Von Autisten und Helden

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Eine Jugendliche rennt in Panik die Straße entlang; sie bewegt sich dabei nicht in einer Weise, als würde sie befürchten, die Haltestelle nicht rechtzeitig zu erreichen und so einen Bus verpassen, der sie rechtzeitig zu den Abiturprüfungen bringen kann, sondern so, als ob sie in Lebensgefahr schwebt. Man merkt ihr an, kein richtiges Ziel zu haben, und da sie völlig rücksichtlos in Hinblick auf weitere Personen, die sich auf ihrer Strecke befinden, durch die Straßen sprintet, sogar ein Radfahrer ihretwegen zu Fall kommt, vermutet man männliche Verfolger hinter ihr. Da sind tatsächlich welche, sie holen sie ein und werfen sie zu Boden: Die jugendliche Emilie ist ihre Klientin, sie leidet an einer schweren autistischen Störung und wird von den Männern betreut…

Von Miriam N. Reinhard

Der Film „Alles außer gewöhnlich“ des Regieteams Éric Toledano und Olivier Nakasche widmet sich der Arbeit eines Vereins, der für schwer autistische Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zuständig ist, die sonst nirgends untergebracht werden können. Da ist nicht nur Emilie, die das Betreuungsteam immer wieder in Bewegung und Aufruhr versetzt; auch Joseph, der regelmäßig in der Metro den Notfallknopf drückt, einfach deswegen, weil er es will, und der damit immer wieder auf der Polizeistation landet und dort ausgelöst werden muss. Schließlich wird noch Valentin dazustoßen, der in einer psychiatrischen Klinik nicht weiter betreut werden kann. Er trägt einen Boxerhelm, weil er sich sonst selbst verletzen würde – und viele weitere Jugendliche, die deutlich eingeschränkt sind und die Begleitung im Alltag benötigen.

Das engagierte Team, das sie betreut, wird von einer Doppelspitze geführt: Bruno (Vincent Cassel), Jude und Single im Dauerstress, und Malik, (Reda Kateb) Muslim, verheiratet, Familienvater. Malik betreut zusätzlich noch jene, die die beiden bei der Arbeit mit der autistischen Gruppe unterstützen: Junge Erwachsene, die eine sozialpädagogische Ausbildung machen – auch sie sind ihrerseits Menschen, die sonst keine großen Chancen haben, gesellschaftliche Außenseiter, für die diese Ausbildung eine Perspektive und eine Chance zur „seelischen Reife“ ist, wie Malik sagt. Doch dass Jugendliche, die selbst Schwierigkeiten haben, die Verantwortung für schwer autistische Menschen übernehmen und die Tatsache, dass der Verein über keine staatliche Legimitation für seine Arbeit verfügt, ruft das Gesundheitsamt auf den Plan, das eine umfassende Überprüfung vornimmt und schließlich feststellt, dass das Angebot des Vereins für manche Kinder und Jugendliche alternativlos ist, weil er die einzige Möglichkeit der Betreuung bietet; so erteilt der Staat schließlich eine Ausnahmegenehmigung.

Toledano und Nakasche, die bereits mit „Ziemlich beste Freunde“ ein Inklusions-Sozialdrama gezeigt und damit ein Millionenpublikum bewegt haben, nehmen sich mit dem Film eines schwierigen Themas an, das bislang keine Würdigung im Kino abseits von Klischees erfahren hat. Hochfunktionalen Autismus kennt das Publikum bestenfalls aus dem Spielfilm „Rain Man“, das Asperger-Syndrom aus der Serie „Big Bang Theory“. In diesen Darstellungen kriegt es allerdings eine Fassung des autistischen Spektrums präsentiert, die sozial leicht auszuhalten ist: Die gezeigten Autisten sind sehr begabt, zwar sozial eingeschränkt, aber doch sehr liebenswert und für ihre Begabungen zu bewundern.

Toledano und Nakasche zeigen eine andere Seite der Autismusspektrumsstörung: unberechenbare Menschen, die wie Gefangene ihrer selbst wirken, die aggressiv gegen sich selbst und andere werden, die nicht oder kaum sprechen können und von denen man nicht weiß, was sie von ihrer Umwelt überhaupt wahrzunehmen in der Lage sind. Toledano und Nakasche haben sich die Geschichte, die sie erzählen, an den wichtigsten Punkten nicht ausgedacht: Sie haben seit vielen Jahren Kontakt zu den Betreuungsvereinen „Le Silence des Justes“ und „Le Relais Île-de-France“, die von Stéphane Benhamou und Daoud Tatou geleitet werden und haben deren Arbeit intensiv begleitet.

Vincent Cassel und Reda Kateb spielen die engagierten Sozialpädagogen Bruno und Malik sehr überzeugend; der Film ist ein Plädoyer für das Engagement solcher Menschen, eine Würdigung ihres über alle Grenzen gehenden Einsatzes – doch damit ist er in der Darstellung nicht immer unproblematisch. In ihrer unendlichen Güte, Geduld und schier unbegrenzten Kraft stehen die Hauptfiguren Bruno und Malik einem bösen Staatsapparat gegenüber, dessen Polizisten – die ja auch ein paar ernstzunehmende Notrufe bekommen – sich natürlich darüber ärgern, dass jemand in der Metro ständig den Alarmknopf drückt, dadurch die Weiterfahrt für alle Fahrgäste blockiert und einen Einsatz auslöst. Bruno muss sich mit einem Betrieb auseinandersetzen, der auf Inklusion nicht vorbereitet ist – Joseph wird aus einer Firma, die Waschmaschinen repariert, nach einer Probewoche wieder entlassen, weil eine Mitarbeiterin sich durch seine eigenwilligen Sympathiebekunden belästigt fühlt; sicher tut er dies genauso absichtslos, wie das Drücken des Alarmknopfes in der Metro, sicher könnte ein Betrieb Verständnis für solche Eigenheiten entwickeln und Lösungen dafür finden, aber wer will es dem Chef denn verübeln, dass das Wohl seiner Mitarbeiterin Priorität für ihn hat?

Die schwarz-weiß-Zeichnung des Films, die Darstellung der ausnahmslos guten Sozialpädagogen gegen die kalte und verständnislose Welt um sie herum, strengt deswegen zuweilen auch an. Dass der Jude Bruno und der Muslim Malik harmonisch zusammenarbeiten, ist wirklich sehr erfreulich; man könnte es aber auch schlicht für eine Selbstverständlichkeit halten, dass erwachsene studierte Franzosen, die in einem sozialen Beruf tätig sind, sich nicht im Modus von Feindseligkeit begegnen, weswegen sich die Frage stellt, warum man uns überhaupt so plakativ davon erzählt.

Die Distanzlosigkeit zu den Hauptfiguren – die Verklärung ihrer Distanzlosigkeit zu ihrem Beruf – ist fragwürdig. Es sollte in diesem Bereich keine Helden geben müssen, wie Bruno, der ein Schidduch („Ist das Tinder für Juden?“, fragt ihn jemand aus dem jugendlichen Betreuungsteam) nach dem anderen vermasselt, weil ständig sein Handy ihn in den Dienst zurückruft. Bruno ist sicher bewundernswert in seiner Arbeit, aber kann doch nur eingeschränkt ein Vorbild sein. Die Fixierung auf seine Person, die seine Klienten haben, kann spätestens dann zur Katastrophe führen, wenn sie ihn überleben. So berührt Josephs Mutter Hélène (Hélène Vincent) am meisten, wenn sie sagt: „Was wird aus ihm, wenn ich nicht mehr bin? Ich kann den Gedanken, dass er weggesperrt würde, nicht ertragen. Lieber setze ich allem ein Ende, zusammen mit ihm, jetzt gleich.“ Nachdem die Mutter das ausgesprochen hat, bleibt der gestresste Bruno dann doch noch auf ein Stück Ananaskuchen bei ihr und steht ihr in dieser Krise bei; die akute Gefahr eines erweiterten Suizids wird somit abgewendet – die Frage der Mutter ist damit allerdings nicht beantwortet, sie geht an die Gesellschaft zurück.

Statt dieser bis zur Selbstaufgabe engagierten Menschen braucht es funktionierende soziale Strukturen; der Staat ist gefordert, Rahmenbedingungen zu schaffen, um die Arbeit eines solchen Vereins nicht nur zu legitimieren, zu finanzieren, sondern auch zu professionalisieren. Denn ein Risiko ist es in jedem Fall, junge Erwachsene, die selbst nicht gefestigt sind, zu Mitarbeitern für solche Fälle zu machen, auch hier verklärt der Film eine sicher auch aus der Not der Umstände heraus geborene Lösung etwas zu sehr. Dass Valentin seelenruhig über eine Autobahn spaziert, weil der für ihn abgestellte Betreuer sich mal kurz mit seinem Smartphone beschäftigt und eine Zigarette rauchen muss, zeigt zwar, wie gefährlich so etwas werden kann; doch da Valentin schließlich von Bruno und Malik aus der lebensgefährlichen Situation gerettet wird, hinterfragt der Film nicht weiter, wieso man überhaupt auf die unverantwortliche Idee gekommen ist, Valentin mit dem jungen unerfahrenen Mann allein zu lassen.

Natürlich hat der Film Recht damit, wenn er aufzeigt, dass es keine Antwort sein kann, autistische Menschen in Psychiatrien einzuschließen, sie mit Medikamenten ruhigzustellen, zu fixieren und vor sich hin vegetieren zu lassen. Das ist unmenschlich, entwürdigend, eine Katastrophe für einen Staat, in dem der Humanismus beheimatet sein will. Zudem ist eine solche Unterbringung nicht nur nicht hilfreich, sie kann auch die Symptome verstärken. Aus der Gefangenschaft der Psychiatrien entlassen, versetzt jeder noch so kleine Außenreiz diese Menschen in einen Alarmzustand – an der Figur des Valentin wird das besonders eindrucksvoll und in erschütternder Weise gezeigt.

Der Film hat Recht, wenn er den Staat für die prekäre Lage verantwortlich macht, in der solche Vereine zu arbeiten gezwungen sind. Er hat Unrecht, wenn er das oft improvisierte Agieren Brunos verklärt und seine Selbstaufgabe zu Heldentum stilisiert – eine Arbeitsweise, an der andere in diesem Bereich tätige Menschen zugrunde gehen können, womit dann auch niemandem geholfen ist.

Was allerdings bemerkenswert ist, ist die Integrationskraft, die der Film als Film geleistet hat. Die Figur des Joseph wird von Benjamin Lesieur verkörpert, der selbst Autist und kein ausgebildeter Schauspieler ist. Die Dreharbeit mit ihm ist wohl alles außer gewöhnlich gewesen und hat besondere Vorbereitungen erfordert, aber sie ist ohne Frage ein Erfolg. Inklusion kann funktionieren, wenn ein Team, eine Gesellschaft, darauf vorbereitet wird – und sie kann dann sogar davon profitieren, wie Éric Toledano und Olivier Nakasche von dem Mut und Talent des Benjamin Lesieurs. Aber sie muss auch nicht profitieren, das kann nicht die Frage dabei sein; die Gesellschaft muss etwas geben, weil sie sonst ihren eigenen Anspruch der Humanität verliert. Sie muss etwas geben und sie kann etwas geben, wenn sie sich dazu entschließt. Ohne Heldentum, ohne die grenzenlose Aufopferung Einzelner, die ja auch nie ganz frei von der narzisstischen Phantasie ist, in der eigenen Person könnte ein Schlüssel zur Erlösung liegen.

Das bereitzustellen, was gebraucht wird: Auch das sollte eine Selbstverständlichkeit der aufgeklärten, sozialen Gesellschaften sein. Hoffen wir, dass der Appell des Films auch jene erreicht, die an diesen Punkten Macht zur strukturellen Gestaltung besitzen.