Und Tschüss! Israel muss zum dritten Mal wählen

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Kaum gewählt, ist schon wieder Schluss. Weil weder Benjamin Netanyahu, noch Benny Gantz oder irgendeine andere Person aus dem Kreis der 120 Abgeordneten eine funktionierende Koalition auf die Beine stellen konnten, beschloss die Knesset nun ihre Auflösung sowie Neuwahlen…

Von Ralf Balke

Um 3.30 Uhr in der Nacht von Mittwoch auf den Donnerstag war es vorbei. Die 22. Knesset hatte in dritter Lesung endgültig ihre Auflösung beschlossen. Denn genau um Mitternacht war die gesetzlich vorgeschriebene Frist von 21 Tagen abgelaufen, in der die Abgeordneten Zeit gehabt hätten, eine Person aus ihrer Mitte zu ernennen, der es gelingen könnte, 61 der 120 Stimmen im israelischen Parlament auf sich zu vereinen und somit Ministerpräsident zu werden. Das aber war nicht geschehen. Ebensowenig hatten es zuvor Amtsinhaber Benjamin Netanyahu und sein Herausforderer Benny Gantz vermocht, ausreichend Partner für eine Mehrheit und damit für eine funktionierendes Regierungsbündnis zu finden. Auch die viel diskutierte und immer wieder geforderte Koalition der nationalen Einheit, bestehend aus dem Listenbündnis Blau-Weiß sowie dem Likud, sollte letztendlich nicht zustande kommen.

Dabei waren es keinesfalls wichtige Sachthemen, weshalb die beiden größten Parteien des Landes sich nicht zusammenraufen konnten. Es ging einzig und allein um die Frage der Immunität des Ministerpräsidenten, der wegen Bestechung, Betrug und anderer Delikte auf die Anklagebank soll, und wie in einem solchen Fall – wenn überhaupt – die Macht zwischen den beiden Protagonisten aufgeteilt werden könnte. Und weil in diesem zentralen Punkt keine Einigung zustande kam, dürfen die Israelis am 2. März ein drittes Mal innerhalb von nur elf Monaten zu den Wahlurnen gehen. Normalerweise liegen zwischen dem Beschluss zur Auflösung der Knesset und ihrer Neuwahl ziemlich genau 90 Tage. Weil aber der 10. März auf Purim und damit auf einen Feiertag fällt, findet das Ganze einige Tage früher statt. Begeisterung über die Möglichkeit, in so kurzer Zeit erneut von seinem Wahlrecht Gebrauch zu machen, dürfte nirgends zu spüren sein. In Israel ist ein Wahltag immer arbeitsfrei, weshalb auch die Wirtschaft über die Millionenverluste, die dadurch entstehen, alles andere als glücklich ist. Zudem kostet das Prozedere den Steuerzahler viel Geld. Nicht wenigen Israelis dürfte darüber hinaus die Aussicht, in so kurzer Zeit einem weiteren, restlos inhaltslosen Wahlkampf voller Diffamierungen der Kontrahenten ausgesetzt zu werden, kaum gefallen. Man ist zusehends genervt davon, dass aufgrund der politischen Endloskrise kein Haushalt für das kommende Jahr beschlossen werden konnte und schon heute einige staatliche Einrichtungen wegen unsicherer Budgets nicht mehr richtig funktionieren können, allen voran im Gesundheitswesen.

Einen Vorgeschmack davon, was man in den kommenden Monaten wohl erwarten kann, sollten die Protagonisten schon liefern, bevor überhaupt die 22. Knesset ihr eigenes Aus beschlossen hatte. Dabei schob man sich gegenseitig den Schwarzen Peter zu, warum nun erneut abgestimmt werden muss. So erklärte noch am Mittwochabend Netanyahu, dass Blau-Weiß sehr darauf bedacht gewesen sei, „die Tatsache zu vertuschen, dass sie alles unternommen hatten, um die Bildung einer breit aufgestellten Regierung der nationalen Einheit zu verhindern, die das Jordantal annektieren könnte und die israelische Souveränität auf die Siedlungen in Judäa und Samaria ausweitet.“ Zugleich empfahl man sich auf diese Weise der rechten und nationalistischen Wählerschaft als einzige Option. Aber Herausforderer Benny Gantz übte sich auch nicht gerade in Zurückhaltung: „Wir werden wohl einen dritten Wahlgang erleben und das nur, weil Netanyahu Immunität haben will. Dagegen müssen wir uns zur Wehr setzen. Denn es darf keinen Schutz vor Strafverfolgung geben.“ Bemerkenswerterweise gab es im Likud einige Stimmen, die dem Ministerpräsidenten den Rat gaben, die Knesset erst einmal doch nicht um Immunität zu ersuchen, um Gantz keine weitere Munition im kommenden Wahlkampf zu liefern.

Ein Likud-Sprecher betonte, dass Netanyahu sowieso nicht vorhabe, um Immunität zu bitten, und legte nach, in dem er behauptete, dass Blau-Weiß „jeden politischen Trick angewendet hatte, um das Zustandekommen einer Regierung der nationalen Einheit zu sabotieren und gleichzeitig mit seinem Vorhaben gescheitert ist, eine Minderheitenregierung mit Ahmed Tibi und Ayman Odeh zu bilden.“ Die beiden Abgeordneten der Vereinten Arabischen Liste meldeten sich ebenfalls zu Wort und erklärten, „dass wenn es überhaupt eine Partei gibt, die Neuwahlen nicht fürchten muss, dann ist es unsere.“ Für die von Netanyahu gegen sie initiierten Hetzkampagnen, in denen die Partei der israelischen Araber als eine Art Ableger des Islamischen Staates (IS) diffamiert wurde, würden sie sich noch revanchieren. Man werde nun alles unternehmen, ihn aus dem Amt zu jagen. Amir Peretz, Chef der Arbeiterpartei, plädierte indessen dafür, das Thema Immunität überhaupt nicht weiter zu verfolgen und schlug ein Gentlemen-Agreement innerhalb des politischen Lagers links vom Likud vor. Alle Beteiligten sollten eine Art Zusage machen, sich im kommenden Wahlkampf nicht gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Last but not least reagierte auch noch Avigdor Lieberman. Ausgerechnet der Mann, der durch seinen Rücktritt vom Amt des Verteidigungsministers vor gut einem Jahr die politische Krise ins Rollen gebracht hatte und durch sein Nein zu einer Koalition unter Beteiligung der ultraorthodoxen Parteien den zweiten Wahlgang im September erzwang, betonte, dass er „null Prozent“ Verantwortung für die aktuelle Situation trage. Allein der Likud und in einem geringeren Maße Blau-Weiß seien durch ihre Blockadehaltung schuld an der verfahrenen Lage, so der Vorsitzende der Partei Israel-Beitenu. Explizit aber kritisierte er Netanyahu: „Der Unterschied zwischen uns beiden ist der, dass ich Werte habe, Sie aber nur Interessen.“

Mit der Auflösung der Knesset beschlossen die Abgeordneten zugleich eine Aufstockung der Wahlkampf-Budgets aus öffentlichen Mitteln um zusätzliche 62 Millionen Schekel, umgerechnet rund 16,3 Millionen Euro. Allein Oded Forrer von Israel-Beitenu stimmte gegen diesen Antrag. „Ich kann nicht verstehen, wie die Leute hier noch der Öffentlichkeit in die Augen schauen können.“ Die sephardisch-orthodoxe Schass-Partei, die anfangs der Woche noch erklärt hatte, einer solchen Erhöhung der Wahlkampf-Budgets nicht zustimmen zu wollen, hatte sich spontan umentschieden und geschlossen den Antrag unterstützt. Und am Donnerstag kam die Nachricht, dass Netanyahu bis zum 1. Januar 2020 von all seinen Ministerämtern zurücktreten werde – parallel zum Amt des Regierungschefs hat er derzeit noch die Ressorts Gesundheit, Soziales sowie Landwirtschaft inne. Auf diese Weise reagiert er auf die Rücktrittsforderungen gegen ihn. Als Ministerpräsident denkt er aber keinesfalls an einen Abschied.

Ob sich nun nach den Wahlen im März kommenden Jahres etwas ändern wird, darüber kann allenfalls spekuliert werden. Laut einer aktuellen Meinungsumfrage würde Blau-Weiß derzeit auf 37 Sitze in der Knesset kommen – vier mehr als im Moment. Aber auch der Likud würde einen zusätzlichen Abgeordneten stellen und damit 33 Sitze erhalten. Die ultraorthodoxen Parteien könnten drei Sitze verlieren, die Vereinte Arabische Liste bliebe mit 13 Parlamentariern drittstärkste Kraft und Avigdor Lieberman käme ebenfalls unverändert auf acht Sitze. Sollte der Likud auf die Idee kommen, Netanyahu zu stürzen und seinen Kontrahenten Gideon Saar ins Rennen zu schicken, würde das Ergebnis anders aussehen: Blau-Weiß 35 Sitze, Likud dagegen nur nur 29.

Was man aber heute schon sagen kann: Der gesamte Wahlkampf in den kommenden Monaten dürfte von nur einem einzigen Thema beherrscht werden: Soll Netanyahu im Amt bleiben oder nicht. Inwieweit das die Wähler abschreckt oder motiviert, noch einmal ihre Stimme abzugeben, ist ebenfalls unklar. Im Unterschied zu allen Vorhersagen hatte sich beim zweiten Urnengang keine Wahlmüdigkeit gezeigt. Im Gegenteil, es waren mehr Israelis in den Wahlkabinen erschienen als noch im April. Ein Trend war aber abzulesen: Rein quantitativ sollte im September eine sechsstellige Wählerzahl dem Likud, der zuvor mit der wirtschaftsliberalen Kulanu Partei sich vereinigt hatte, den Rücken zukehren. Die große Frage dürfte also sein, ob noch mehr Israelis von dem Festklammern Netanyahus am Posten des Ministerpräsidenten sich abschrecken lassen, oder aber aufgrund der zahlreichen Erfolge in seiner Amtszeit auf wirtschaftlichen und außenpolitischen Terrain nicht doch weiterhin zu ihm stehen?

Eine erneute Patt-Situation zwischen den beiden großen politischen Blöcken ist deshalb nicht ganz unwahrscheinlich. Dann liegt der Ball bei allen Beteiligten. Nehmen sie eine ähnliche Haltung ein wie in den vergangenen Monaten oder kommt Bewegung ins Spiel? Schließlich hat sich so ziemlich jeder verzockt oder selbst in eine Position hineinmanövriert, aus der man nicht ohne größeren politischen Schaden wieder herauskommen konnte. So hat zwar Lieberman sein Wort gehalten und keiner Koalition zugestimmt, in der die Ultraorthodoxen vertreten waren. Auf seine Rolle als Königsmacher hat er für den Moment jedenfalls verzichtet, auch deshalb, weil Blau-Weiß und der Likud nicht zueinanderfinden sollten. Und wer auf eine interne Revolte gegen Netanyahu im Likud gesetzt hatte, wurde ebenso enttäuscht – offensichtlich ist die Partei noch nicht so weit, Gideon Saar, dem einzigen Politiker, der innerhalb des Likuds Netanyahus Vormachtstellung infrage stellte, das Ja-Wort zu geben.

Auch Benny Gantz blieb seinem Wahlversprechen treu, nicht mit einem Politiker zu kooperieren oder gar sich die Macht mit Jemandem zu teilen, der unter Anklage steht. Die Palastrevolution im Likud fand nicht statt und so blieb ihm in vielerlei Hinsicht nur das Nein zur Koalition der nationalen Einheit – mit dem Preis, dass es nun Neuwahlen gibt. Netanyahu dagegen gelang es nicht, einen Keil in das Bündnis Blau-Weiß zu treiben oder etwa die Verzweiflung der Arbeiterpartei, die nur noch ein Schatten ihrer selbst ist, dahingehend auszunutzen, um Amir Peretz mit einem Angebot, dem er vielleicht nicht hätte widerstehen können, dazu zu bringen, die Seiten zu wechseln und sich ihm anzuschließen. Deswegen werden alle Beteiligten im kommenden Wahlkampf eher zu Positionen neigen, die es ihnen erlauben, nach dem 2. März etwas flexibler zu agieren als nach dem 17. September. Aber zuerst haben die Wähler das Wort.