Ratlos in Jerusalem

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Keine klaren Mehrheiten, keine neue Regierung und nun soll auch noch der amtierende Ministerpräsident Benjamin Netanyahu vor Gericht gestellt werden. Innenpolitisch kommt Israel einfach nicht zur Ruhe. Aber welche Optionen gibt es nun für das Land? 

Von Ralf Balke

So viel Premiere war noch nie. Nicht nur, dass zum ersten Male in der Geschichte Israels innerhalb eines Jahres gleich zweimal gewählt werden musste. Darüber hinaus gelang es weder dem amtierenden Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu noch seinem Herausforderer Benny Gantz, eine funktionierende Koalition auf die Beine zu stellen, weshalb am Donnerstag das Mandat, eine Regierung zu bilden, nun an die Knesset ging – auch das ein absolutes Novum. Konkret heißt das, dass jeder Abgeordnete des israelischen Parlaments, und diese Option gilt ebenfalls für Netanyahu und Gantz, nun den Versuch wagen darf, mindestens 61 der 120 Parlamentarier auf sich zu vereinen. Dafür ist laut Gesetz eine Zeitspanne von genau 21 Tagen vorgesehen. Falls es Niemandem gelingen sollte, in dieser Frist eine Mehrheit aus dem Hut zu zaubern, werden wohl Neuwahlen – dann der dritte Urnengang innerhalb von zwölf Monaten – nötig sein. Diese würden aller Wahrscheinlichkeit nach Ende März 2020 stattfinden. Last but not least hatte Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit am selben Tage noch erklärt, dass gegen Netanyahu nun wegen Bestechung, Betrug und Untreue definitiv Anklage erhoben wird. Ganz offensichtlich drohen ihm nun seine Liebe zu Rosé-Champagner und teuren Zigarren sowie sein Bedürfnis nach einer positiven Berichterstattung zu seiner Person – genau darum geht es in den Fällen 1000, 2000 und 4000 – zum Verhängnis zu werden. Auch einen solchen Schritt gegen einen amtierenden Ministerpräsidenten hatte es noch nie gegeben.

„Heute habe ich dem Büro des Ministerpräsidenten meine Entscheidung mitgeteilt, ihn in drei Punkten anzuklagen,“ erklärte Mandelblit. „Ein solcher Tag, an dem der Generalstaatsanwalt sich für eine Anklage aufgrund schwerer Vergehen gegen einen Ministerpräsidenten entscheidet, ist ein schwieriger und trauriger Tag für die Öffentlichkeit in Israel – und für mich ganz persönlich.“  Denn Mandelblit und Netanyahu waren lange Zeit politische Weggefährten. Zwischen 2013 und 2016 hatte der jetzige Generalstaatsanwalt das Amt eines Kabinettssekretärs inne. „Ausgehend von einem tiefen Gefühl des Engagements für die Rechtsstaatlichkeit, für das öffentliche Interesse und für die Bürger Israels kann ich nur betonen, dass Strafverfolgung nicht einfach nur eine Option ist“ betonte Mandelblit. Gleichzeitig wies er Vorwürfe zurück, dass die Anklage politisch motiviert sei. „Das alles ist keine Frage von rechts oder links, es ist keine politische Angelegenheit.“ Netanyahu sah das wenig überraschend alles völlig anders. Er reagierte mit einer 15 Minuten andauernden Rede, in der er von einem „Putschversuch“ sowie einer „Hexenjagd“ gegen ihn sprach. „Ich werde die Lügen nicht triumphieren lassen“, rief ein reichlich nervös und erratisch wirkender Ministerpräsident. Höhepunkt seiner Tirade war die Aufforderung „gegen die Ermittler zu ermitteln“, was einem Angriff auf den Rechtsstaat gleichkäme. Selbstverständlich sei er unschuldig und ein Rücktritt komme für ihn keinesfalls in Betracht.

Das alles führt zu den Fragen: Welche Optionen bleiben Netanyahu nun, um einer Verurteilung zu entgehen und was sieht das Gesetz überhaupt in einem solchen Falle vor? Und natürlich: In welchem Zusammenhang steht die Anklage mit den derzeitigen Schwierigkeiten, eine Regierung zu bilden und womöglichen Neuwahlen? Die Rechtslage sieht erst einmal folgendes Prozedere vor: Von dem Moment an, an dem Mandelblit den Knessetsprecher Yuli Edelstein offiziell von seiner Entscheidung informiert, den Ministerpräsidenten vor Gericht zu bringen, hat Netanyahu genau 30 Tage Zeit, die Knesset um parlamentarische Immunität zu bitten. Ganz so unproblematisch scheint es also doch nicht zu sein, einen amtierenden Regierungschef auf die Anklagebank zu schicken, wie die Rechtsexpertin Suzie Navot in der Times of Israel näher erläutert: „Mandelblit kann nicht einfach so Klage einreichen. Erst muss man den Knessetsprecher kontaktieren und dann Netanyahus Entscheidung abgewartet werden.“ Sollte die Immunität nicht gewährt werden, wird die Staatsanwalt ganz offiziell bei dem Bezirksgericht von Jerusalem Klage gegen den Ministerpräsidenten einreichen. Drei Richter werden daraufhin entscheiden, ob dem Ganzen stattgegeben wird.

Sollte aber – wovon definitiv auszugehen ist – Netanyahu Immunität wünschen, müsste erst der Hausausschuss der Knesset und anschließend das gesamte Plenum darüber entscheiden. Und da ist erste große Problem: Weil es aktuell keine funktionierende Regierungskoalition gibt, existiert derzeit auch kein Hausausschuss, weshalb die Immunität Netanyahus gar nicht zur Diskussion gestellt werden kann. „Er muss nur sagen, dass er Immunität will“, skizziert Navot die Rechtslage. „Aber erst wenn es eine neue Regierung gibt und ein Hausausschuss der Knesset wieder seine Arbeit aufgenommen hat, kann man sich wirklich mit dem Thema befassen.“ Und das dürfte dauern. Würde theoretisch im März zum dritten Male gewählt werden, braucht es mehrere Monate bis eine neue Regierung vereidigt ist und ein solcher Hausausschuss gebildet wird. Netanyahu hätte also reichlich Zeit. Ein weiteres Problem ist das Immunitätsgesetz selbst, dass vier Kriterien nennt, auf deren Basis einem Abgeordneten der Knesset der Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung entzogen werden kann. Sie alle bieten reichlich Interpretationsspielräume. Was die ganze Angelegenheit nicht unbedingt einfacher macht: Es gibt keinerlei Erfahrungswerte, auf die man sich berufen könnte, da das Gesetz noch nie vor Gericht zur Anwendung gekommen ist.

Aus all diesen Gründen ist es Netanyahu derzeit also äußerst wichtig im Amt zu bleiben, was aber zunehmend schwierig werden dürfte. Neuwahlen würden höchstwahrscheinlich nichts Grundlegendes an der aktuellen Pattsituation zwischen den politischen Blöcken ändern. Sehr wohl aber könnten die Wähler wie bereits bei dem Urnengang vom 17. September sich weiter in Scharen von ihm abwenden – schließlich belief sich das Minus für den Likud im Vergleich zu den Wahlen vom 9. April auf satte 300.000 Stimmen. Selbst Stammwählern ging es zuletzt gegen den Strich, dass der Eindruck entstand, Netanyahu wolle vor allem deshalb seinen Job als Regierungschef behalten, um einem Prozess zu entgehen. Zu viele sehen das Amt des Ministerpräsidenten durch sein Verhalten bereits beschädigt. Wie kann man wissen, ob Netanyahu nun politische Entscheidungen zum Wohle des Staates trifft, oder um irgendwie Einfluss auf das Verfahren zu nehmen? Selbst bei notwendigen militärischen Operationen, die er befiehlt, bliebe die Frage offen, ob das alles geschah, um in der Öffentlichkeit und bei den Richtern Punkte zu sammeln, diese Fragen beschäftigen sie. Außerdem kosten Prozesse Zeit und Kraft, was seine Handlungsfähigkeit als Ministerpräsident einschränkt – kurzum, kommt es zu einem dritten Urnengang, würde sich im Wahlkampf erst recht alles um die Anklage gegen ihn drehen und nicht um wichtige Sachthemen, an denen es gewiss nicht mangelt. Genau das könnte zu weiteren Stimmenverlusten führen.

Diese aber dürften einigen Abgeordneten des Likuds – vor allem jenen auf den unteren Plätzen der Wahlliste – nicht gefallen, weil sie dann ihren Sitz in der Knesset verlieren. Das lässt sie unruhig werden. Und daher könnte eine Revolte von Innen Netanyahu womöglich zum Verhängnis werden. Likudniks mit Zukunftssorgen suchen bereits auffällig oft die Nähe zu Ex-Innen- und Bildungsminister Gideon Saar, der schon länger mit den Hufen scharrt. Erst hatte er sich gegen das von Netanyahu geplante neue Immunitätsgesetz ausgesprochen, das Abgeordneten auch rückwirkend Schutz vor einer Anklage bieten sollte, dann brachte Saar sich selbst vor wenigen Wochen als möglichen Nachfolger an der Spitze des Likuds ins Spiel. Und am Donnerstag ließ er die Bombe platzen, als er gegenüber der Presse erklärte: „Ich glaube, dass ich es schaffen könnte, eine Regierung zu bilden sowie das Land und die Nation wieder zu einen.“ Zudem hatte es Saar zuvor erfolgreich verstanden, das Thema Vorwahlen aufs Tablett zu bringen. Im Falle eines dritten Wahlgangs solle die Partei über den Kandidaten entscheiden, der um das Amt des Ministerpräsidenten ins Rennen geht, und er würde auf jeden Fall gegen Netanyahu antreten. Dass Saar innerhalb des Likuds mit seinen Ambitionen nicht nur Begeisterung hervorrief, war zu erwarten. „Wenn unser Freund Gideon Saar nur ein wenig von der Loyalität der anderen Mitglieder des Blocks lernen würde“, twitterte beispielsweise Kommunikationsminister David Amsalem mit dem Verweis auf die rechten Parteien sowie die politischen Vertretungen der Ultraorthodoxie, die Netanyahu doch alle Gefolgschaft geschworen hätten.

„Dies ist eine Zeit beispielloser Dunkelheit in der Geschichte des Staates Israel“ hatte Staatspräsident Reuven Rivlin am Donnerstag gegenüber Knessetsprecher Yuli Edelstein erklärt und an die Parlamentarier appelliert: „Seid in den kommenden 21 Tagen nicht einfach nur ein Block oder eine Partei. Jeder von Euch sollte sein Gewissen zu Rate ziehen und nur eine einzige Frage beantworten: Was ist meine Verpflichtung gegenüber dem Staat.“ Und in der Tat dürften die kommenden 21 Tage äußerst spannend werden. Eine Regierung der nationalen Einheit, in der Herausforderer Benny Gantz unter einem Ministerpräsidenten Netanyahu einen hohen Posten erhält, ist seit den Ankündigungen der Generalstaatsanwalt vom Donnerstag noch unwahrscheinlicher geworden als vorher – es sei denn, Gantz wolle politischen Selbstmord begehen. Was nun aber denkbarer als noch vor wenigen Tagen erscheint, ist eine große Koalition zwischen Blau-Weiß und einem Likud ohne Netanyahu an der Spitze. Abhängig ist dies von der Fähigkeit von Gideon Saar, Netanyahus Hausmacht innerhalb des Likuds herauszufordern, oder aber eine Art Krötenwanderung frustrierter Likudniks Richtung Blau-Weiß zu initiieren.

Auffällig zurückhaltend verhält sich – im Moment noch jedenfalls – auch jener, der die innenpolitische Dauerkrise vor einem Jahr durch seinen Rücktritt vom Amt des Verteidigungsministers erst ins Rollen gebracht hat und seither als Israels eigentlicher Königsmacher gilt: Avigdor Lieberman, Vorsitzender von Israel Beitenu. Als die Anklageerhebung bekannt wurde, sagte er nur, dass dies „ein schwieriger Tag“ für das Land sei. „Wir müssen der Justiz erlauben, ihren Job zu erledigen. Und wir sollten dem Ministerpräsidenten die Möglichkeit geben, vor Gericht seine Unschuld zu beweisen.“ Doch das dürfte noch eine ganze Weile dauern.

Bild oben: Premier Netanyhu, 2015, (c)  Foreign and Commonwealth Office