Herzkammertöne

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HEART CHAMBER, Regie: Claus Guth, Uraufführung am 15. Novemberi 2019, Deutsche Oper Berlin, copyright: Michael Trippel

Uraufführung „Heart Chamber“ von Chaya Czernowin an der Deutschen Oper Berlin…

Von Miriam N. Reinhard

Es ist ein Glas Honig, das auf einer Treppe hinunterfällt, das eine besondere, schicksalhafte Begegnung schafft. Honig ist verheißungsvoll, süß und verführerisch, wertvoll. „Honig und Milch unter der Zunge“ haben – die Worte G’ttes schmecken, die Tora, das süße Leben selbst. Doch das Glas, das die wertvolle Substanz transportieren soll, ist zerbrechlich. Süße, Sehnsucht und Zerbrechlichkeit: Falling-In-Love.

Der Fall des Honigglases ist die erste Szene der Oper „Heart Chamber“ der israelischen Komponistin Chaya Czernowin, die am 15.11. in der Deutschen Oper in Berlin zur Uraufführung kam. Eine Oper, die sich der Liebe zwischen zwei Menschen widmet – sie tut dies in ganz anderer Weise, als wir es von der Oper gewohnt sind.

Czernowin erzählt keine große, dramatische Geschichte, es gibt keine Eifersucht, keine Intrigen, keine Toten am Schluss. Sie erzählt in fragmentierter Weise die kleine Geschichte zweier gewöhnlicher Menschen, eines Mann und einer Frau („es könnten auch“, sagt Czernowin, „Frau und Frau, Mann und Mann sein“), die sich zufällig auf einer öffentlichen Treppe begegnen, nach dem gefallenen Honigglas greifen, sich berühren, deren Blicke sich treffen. Czernowin will eine „Phänomenologie der Liebe“ zeigen, will erzählen und vor allem hörbar und sinnlich spürbar werden lassen, was in diesem so einfachen und doch so ungeheuerlichen Moment des Sich-Verliebens passiert.

Wir sehen und hören Ausschnitte aus der Begegnung dieser Personen und aus ihren Geschichten, doch in einer Weise, die genug Spielraum für eigene Erinnerungen und Projektionen lässt. Die Personen bleiben namenlos, sie sind bei aller Konkretion auch exemplarisch – sie könnten wir selbst sein. Sie kommen uns nah und bleiben entzogen – so wie der geliebte Mensch immer auch der ist, der nah ist, und sich doch mit seinem Geheimnis unserem Begreifen entzieht.

Die zwei sich ineinander verliebenden Personen werden mit jeweils zwei Stimmen ausgestattet, einer inneren und äußeren Stimme. „Sie“, dargestellt von der Sopranistin Patrizia Ciofi, hat die Altistin Noa Frenkel als innere Stimme an ihrer Seite, „Er“, gesungen von Bariton Dietrich Henschel, hat Countertenor Terry Wey als innere Stimme neben sich. So hören wir nicht nur die zwei Personen miteinander in Dialog treten, sondern auch das Ungesagte aus ihrem Inneren: Widerstreitendes, Ängste. Wir hören ihre Sprachlosigkeit füreinander.

Regisseur Claus Guth gelingt es, diese Spannung von Nähe und Distanz einzufangen; das Bühnenbild von Christian Schmidt bildet den Innen-Außen-Dualismus nach, der durch die zwei Stimmen in den Personen ausgeführt wird: Auf der einen Seite einer Drehbühne sehen wir die Treppe, das Außen, den sichtbaren Schau-Platz der Begegnung, auf der anderen Seite Wohnräume der beiden Protagonisten. Im Hintergrund befinden sich Videoleinwände, die den Raum auszudehnen scheinen – wir sehen in den von rocafilm gestalteten Videosequenzen die Protagonisten in der Menge durch die Straßen von Berlin laufen oder auch Nahaufnahmen ihrer Gesichter, manchmal auch unheimlich wirkende, schwer zu decodierende Bilder wie aus einer Alptraumsequenz – denn in dieser Begegnung ist nicht alles nur traumhaft schön: Er träumt, ein Baum breche durch den Boden eines Hauses, durch das er läuft, und er sieht Massen von Ameisenfamilien. Sie träumt, das Badezimmer werde von Moos bewachsen, schließlich bewächst das Moos auch sie, nimmt ihr Stimme und Luft. Die Öffentlichkeit der Straße wird durch diese oft unheimlich werdenden Kammer-Räume kontrastiert. Liebe ist eine Heim-Suchung, die auch das Heim, die Sicherheiten, herauszufordern beginnt.

Eine Heimsuchung ist auch die musikalische Gestaltung der Oper: Das Orchester, dirigiert von Johannes Kalitzke, wird ergänzt durch Ensemble Nikel und durch ein Vokalensemble, das sich in den Zuschauerlogen befindet, auch durch die im Parkett platzierte Vokalartistin Frauke Aulbert und einen Solokontrabassisten neben ihr. Zu alledem kommt noch elektronische Musik, die mittels eines Lautsprecherbeamers durch den Raum geschickt wird.

Wir hören einen Bienenschwarm, Atemgeräusche und Flüstern, Geräusche, die an der Schwelle des Hörbaren sind. Der Chor nimmt die öffentliche Stimme der Kommentierung ein, er vertritt die Narration der Liebe, er interpretiert das Geschehen, er ist vielleicht die Stimme, die wir sonst immer hören, wenn er singt: „Deep reds and dark blues / love is approaching“– doch das, was zwischen Ihm und Ihr in dieser ganz eigenen Geschichte passiert, entwickelt sich auch unabhängig davon.

Die Musik kommt so nah, dass man zeitweise glaubt, sie greifen und spüren zu können und nicht mehr genau weiß: Habe ich gerade meinen eigenen Herzschlag gehört, das Atmen des Mannes neben mir, oder ist es eine Einspielung gewesen … aber von wo…? ASMR (Autonomous Sensory Meridian Response) beschreibt ein Gefühl, das durch bestimmte Klänge ausgelöst werden kann. Czernowin setzt diese Klänge gekonnt ein. Musik wird so ein körperliches Erleben, der liebende, begehrende und begehrte Körper scheint ein Klang-Körper zu sein.

„Heart Chamber“ verfolgt keine klare Botschaft, keine Moral; am Ende steht zwar „I love you“ gesungen im Raum – doch dann sehen wir noch einmal die Treppe: Das Honigglas fällt erneut, und diesmal ist es ein anderer, der es aufhebt. Es könnte alles ganz anders sein, es hätte eine andere Geschichte werden können, vielleicht auch überhaupt keine Geschichte – es ist alles flüchtig, zerbrechlich, zu-fällig; doch es ist auch eine Entscheidung, dem Augenblick Bedeutung zu geben.

Wenn es eine Botschaft gibt, dann vielleicht diese: Hört hin, lauscht in einander und in euch selbst hinein, haltet all die Klänge aus, die in diesen zerbrechlichen und süßen Augenblicken der Liebe entstehen.

Czernowin hat die unerzählte Vorgeschichte aller großen Narrationen über die Liebe komponiert; sie hat die große Erzählung von der Liebe in Klänge dekonstruiert und so gezeigt, warum wir sie überhaupt immer wieder hören und verstehen. Vielleicht ist „Heart Chamber“ auch deswegen eine Oper, die so tief berührt.

Spielplan und weitere Informationen:
https://www.deutscheoperberlin.de/

Bild oben: HEART CHAMBER, Regie: Claus Guth, Uraufführung am 15. Novemberi 2019, Deutsche Oper Berlin, copyright: Michael Trippel