreise durch Deutschland in unsere Gegend führte. Es war ein spannender Augenblick, wenn er seine Tasche öffnete. Er stellte sie auf den Tisch — wir sehen noch den Griff seiner runzligen Hände — und schlug die Seitenklappen zurück. Und da lag der Inhalt: kleine Sidurim, Machsorim, bunt durchflochtene Kerzen für „Awdole ausmachen“, kleine Tellerchen und Becher für Kiddusch, „Zizzes“, Tefillim, Techinahbücher, Schnürsenkel (weiß Gott, Schnürsenkel) und dann eine ganze Reihe von kleinen Hülsen in gelbem Blech oder in weißem Zelluloid. Die ersteren flach, die letzteren rund. Das waren die Mesusoth.

Und dann begann die Auswahl. Ein kleiner Kidduschbecher aus gelbem Glas, mit hebräischem Aufdruck und Eichenlaubverzierung, alles erhaben in Gold. (Er steht noch heute bei mir im Schrank.) Er war entzückend schön. Man handelt. Man kauft. Einen Sidur? Gewiß. Ein Sidur ist nie verloren. Man handelt. Man kauft. „Zizzes?“ Die Jungen strapazieren ihre Arba-kanfoth zwar nicht, aber immerhin . .. Man handelt. Man kauft. Sonst wäre wohl für dieses Jahr nichts. Aber Mesusoth? Schöne, neue, die sehr praktisch sind. Man kann das flache Blech von der Unterlage einfach abschieben und die Inschrift liegt frei. Auch die weißen, runden sind sehr schön. Eigentlich noch schöner als die gelben aus Messingblech. Mesusoth? Nun ja — der Vater sieht uns streng an — Mesusoth sollen nie in einem Hause fehlen. Besser eine zu viel als eine zu wenig. Was kosten die? Die flachen 1 Mk. und die weißen 2 Mk. das Stück. Nehmen Sie diese vier, dann gebe ich sie Ihnen für 5 Mk. Man kauft. Jischar-koach. Geld klingt. Der stählerne Bügel der großen Ledertasche schließt sich. Die Herrlichkeit versinkt. Bleiben Sie gesund. Bis übers Jahr!

Die Mesusoth werden in den Schrank gelegt. Die Nägel dazu, sorgfältig in ein Papier gewickelt, daneben. Mesusoth sollen nie in einem Hause fehlen.

Wir lassen weiter Zeit vergehen. Bis zu der Zeit, da wir uns selber ein Haus bauen. Ein jüdisches Haus. Wie das klingt! Wie das durchsetzt ist mit Freude und Zwiespältigkeit. Ein jüdisches Haus? Im Galuth? Wir sagen „Ja“ zum Galuth, weil wir glauben, daß wir es anfüllen können mit jüdischem Geist, bis alles sich erfüllt hat. Und es werden einmal Kinder sein. Kinder im jüdischen Hause. Und es wird ein Tag sein, da sie fragen: Warum ist das ein jüdisches Haus? Und wir werden auf die Mesusoth deuten: ולקחו מן הדם ונתנו על שתי המזוזת ועל המשקוף

Doch nein, werden wir das wirklich tun? Werden wir den Mut haben, auf diese kleinen Dinger zu weisen, die wir uns in Vorrat kaufen, wie wir uns Seife und Schnürsenkel im Vorrat kaufen, die wir sachlich und auswählend nach Güte und Zweckmäßigkeit erstehen wie jede Handelsware? Und werden wir dabei den Mut haben, Worte der Thora in den Mund zu nehmen und von der großen Sichtbarmachung unserer Häuser zu sprechen, da Blut vergossen wurde um unserer Befreiung willen? Und wir sollten nicht um den Vorwurf der Lieblosigkeit fürchten, der Gedankenlosigkeit, daß wir die Treue unseres Gedenkens so ausdrücken, so nüchtern, so schal? Als wir früher fragten, bekamen wir keine Antwort. Wenn einmal unsere Kinder fragen werden und es wird ihnen nicht Antwort sein, dann werden sie nicht mehr fragen. Und dann haben wir uns nur getäuscht, wenn wir glaubten, wir könnten dem Leben im Galuth auch Schönheit der Form verleihen und dem jüdischen Hause Schönheit im Ausdruck.

Es gibt keinen jüdischen Silberschmied in unserer Stadt. Aber auch der christliche hat Verständnis, wenn man ihm auseinandersetzt, was Mesusoth sind und wohin sie gehören, was ihr Inhalt und ihre äußere Form sein soll. Er hört aufmerksam zu. Er begreift, wie breit und lang die silberne Grundplatte sein soll. Wie hoch und stark die Wölbung der silbernen Röhre, wie weit der Ausschnitt, der das sichtbare Wort freilegt. Er begreift die Form des Davidschildes, der unten, entsprechend dem oberen Ausschnitt sein soll. Er verfolgt aufmerksam in der Zeichnung, wie die Rosen sich vom Davidstern in klarer Kette aufwärts strecken und den oberen Ausschnitt und das lesbare Wort einschlingen. Und nach wenigen Tagen halte ich meine Mesusa in der Hand.

Jetzt haftet sie an dem Türpfosten meines Hauses. Außen, an der Eingangstüre. Eine nur, nur diese eine einzige ist im Hause. Sie spricht für das ganze Haus und für jeden einzelnen Raum darin. Sei Jude auf der Straße und Jude in deinen Zelten.