Ein marxistischer Psychoanalytiker jüdischer Herkunft erlebt das Ende der Weimarer Republik

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Massenpsychologie des Faschismus

Im Januar 2020 erscheint Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus (1933) nach 87 Jahren erstmals im redigierten Originaltext. Auszüge daraus stehen schon jetzt als Hörbuch zur Verfügung…

Von Andreas Peglau

„Die Gesellschaft muß sich im Widerstand gegen uns befinden, denn wir verhalten uns kritisch gegen sie; wir weisen ihr nach, daß sie an der Verursachung der Neurosen selbst einen großen Anteil hat“ (Sigmund Freud, 1910).

Konsequente Psychoanalyse ist gesellschaftskritisch, als Sozialwissenschaft ebenso wie als Therapiemethode. Auch deswegen ist das im Spätsommer 1933 publizierte Original von Reichs Massenpsychologie des Faschismus eines der wichtigsten psychoanalytischen Bücher, die je erschienen sind. Zudem war es innerhalb dessen, was heute Rechtsextremismusforschung genannt wird, die erste Veröffentlichung zu psychosozialen Hintergründen des NS-Systems.

Dennoch ist diese Erstausgabe fast vollständig in Vergessenheit geraten, nur noch als Raubdruck erhältlich oder als teures antiquarisches Angebot. Falls sich jemand auf Reichs Massenpsychologie bezieht, meint er inzwischen fast immer die 1946 erschienene, englischsprachige dritte Auflage, die seit 1971 in Deutsch vorliegt. Doch diese dritte Auflage unterscheidet sich gravierend vom Original.

Ein eigenständiges Werk

1933 hatte Reich noch als „linker“ Psychoanalytiker und kritischer Mitstreiter Freuds geschrieben. Sein erklärtes Ziel war es, Elemente aus Psychoanalyse und Marxismus zu etwas Neuem zu verschmelzen, das er „Sexualökonomie“ nannte.

Da er seit 1930 in Berlin lebte, war sein Buch in unmittelbarer Konfrontation mit dem damaligen politischen „Rechtsruck“ entstanden. Als Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands und Sexualreformer war Reich in dessen Abwehr auf vielfältige Weise involviert. Was er dabei erfuhr und begriff, hielt er fest für die Massenpsychologie.

Dieses Buch ist also zugleich ein Zeitzeugenbericht: Ein marxistischer Psychoanalytiker jüdischer Herkunft erlebt, kommentiert und analysiert das Ende der Weimarer Republik und den Siegeszug des Nationalsozialismus. Darüber hinaus deckte Reich psychosoziale Grundzüge des internationalen Faschismus auf. 

Fertigstellen konnte er sein Werk erst, nachdem er im Mai 1933 in Dänemark, seinem ersten Exilland, angekommen war. Noch im selben Jahr wurde er sowohl aus den kommunistischen als auch aus den psychoanalytischen Organisationen ausgeschlossen.[1]

Als Reich sich dann 1942, seit drei Jahren in den USA lebend, der Überarbeitung der Massenpsychologie zuwandte, hatte sich nicht nur seine Lebenssituation gründlich gewandelt, sondern auch sein wissenschaftliches und politisches Selbstverständnis.

Er hatte sich von Freud und Marx, erst recht von jeder Art Parteipolitik distanziert. Den Stalinismus ordnete er jetzt als „rote“ Spielart des Faschismus ein. Von Dezember 1941 bis Januar 1942 war er vom FBI mehrere Wochen als „gefährlicher feindlicher Ausländer“ arretiert worden – wobei ihm nicht zuletzt sein kommunistisches Engagement in Europa zur Last gelegt wurde. Und er hatte seiner Tätigkeit einen neuen Schwerpunkt gegeben: die Erforschung der von ihm „Orgon“ genannten Lebensenergie.

All das schlug sich nicht nur in Inhalt und Vokabular der dritten Ausgabe deutlich nieder, sondern auch in deren Umfang. Dieser wuchs durch das Einfügen von sechs zwischen 1935 und 1945 verfassten Texten auf mehr als das Doppelte. So wertvoll diese Ergänzungen auch waren, da sie bedeutsame Weiterentwicklungen enthielten: Von einem kohärenten Buch konnte nicht mehr die Rede sein.

Damit verschwand nicht nur das Unmittelbare der Erstausgabe. Reichs verständliches Bestreben, nun, dreizehn Jahre später, allgemeingültigere Aussagen zu treffen, ging teilweise zu Lasten der bisherigen Genauigkeit. Er suchte jetzt nach Formulierungen, die sich auf alle autoritär-despotischen, patriarchalischen Systeme – insbesondere auch auf den Stalinismus – anwenden lassen sollten. Doch viele dieser Formulierungen waren nicht geeignet, Kapitalismus, Weimarer Republik und nationalsozialistische Bewegung mit derselben Exaktheit abzubilden, wie es in der 1933er Ausgabe der Fall gewesen war.

Zweifellos stellt die dritte Auflage der Massenpsychologie von 1946 eine auf ihre Art erneut bemerkenswerte Weiterführung dar. Die Lektüre des Originals ersetzt sie jedoch nicht.    

Verdrängt statt verwendet

Ab 1933 entzogen vor allem der Anpassungskurs der psychoanalytischen Institutionen gegenüber dem NS-System und die zeitgleich in den USA erfolgende Medizinalisierung der Freud’schen Lehre den auf Gesellschaftskritik und -veränderung ausgerichteten analytischen Strömungen dauerhaft ihre Basis. Ein psychoanalytisches Buch, das eine auch nur annähernd so gründliche Aufarbeitung psychosozialer Wurzeln faschistischer Strömungen und „rechter Bewegungen“ bietet wie Reichs Massenpsychologie – und wie Erich Fromms Anatomie der menschlichen Destruktivität von 1973 –, ist bis zum heutigen Tag nicht erschienen.

Trotzdem wird Wilhelm Reich im Hauptstrom der Psychoanalyse nach wie vor meist totgeschwiegen, diffamiert oder marginalisiert. Reichs gesamtes sozialkritisches Werk spielt dort so gut wie keine Rolle, angemessene Diskussionen der Massenpsychologie sucht man vergebens.

Auch in aktuellen Publikationen zu Autoritarismus, Faschismus, Holocaust, zur NS-Täterforschung und zum Rechtsextremismus findet diese Schrift nur in Ausnahmen Erwähnung. Das ist erstaunlich, weil sich Reichs Auffassung des Faschistischen als autoritär, nationalistisch, rassistisch – insbesondere antisemitisch –, militant und (Männer-)Gewalt verherrlichend, hochgradig deckt mit als gültig erachteten Definitionen von „rechtsextrem“. Und es ist bedauerlich, weil Reich zusätzlich ausschlaggebende Punkte einbrachte wie die gegenseitige Abhängigkeit von Führern und Geführten und die Mitverursachung „rechter“ Tendenzen durch lust- und körperfeindliche Religionen, durch Unterdrückung von Kindern, Frauen und Sexualität, kurz: durch das Patriarchat. Erst diese „ganz normale“ autoritäre, gefühls- und sexualitätsunterdrückende Sozialisation machte aus psychisch noch recht gesunden Säuglingen zahme Untertanen, Rassisten und zerstörungswillige Fanatiker – und damit: potentielle Faschisten.

Von der Auseinandersetzung mit Reich könnten deshalb zahlreiche Forschungsarbeiten zum Faschismus profitieren, bieten sie doch in aller Regel keine befriedigenden Antworten auf zwei entscheidende Fragen: Welcher psychische Zustand versetzte Menschen in die Lage, sich aktiv an so destruktiven Bewegungen wie der nationalsozialistischen oder gar am Holocaust zu beteiligen – und wie wurde dieser Zustand herbeigeführt?   

Beispielsweise weist der Soziologe Stefan Kühl (2018, S. 54–73) zwar zu Recht darauf hin, dass Indoktrination, Sadismus, Judenhass, Fanatismus nicht genügen, um Holocaustverbrechen zu begründen. Bei Reich hätte er jedoch lesen können, dass hinter diesen Symptomen Persönlichkeitsstrukturen stehen, die in der Tat einen hohen Erklärungswert besitzen. Da Kühl dies ausblendet, ist seine Vorstellung, wie Organisationen Mordimpulse provozieren – nämlich unter anderem durch „Zwang“, „Kameradschaft“ und „Geld“ –, nicht überzeugend. Wie er selbst (ebd., S. 121–123, 143, 147) belegt, war niemand gezwungen, sich an diesen Gemetzeln zu beteiligen. Er bleibt auch die Antwort schuldig, wie gemeinsames Morden zu „Kameradschaft“ verdreht und die Bedeutung von Geld so überhöht werden konnte, dass sich damit das zehntausendfache Abschlachten hilfloser Frauen, Kinder und Greise motivieren ließ.

Aktuelle Brisanz

„Überholt“ war Reichs Massenpsychologie zu keinem Zeitpunkt. Mittlerweile hat es erneute Aktualität erhalten: durch den nicht nur in Europa zu beobachtenden politischen „Rechtsruck“.

Dass der Psychosozial-Verlag Gießen nun den Originaltext, ergänzt durch einen umfangreichen Anhang inklusive biografisch-zeitgeschichtlicher Einordnung wieder zugänglich macht, ist daher in mehrfacher Hinsicht ein Gewinn.

Ein Viertel des Buchtextes steht bereits vorab, eingesprochen von Sabine Falkenberg und Thomas Nicolai, zum kostenlosen Download zur Verfügung.

Das dritte Kapitel der Massenpsychologie widmete Reich der „Rassetheorie“.[2]  Im Weiteren habe ich Auszüge daraus zusammengestellt.[3] Zur Einordung sei zum einen daran erinnert, dass Reich, Sigmund Freund folgend, als zentrale menschliche Triebkraft die Sexualität annahm, diese aber – anders als Freud – als prosozial, kulturfördernd erkannte. Zum anderen ist für das Verständnis des Folgenden wichtig, dass Reichs Materialsammlung in Deutschland von 1931 bis zum März 1933 erfolgte. Er verwies zwar bereits darauf, dass der NS-Staat den „kommenden Weltkrieg“ inklusive der von Hitler angekündigten Okkupation der Sowjetunion „mit allen Mitteln vorbereitet“, dass „Judenverfolgung“ und „blutige[r] Terror gegen den ‚jüdischen Materialismus‘ von Marx“ längst begonnen hatten, dass Regimegegner in Konzentrationslager verbracht wurden (Reich 2020, S. 20, 48, 50, 81, 87–88, 170). Den Holocaust konnte aber auch er nicht erahnen.

Wilhelm Reich, Massenpsychologie des Faschismus. Der Originaltext von 1933, Psychosozial Verlag, ca. 300 S., Bestellen?

 

Massenpsychologie des FaschismusWilhelm Reich: Die Rassetheorie (aus „Massenpsychologie des Faschismus“, 1933)

Inhalt

Die theoretische Achse des deutschen Faschismus ist seine Rassetheorie. Das Wirtschaftsprogramm der sogenannten 25 Punkte erscheint in der faschistischen Ideologie nur als ein Mittel zur Höherzüchtung der germanischen Rasse und ihres Schutzes vor Rassenvermischung, die nach Ansicht der Nationalsozialisten immer den Niedergang der »höheren Rasse« bedeute. Mehr als das, auch der Niedergang einer Kultur sei auf Rassenvermischung zurückzuführen. Die »Reinhaltung der Rasse und des Blutes« sei daher die vornehmste Aufgabe einer Nation, zu deren Erfüllung man jedes Opfer bringen müsse. Diese Theorie wird gegenwärtig in Deutschland in Form der Judenverfolgung mit allen Mitteln in die Praxis umgesetzt und wirkt sich solcherweise geschichtlich aus.

Die Rassetheorie geht von der Voraussetzung aus, dass als »ehernes Gesetz« in der Natur die ausschliessliche Paarung jedes Tieres mit seiner eigenen Art gelte. Nur ausserordentliche Umstände wie etwa Gefangenschaft vermögen dieses Gesetz zu durchbrechen und zur Rassenmischung zu führen. Die Natur räche sich aber und stemme sich mit allen Mitteln dagegen, entweder durch Unfruchtbarmachung der Bastarde oder durch Einschränkung der Fruchtbarkeit der späteren Nachkommen. Bei jeder Kreuzung zweier Lebewesen verschiedener »Höhe« müsse die Nachkommenschaft ein Mittelding darstellen. Die Natur erstrebe aber eine Höherzüchtung des Lebens, daher widerspreche die Bastardierung dem Willen der Natur. Die Auslese der höheren Art erfolge auch im Kampf ums tägliche Brot, bei dem die schwächeren, also rassisch weniger wertigen Wesen untergehen. Und das läge folgerichtig im »Willen der Natur«, denn jede Weiterbildung und Höherzüchtung würde aufhören, wenn die Schwächeren, die zahlenmässig in der Mehrheit sind, die zahlenmässig schwächeren hochwertigen Arten verdrängen würden. Die Natur unterwerfe also die Schwächeren schwereren Lebensbedingungen, die ihre Zahl beschränken, den Rest aber lasse sie nicht wahllos zur Vermehrung zu, sondern treffe eine rücksichtslose Wahl nach Kraft und Gesundheit.

Dieses Gesetz lasse sich auf Völkerschaften übertragen. Die geschichtliche Erfahrung lehre, dass bei »Blutsvermengung« des Ariers mit »niedrigeren« Völkern als Ergebnis immer der Niedergang des Kulturträgers herauskäme. Die Folge wären Niedersenkung des Niveaus der höheren Rasse und körperlicher und geistiger Rückgang, damit aber auch der Beginn eines sicher fortschreitenden »Siechtums«.

Der nordamerikanische Kontinent würde, heisst es bei Hitler, so lange stark bleiben, »solange nicht auch er der Blutschande zum Opfer fällt« (»Mein Kampf«, S. 314), das heisst, sich mit den nichtgermanischen Völkerschaften vermischt: »Eine solche Entwicklung herbeiführen, heisst denn aber doch nichts anderes als Sünde treiben wider den Willen des ewigen Schöpfers« (ebd.).

Nach Hitler ist die Menschheit einzuteilen in kulturbegründende, kulturtragende und kulturzerstörende Rassen. Als Kulturträger komme nur der Arier in Betracht, denn von ihm stammen die »Fundamente und Mauern der menschlichen Schöpfungen«. Die asiatischen Völkerschaften wie etwa die Japaner und Chinesen hätten als Kulturträger nur arische Kulturen übernommen und in eigene Formen gebracht.

Die Juden dagegen seien eine kulturzerstörende Rasse. Für die Bildung hoher Kultur sei das Vorhandensein »niederer Menschen« erste Voraussetzung gewesen. Die erste Kultur der Menschen hätte auf dieser Verwendung niederer Menschenrassen gefusst. Zuerst hätte der Besiegte und erst viel später das Pferd den Pflug gezogen. Der Arier hatte sich als Eroberer die niederen Massen unterworfen und dann deren Tätigkeit unter seinem Befehl, nach seinem Wollen und für seine Ziele geregelt. Sobald sich aber die Unterworfenen die Sprache und Eigenart der »Herren« anzueignen begannen und die scharfe Schranke zwischen Herren und Knecht fiel, gab der Arier die Reinheit seines Blutes auf und verlor dafür »den Aufenthalt im Paradies«. Dadurch verlor er auch seine kulturelle Fähigkeit:

»Die Blutsvermischung und die dadurch bedingte Senkung des Rassenniveaus ist die alleinige Ursache des Absterbens alter Kulturen; denn die Menschen gehen nicht an verlorenen Kriegen zugrunde, sondern am Verlust jener Widerstandskraft, die nur dem reinen Blute zu eigen ist« (ebd., S. 324).

Funktion

Eine sachgemässige Widerlegung dieser Grundauffassung vom fachlichen Standpunkt kommt hier nicht in Frage. Diese Auffassung entlehnt ein Argument der Darwinschen Hypothese der natürlichen Zuchtwahl, die in manchen Elementen ebenso reaktionär ist wie der Darwinsche Nachweis der Abstammung der Arten aus niederen Lebewesen revolutionär war. Sie bildet die theoretische Verschleierung der imperialistischen Funktion der faschistischen Ideologie. Denn wenn die Arier das einzige kulturschöpfende Volk sind, so dürfen sie kraft göttlicher Berufung Anspruch auf die Weltherrschaft erheben. Und eine der kardinalen Forderungen Hitlers ist in der Tat die Erweiterung der Grenzen des deutschen Reiches insbesondere »nach Osten«, d. h. auf sowjetrussischem Gebiet. Die Verherrlichung des imperialistischen Krieges liegt demnach völlig im Rahmen dieser Ideologie:

»Das Ziel, für das im Verlaufe des Krieges aber gekämpft wurde, war das erhebendste und gewaltigste, das sich für Menschen denken lässt: es war die Freiheit und Unabhängigkeit unseres Volkes, die Sicherheit der Ernährung für die Zukunft und – die Ehre der Nation« (ebd., S. 194).

»Für was wir zu kämpfen haben, ist die Sicherung des Bestehens und der Vermehrung unserer Rasse und unseres Volkes, die Ernährung seiner Kinder und Reinhaltung des Blutes, die Freiheit und Unabhängigkeit des Vaterlandes, auf dass unser Volk zur Erfüllung der auch ihm vom Schöpfer des Universums zugewiesenen Mission heranzureifen vermag« (ebd., S. 234).

Uns interessiert hier ausschliesslich die subjektive Herkunft und Formierung dieser objektiv den Interessen des Finanzkapitals gleichgerichteten Ideologien, vor allem das affektive Übersehen von Widersprüchen und Widersinnigkeiten innerhalb der Rassetheorie. So übersehen die Rassetheoretiker, die sich auf ein biologisches Gesetz berufen, dass die Rassenzüchtung an Tieren ein Kunstprodukt ist. Es kommt nicht in Frage, ob Hund und Katze, sondern ob Schäferhund und Windhund eine »instinktive Abneigung« gegen Vermischung haben.

Die Rassetheoretiker, die so alt sind wie der Imperialismus, wollen Rassereinheit schaffen bei Völkerschaften, wo die Vermischung infolge der Ausbreitung der Weltwirtschaft so weit fortgeschritten ist, dass Rassereinheit nur noch in vertrocknenden Gehirnen eine Bedeutung gewinnt. (…)

Es kommt bei der vorliegenden Untersuchung der Rassetheorie, die statt von Tatsachen zu Wertungen, von den Wertungen zu den Tatsachen gelangt, nicht auf ihren rationalen Gehalt an. Wir werden auch keinem Faschisten, der von der überragenden Wertigkeit seines Germanentums narzisstisch überzeugt ist, mit Argumenten beikommen, schon deshalb nicht, weil er nicht mit Argumenten, sondern mit gefühlsmässigen Wertungen operiert. Es ist also für die politische Praxis aussichtslos, ihm beweisen zu wollen, dass die Neger und Italiener nicht weniger »rassisch« sind als die Germanen. Er fühlt sich als der »Höhere«, und damit ist Schluss.

Es ist nur möglich, die Rassetheorie dadurch zu entkräften, dass man über die sachliche Widerlegung hinaus ihre verschleierten Funktionen aufdeckt. Und deren gibt es im wesentlichen zwei: die objektive Funktion, den imperialistischen Tendenzen einen biologischen Mantel umzuhängen, und die subjektive Funktion, Ausdruck bestimmter affektiver, unbewusster Strömungen im Fühlen des nationalistischen Menschen zu sein und bestimmte psychische Haltungen zu verdecken. Nur die letzte Funktion soll hier erörtert werden.

„Blutschande“

Uns interessiert hier ganz besonders, dass Hitler von »Blutschande« spricht, wenn ein Arier mit einem Nichtarier sich vermischt, während man unter Blutschande üblicherweise gerade den Geschlechtsverkehr unter Blutsverwandten bezeichnet. Woher diese Dummheiten einer »Theorie«, die sich anmasst, die Grundlage einer neuen Welt, eines »dritten Reiches« zu werden? (…)

»Parallel der politischen, sittlichen und moralischen Verseuchung des Volkes lief schon seit vielen Jahren eine nicht minder entsetzliche gesundheitliche Vergiftung des Volkskörpers durch die Syphilis«, schreibt Hitler (»Mein Kampf«, S. 269). Die Ursache läge in erster Linie

»in unserer Prostituierung der Liebe. Auch wenn ihr Ergebnis nicht die fürchterliche Seuche wäre, wäre sie dennoch von tiefstem Schaden für das Volk, denn es genügen schon die moralischen Verheerungen, die die Entartung mit sich bringt, um ein Volk langsam, aber sicher zugrunde zu richten. Diese Verjudung unseres Seelenlebens und Mammonisierung unseres Paarungstriebes werden früher oder später unseren gesamten Nachwuchs verderben …« (ebd., S. 270).

»Die Sünde wider Blut und Rasse ist die Erbsünde dieser Welt und das Ende einer sich ergebenden Menschheit« (ebd., S. 272).

Rassenvermischung führt also nach dieser Ansicht zur Blutsvermischung und derart zur »Blutsvergiftung des Volkskörpers«:

»Die sichtbarsten Resultate dieser Massenverseuchung (durch die Syphilis) kann man … finden in unseren – Kindern. Besonders diese sind das traurige Elendserzeugnis der unaufhaltsam fortschreitenden Verpestung unseres Sexuallebens; in den Krankheiten der Kinder offenbaren sich die Laster der Eltern« (ebd., S. 271).

Unter den »Lastern der Eltern« kann hier nur gemeint sein, dass diese sich mit fremdrassigem, also besonders jüdischem Blut vermengten, wodurch die jüdische »Weltpest« Eingang ins »reine« arische Blut fand. Es ist bemerkenswert, wie innig diese Vergiftungstheorie mit der politischen These von der Vergiftung des Deutschtums durch den »Weltjuden Karl Marx« verknüpft ist. In der so gefühlsbetonten Sphäre der Syphilisangst haben die politische Weltanschauung und der Antisemitismus des Nationalsozialismus eine ihrer stärksten Quellen. Erstrebenswert und mit allen Mitteln erkämpfenswert ist dann folgerichtig die Rassenreinheit, das heisst die Reinheit des Blutes.[4]

Hitler betont an vielen Stellen, dass man der Masse nicht mit Argumenten, Beweisen und Bildung, sondern nur mit Gefühlen und Glauben kommen dürfe. (…)

Was verbirgt sich also hinter dem Mystizismus der Faschisten, der die Massen derart faszinierte? (…)

Verleugnete Sexualität

Wir nehmen vorweg: Das meiste und praktisch Wichtigste daran ist sexualökonomischer Energieprozess. Die Weltanschauung von der »Seele« und ihrer »Reinheit« ist die Weltanschauung der Asexualität, der »sexuellen Reinheit«, also im Grunde eine Erscheinung der durch die patriarchalische und privatwirtschaftliche Gesellschaft bedingten Sexualverdrängung und Sexualscheu. (…)

Die faschistische Ideologie trennt (…) die erotisch-sinnlichen Bedürfnisse von den abwehrenden moralischen Gefühlen der im Patriarchat erzeugten menschlichen Strukturen ab und ordnet sie jeweils verschiedenen Rassen zu: Nordisch wird gleichbedeutend mit licht, hehr, himmelhaft, rein; dagegen »vorderasiatisch« gleich triebhaft, dämonisch, geschlechtlich, extatisch. (…)

Leugnet die Religion das sexualökonomische Prinzip überhaupt, verurteilt sie das Sexuelle als eine internationale Erscheinung des Menschentums, von dem nur das Jenseits erlösen könne, so verlegt der nationalistische Faschismus das Sexuellsinnliche in die »fremde Rasse«, sie so gleichzeitig erniedrigend. (…)

Hier steht der Jude und der Neger auf einer Stufe in der Vorstellung des Nationalisten, des deutschen ebenso wie des amerikanischen. Nach authentischen Berichten spielt sich der Rassekampf in Amerika gegen den Neger überwiegend auf dem Boden der sexuellen Abwehr ab: Der Neger ist als das sinnliche Schwein aufgefasst, das weisse Frauen vergewaltigt. Und Hitler schreibt über die farbige Besatzung des Rheinlandes:

»Nur in Frankreich besteht heute mehr denn je eine innige Übereinstimmung zwischen den Absichten der Börse, den sie tragenden Juden und den Wünschen einer chauvinistisch eingestellten nationalen Staatskunst. Allein gerade in dieser Tatsache liegt eine immense Gefahr für Deutschland. Gerade aus diesem Grunde ist und bleibt Frankreich der weitaus furchtbarste Feind. Dieses an sich immer mehr der Vernegerung anheimfallende Volk bedeutet in seiner Bindung an die Ziele der jüdischen Weltbeherrschung eine lauernde Gefahr für den Bestand der weissen Rasse Europas. Denn die Verpestung durch Negerblut am Rhein im Herzen Europas entspricht ebenso sehr der sadistisch-perversen Rachsucht dieses chauvinistischen Erbfeindes unseres Volkes, wie der eisig-kalten Überlegung des Juden, auf diesem Wege die Bastardierung des europäischen Kontinents im Mittelpunkte zu beginnen und der weissen Rasse durch Infizierung mit niederem Menschentum die Grundlagen zu einer selbstherrlichen Existenz zu entziehen« (ebd., S. 704–705).

Wir müssen uns energisch darin üben, auf das, was der Gegner sagt, genau zu hören und es nicht als Blödsinn oder Schwindel abzutun. Wir verstehen jetzt besser den Gefühlsgehalt dieser Theorie, die wie ein Verfolgungswahn anmutet, wenn man sie zusammen mit der Theorie von der Vergiftung des Volkskörpers betrachtet.

Wilhelm Reich, Massenpsychologie des Faschismus. Der Originaltext von 1933, Psychosozial Verlag, ca. 300 S., Bestellen?

[1] Siehe auch http://buecher.hagalil.com/2014/10/wilhelm-reich/; https://www.hagalil.com/2013/12/wilhelm-reich-2/. Eine aktuelle Zusammenfassung meiner Recherchen zur tatsächlichen Rolle der Psychoanalyse im Nationalsozialismus findet sich hier: https://andreas-peglau-psychoanalyse.de/psychoanalyse-im-nationalsozialismus-eine-kurzfassung/
[2] Wilhelm Reich: Massenpsychologie des Faschismus. Der Originaltext von 1933. Psychosozial-Verlag Gießen 2020. https://www.psychosozial-verlag.de/2940
[3] Ebd., S. 81-102. Die Zwischenüberschriften stammen von mir.
[4] Die »Times« schrieb am 23. August 1933: »Der Sohn und die Tochter des amerikanischen Gesandten in Berlin waren unter den Fremden, die sich am Sonntag, den 13. August, in Nürnberg aufhielten und sahen, wie ein Mädchen durch die Strassen geführt wurde; der Kopf war kahl geschoren und an den abgeschnittenen Zöpfen war ein Plakat befestigt, mit der Aufschrift: ›Ich habe mich einem Juden hingegeben.‹ Verschiedene andere Fremde waren ebenfalls Augenzeugen dieses Schauspiels. Zu jeder Zeit sind fremde Touristen in Nürnberg, und die Parade mit dem Mädchen wurde in einer solchen Weise ausgeführt, dass wenig Leute im Zentrum der Stadt versäumt haben können, sie zu sehn. Das Mädchen, das von einigen Fremden als schlank, zerbrechlich und, ungeachtet ihres geschorenen Kopfes und ihres Zustands, als ausnehmend hübsch beschrieben wird, wurde die Reihe der internationalen Hotels am Bahnhof entlang geführt, durch die Hauptstrassen, deren Verkehr vom Pöbel versperrt war, und von Restaurant zu Restaurant. Sie war eskortiert von Sturmtruppen, ihr folgte eine Menge, die von einem zuverlässigen Beobachter auf etwa 2000 Leute geschätzt wurde. Sie stolperte einige Male und wurde dann von den begleitenden starken SA-Leuten wieder auf die Füsse gestellt, manchmal auch in die Höhe gehoben, damit auch die entfernteren Zuschauer sie sehen konnten; bei diesen Gelegenheiten wurde sie vom Pöbel angebrüllt und verhöhnt und spasshafterweise eingeladen, eine Rede zu halten. In Neu-Ruppin, in der Nähe von Berlin, wurde ein Mädchen, weil es sich nicht erhoben hatte, als das Horst-Wessel-Lied gespielt wurde, unter der Bewachung von Sturmtruppen durch die Stadt geführt. Sie trug am Rücken und auf der Brust je ein Plakat mit der Inschrift: ›Ich schamlose Kreatur habe es gewagt, sitzen zu bleiben als das Horst-Wessel-Lied gesungen wurde und habe so die Opfer der Nationalen Revolution missachtet.‹ Später wurde das Mädchen noch einmal durch die Strassen geführt. Die Zeit des Schauspiels war vorher in der Ortszeitung angegeben worden, sodass grosse Menschenmengen sich versammeln konnten.«