Gandhi und seine jüdischen MitstreiterInnen

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Ende September 2019 erschien im Verlag Graswurzelrevolution das Buch „Gandhi. ‚Ich selbst bin Anarchist, aber von einer anderen Art'“ von Lou Marin und Horst Blume. Wir veröffentlichen einen Auszug…

Gandhi und seine gewaltfrei-revolutionären Massenkampagnen in Indien gegen die britische Kolonialmacht sind noch immer eine weltweite Inspirationsquelle und ein emanzipatorischer Gegenpol zu gewaltverherrlichenden und kriegstreiberischen Tendenzen. In diesem Buch werden staatskritische und pro-anarchistische Stellungnahmen Gandhis in Texten aus drei Jahrzehnten dokumentiert. Auf dieser inhaltlichen Grundlage wird auch auf die Vorwürfe eingegangen, Gandhi sei angeblich „Rassist“ oder „Verteidiger des Kastensystems“ gewesen. Dass diese Vorwürfe haltlos sind, wird durch die hier vorliegenden Texte deutlich. Sie zeigen, wie sich Gandhis Positionen entwickelten und radikalisierten: bereits ab 1908 in Südafrika im Kollektiv mit jüdischen Gewaltfreien, ganz besonders aber während der drei Jahrzehnte des anti-kolonialen Kampfes in Indien. Abschließend wird anhand der aktuellen sozialen Bewegung für Landrechte am Beispiel von Ekta Parishad gezeigt, dass sich diese auf den Salzmarsch Gandhis bezieht und die gewaltfrei-libertäre Tradition noch immer relevant für die Kämpfe von unten im heutigen Indien ist.

Gandhi und seine jüdischen MitstreiterInnen

Von Lou Marin

Der aggressivste Kern vieler Rassismen ist der Antisemitismus. Zwar erstrecken sich die heutigen Vorwürfe Gandhis für seine Zeit in Südafrika nicht auf den Bereich Antisemitismus. Doch auch ein Weglassen früher Verdienste in Südafrika kann dazu beitragen, ein bestimmtes Gandhi-Bild dieser Zeit zu erzeugen. Gandhi hatte nicht nur von Anfang an wichtige jüdische Mitstreiter, wie Hermann Kallenbach, sondern führte auch bedeutende internationale Diskussionen – oft unter erschwerten Bedingungen –, die bewirkten, dass auch etwa Martin Buber von Gandhi inspiriert wurde und seine Ideen aufgriff. Gandhi hatte in Südafrika zu einem frühen Zeitpunkt Juden und Jüdinnen in seine Ashrams aufgenommen und später, Ende der Dreißigerjahre, zusammen mit Nehru, vom Nationalsozialismus verfolgte Juden und Jüdinnen nach Indien einreisen lassen – all das sind politische Positionen eines Bewusstseins für den zeitgenössischen Antisemitismus, den die Kritiker*innen Gandhis in ihrem undifferenzierten Rassismus-Vorwurf allzu leicht übergehen.

Hermann Kallenbach, der „Baugewerksmeister“

Christian Bartolf hat zusammen mit der Israelin Isa Sarid eine Biographie über Hermann Kallenbach (1871-1945) veröffentlicht. Hermann Kallenbach stammte aus einer russischstämmigen jüdischen Familie, wurde aber in Ostpreußen geboren. Er lernte „Baugewerksmeister“, eine Verbindung von Maurer, Zimmermann und Architekt. 1896 fuhr er zu seinem Onkel nach Südafrika. Gandhi traf er dort zufällig beim indisch-islamischen Rechtsanwalt Khan, für den Gandhi damals arbeitete. Schnell wurden sie Freunde.

Kallenbach änderte sein Leben radikal. Zusammen mit Gandhi nahm er 1910 Kontakt mit Tolstoi auf. Nun gründeten beide zusammen die Tolstoi-Farm in der Nähe von Johannesburg, eine der ersten Gandhi-Kommunen oder Ashrams, wie sie später in Indien heißen sollten. Gandhi und Kallenbach wollten dort ihr Ideal einfacher und gleichberechtigter Arbeit in die Praxis umsetzen und zugleich eine soziale Basis für die Emanzipationsbewegung der Inder*innen in Südafrika aufbauen. In einem Gefängnisbrief Kallenbachs wird deutlich, dass er nicht nur als Handwerker und Architekt, sondern auch als Aktivist und Organisator unschätzbare Dienste bei den Streiks und Aktionen der indischen Bewegung in Südafrika leistete.

Nach einem Aufenthalt in London während des Ersten Weltkriegs war es Kallenbach als offiziell Deutschem nicht erlaubt, zusammen mit Gandhi in Indien einzureisen. Kallenbach ging dann in den Zwanzigerjahren wieder nach Südafrika und machte sich als Architekt öffentlicher Gebäude einen Namen. In den Dreißigerjahren hatte er dort Kontakt mit dem Bauhaus-Architekten Walter Gropius.

In den späten Dreißigerjahren fuhr Kallenbach nach Palästina und unterstützte die zionistische Bewegung. Allerdings schwebte ihm eine Ackerbau-Gemeinschaft ohne Staat, Armee und Industrie vor. Nach dem Vorbild des zionistischen Sozialisten und Pionier der Kibbuz-Bewegung A.D. Gordon wollte auch Kallenbach bei zionistischen Siedlungen Kolonialismus, Rassismus und Imperialismus überwinden. Mit dem Auftrag, die zionistischen Inhalte Gandhi besser zu vermitteln, besuchte Kallenbach Gandhi 1937 in Indien und sah ihn damit nach 23 Jahren erstmals wieder. Gandhi sprach sich gegen eine Durchsetzung der zionistischen Interessen in Palästina mit Waffengewalt aus. Zusammen mit Kallenbach versuchte Gandhi, die 70 Millionen Muslime in Indien auf die Seite einer Gesprächslösung zwischen arabischen und jüdischen Ansprüchen in Palästina zu bringen. Nach einer Malaria-Erkrankung starb Kallenbach 1945. Seine Urne liegt im Kibbuz Degania in Israel – einem jener Kibbuzim, die auf eine lange Tradition anarchistischer Einflusse innerhalb der Kibbuz-Bewegung zurückblicken können.

Sonja Schlesin: Flucht vor zaristischen Pogromen

Auf zeitgenössischen Fotos und auch bei Festnahmen Gandhis durch die britische Polizei sind oft zwei Mitstreiter*innen zu sehen, neben Kallenbach auch die jüdische Sekretärin Gandhis, Sonja Schlesin (1888-1956). Sie wurde in Moskau geboren und lebte mit ihrer Familie in Neustadt, damals Russland, heute Litauen. Aufgrund der anti-jüdischen Pogrome und der antisemitischen Politik des Zaren Alexander III. emigrierte die Familie in den Jahren 1891 und 1892 bis nach Südafrika. Als Siebzehnjährige lernte Sonja Schlesin 1905 Gandhi kennen. Gandhi meinte später über seine Zeit in Südafrika, dort sei er „von Juden umgeben“ gewesen. Neben Kallenbach und Schlesin waren wichtige strategische Mitkämpfer in seinen Kampagnen des Weiteren die Juden Lewis W. Ritch, der für Gandhi den Kontakt zu Tolstoi herstellte, woraus ein Briefwechsel entstand, sowie Henry Polak, der Gandhi auf John Ruskins Buch „Unto This Last“ aufmerksam machte, das Gandhis industriezivilisatorische Kritik stark beeinflusste. Weil Sonja Schlesin in Russland antisemitische, das heißt auch rassistische Verfolgung am eigenen Leib erlebt hatte, war sie sensibel für die rassistische Diskriminierung der Inder*innen in Südafrika.

Die indischen Händlerfamilien und Arbeiter*innen waren zudem wie sie selbst Immigrant*innen. Es war Hermann Kallenbach, der sie als Sekretärin für Gandhi vorschlug, und als solche war sie bei allen Kampagnen des passiven Widerstands, bald Satyagraha genannt, ab 1906 und der Mobilisierungsrede Gandhis in Johannesburg gegen den diskriminierenden Black Act dabei. Der Einfluss von Kallenbach und Schlesin führte dazu, dass Gandhi in dieser Zeit mehrfach Synagogen besuchte und alle drei für eine pluralistische und die Glaubensrichtungen übergreifende Religionskonzeption eintraten. In der Kampagnenpraxis war Schlesin vor allem organisatorisch tätig, vermied Festnahmen und war bei den zahlreichen Gefängnisaufenthalten Gandhis eine Garantin dafür, dass die Aktionen weiter gingen. Sonja Schlesin war die erste ausgebildete weibliche Juristin in Südafrika. Gleichzeitig war sie von der britischen Suffragettenbewegung stark beeinflusst. Sie und Gandhi hatten damals direkte Kontakte zu Emilie Pankhurst und die frühe, nicht-gewaltsame Aktionsphase der Suffragettenbewegung hatte großen Einfluss auf die Entwicklung der Satyagraha-Konzeption.

Sonja Schlesin war somit auch dafür verantwortlich, dass schon bei den südafrikanischen Satyagraha-Kampagnen Frauen immer wieder aktiv beteiligt waren (ca. 130 etwa beim Newcastle- und Charleston-Marsch 1913). Darüber hinaus war sie für die Geldbeschaffung der Bewegung aktiv, machte redaktionelle Arbeit für die Zeitung Indian Opinion und besuchte gefangene Satyagrahis im Gefängnis. In den Zeiten, in denen Gandhi in London weilte, hielt sie die Organisierung aufrecht und informierte ihn über die laufenden Entwicklungen. Von 1911 bis 1912 war Sonja Schlesin zugleich Sekretärin der „Transvaal Indian’s Women Association“ (Vereinigung Indischer Frauen des Staates Transvaal) und als solche wurde sie juristisch verfolgt, als sie sich auf Aufforderung der Weißen weigerte, ein Dritte-Klasse-Abteil eines Zuges zu verlassen – Gandhi und sie hatten sich angewohnt, nur noch Dritte Klasse, d.h. unter Schwarzen zu reisen.

Im Gericht wurde sie von Gandhi verteidigt und konnte eine Gefängnisstrafe vermeiden. Beim Newcastle-Marsch und beim direkt darauf folgenden Charleston-Marsch, als Gandhi, Polak und Kallenbach im Gefängnis waren, organisierte Schlesin die Solidaritätsarbeit und kümmerte sich um die Frauen, Kinder und Ältesten der Bergarbeiterfamilien. Nachdem Gandhi 1914, nach dieser von relativem Erfolg gekrönten Bewegung, Südafrika verließ, ergriff Sonja Schlesin den Beruf der Lehrerin, den sie bis 1943 ausführte. Sie blieb in Südafrika und setzte sich bis zu ihrem Tod für die freie Immigration von Juden und Jüdinnen ins Land ein. Sie starb 1956.

Die gegenseitige Beeinflussung von Gandhi und Martin Buber

Kurz nach Kallenbachs Besuch 1937 veröffentlichte Gandhi 1938 zwei Aufsätze im Anschluss an die Nazi-Besatzung der Tschechoslowakei und an das November-Pogrom in Nazi-Deutschland 1938. Dort rief Gandhi die Verfolgten des NS-Regimes zum gewaltfreien Widerstand auf. Dies löste eine Kontroverse zwischen Gandhi und Martin Buber aus, die seither immer wieder, etwa in der Berliner „tageszeitung“ im Vorfeld des Golfkrieges von 1991, dazu benutzt wurde, in Vorkriegszeiten antimilitaristische Bewegungen zu denunzieren.

Zu dieser Kontroverse zwischen Gandhi und Buber hat Christian Bartolf in seinem Buch „Wir wollen die Gewalt nicht“ alle Briefe und Dokumente veröffentlicht und in einer Einleitung wichtige Zusatzinformationen geliefert. Es wird dabei deutlich, dass Buber seine Antwort auf Gandhis Aufruf zum gewaltfreien Widerstand erst nach Aufforderung verfasst hat. Zusammen mit dem Brief Bubers, der Gandhis Widerstandsvorschlag angesichts des monströsen Gegners kritisierte, wurde gleichzeitig noch ein Brief von Judah Leon Magnes, dem damaligen Kanzler der Berliner Hebräischen Universität, an Gandhi in Indien versandt, in dem Mages Gandhi um konkrete Aktionsvorschläge bat. Beide Briefe haben Gandhi leider nie erreicht, sodass Gandhi auf Buber nicht antworten und an Magnes keine konkretisierenden Vorschläge richten konnte. Der beabsichtigte Dialog kam also im eigentlichen Sinne gar nicht erst zustande, was sicherlich den damals noch manchmal unüberwindbaren Entfernungen geschuldet war. Die von Bartolf zusammen getragenen Dokumente zu den beiden Briefen von Buber und Magnes machen jedoch deutlich, dass Gandhi einerseits die Monströsität der NS-Diktatur keineswegs unterschätzt hat und Buber sich trotz seiner situativen Gewaltbefürwortung immer großen Respekt vor Gandhis Gewaltlosigkeit bewahrt hat, sogar später darauf zurückkam und angesichts der atomaren Bedrohung eine „planetarische Front“ des zivilen Ungehorsams forderte.

Aus diesem Zusammenhang darf geschlussfolgert werden, dass Gandhi zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, was den bewaffneten Widerstand von Juden/Jüdinnen gegen die nazistische Vernichtungspolitik anbetrifft, wohl zu einer ähnlichen Charakterisierung von „fast gewaltfrei“ gekommen wäre, wie er sie angesichts des polnischen Widerstands von 1939 im hier abgedruckten dritten Text Gandhis vom August 1940 geäußert hat.

Auszug aus: Lou Marin und Horst Blume: Gandhi „Ich selbst bin Anarchist, aber von einer anderen Art”, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2019, 140 Seiten, mit aktuellen Fotos und historischen Abbildungen, 13,90 Euro, Bestellen?

Bild oben: Gandhi, Sonia Schlesin, und Dr. Hermann Kallenbach. Kallenbach nähte das Bild in seine Jacke ein bevor er sich Gandhi in England dem Ersten Weltkrieg anschloss. Als Deutscher fürchtete er, verhaftet zu werden, was tatsächlich auch geschah. Das Bild, das 1913 aufgenommen wurde, blieb jedoch unentdeckt.