Könnten Sie einen prominenten deutschen Juden nennen?

0
140

Eigentlich hatte ich eine kleine Umfrage machen wollen, hatte von meinen deutschen Landsleuten wissen wollen, an welche einheimische jüdische Persönlichkeit Sie zuallererst dächten. So eine Art Ranking haette es werden sollen, mit Auswertung und versöhnlichem Schlusswort. Jedoch kam alles ganz anders und am Ende taten sich regelrechte Abgründe auf….

Von Robert Schlickewitz 

Befragt hatte ich im herbstlichen München des Jahres 2019 nahezu einen jeden, dem ich im Alltag begegnete: Sozialarbeiter an einer Sozialstation, Dozentinnen eine privaten Hochschule, einen Psychologen, Verkaeufer im Einzelhandel, Buchhaendlerinnen, Hausmeister, Bibliothekarinnen, Schüler, Studentinnen und Azubis.

Erste ernüchternde Erkenntnis: Rund neun von zehn Angesprochenen konnten gar keinen Namen nennen. Eher gespielt selbstbewusst als peinlich berührt nahm die große Mehrheit bei Ausreden Zuflucht. Nur eine Minderheit vermochte einen oder mehrere Namen zu nennen, in der Regel korrekte Namen.

Erst als ich meinerseits die Namen Heinrich Heine, Albert Einstein und Charlotte Knobloch einbrachte, begann es bei relativ Vielen zu daemmern.

– Man sei zu sehr überrascht gewesen, habe nicht sofort in die richtige Richtung denken können, sei perplex erwischt worden, oder – das sei ja doch „ein sehr spezielles Gebiet, und überhaupt…“

Bildungsdefizite dürften hinter Antworten stehen wie: 

„Was, Heine/Einstein war Jude! Wusste ich nicht, sagt ja aber auch einem keiner!“

Zweite zwischenmenschliche Erkenntnis: Manche Gesprächspartner blockten, sofort nach Vernehmen der Eingangsfrage, ab, taten vielmehr in Gestik, Mimik und/oder Worten kund, nicht antworten zu wollen (oder zu koennen), gingen sogar in Abwehrstellung über: „Dazu moechte ich jetzt nichts sagen, ich habe es eilig/habe zu tun/muss weiter.“

Die dritte Erkenntnis wurde zum Schlüsselerlebnis: Eine Bibliothekarin mit akademischem Hintergrund, schreiendem Neugeborenem im Arm und zwischen zwei Mobiltelefonaten in einem Café nahe dem Gaertnerplatz erwies sich als einzige, willens und in der Lage zu weitergehender Reflexion:

„Eine Beklemmung macht sich in mir bemerkbar. Eine plötzliche Barriere in meinem Kopf hinderte mich daran zu antworten. – Das sage ich jetzt nicht nur zu Ihnen, das stelle ich für mich selbst fest. Ich werde mir bewusst, dass das was war in unserem Land, einen Schatten in meinem Unterbewusstsein ausgelöst hat. Dieser Schatten verhinderte, dass ich aus dem Stegreif eine Frage beantworten konnte, die unter anderen Umständen ganz leicht zu beantworten gewesen waere.“

Eine in jeder Hinsicht bemerkenswerte Einsicht. Ja – vielleicht sollte man uns Deutsche häufiger mit dergestalten Denkanstößen konfrontieren.

Juden und nichtjüdische Deutsche trennen immer noch Welten. Die in der Einleitung angesprochenen Abgründe bleiben weiter bestehen und sie sind unvermindert tief. Dies ergab erst eben auch die letzte repräsentative Umfrage des Jüdischen Weltkongresses zu Antisemitismus (Sommer 2019).

Die so weit verbreitete Abneigung gegenüber Juden in Deutschland liegt einmal am fehlenden Wissen über Juden in Deutschland, und dann daran, dass eine breite Bevölkerungskreise einbeziehende – kollektive – und gemeinhin anerkannte Verarbeitung der gemeinsamen Vergangenheit bis heute ausgeblieben ist.

Zwar sind die zwoelf Jahre des Dritten Reiches inzwischen relativ gut erforscht und weitgehend auch publizistisch umgesetzt worden, jedoch liegen die übrigen 1000 Jahre gemeinsamer Geschichte weiterhin im Dunkeln des Bewusstseins deutscher Menschen, weswegen jedwedes Verstaendnis um wichtige Zusammenhaenge und Voraussetzungen fehlen muss.

Warum so viele Deutsche unter Hitler Juden bedenkenlos und ohne schlechtes Gewissen denunzieren, berauben, foltern oder ermorden konnten, wird naemlich erst klar, wenn man die deutsche Pogromgeschichte kennt

https://www.hagalil.com/2017/11/pogrome-in-deutschland/

wenn man die deutsche Sprache als eine Sprache beispiellosen Judenhasses begreifen konnte

https://www.hagalil.com/2016/10/judenkomposita/
https://www.hagalil.com/2014/02/redewendungen/

wenn man die Kultur der Deutschen als eine Kultur judenfeindlicher Intoleranz und Verfolgungsrechtfertigung kennengelernt hat

https://www.hagalil.com/2014/03/goethe/
https://www.hagalil.com/2014/01/judennasen/
https://www.hagalil.com/2013/11/zoeberlein/
https://www.hagalil.com/2014/02/meyer-1905/
https://www.hagalil.com/2009/03/deggendorf/
https://www.hagalil.com/2010/02/brunnenvergifter/
https://www.hagalil.com/2009/04/volkslied/

wenn man schließlich die Religion der Deutschen als eine Religion des vorgelebten Judenhasses identifizieren konnte

https://www.hagalil.com/2010/03/luther-graetz/
https://www.hagalil.com/2011/02/sixtus/
https://www.hagalil.com/2009/05/goldstein/
https://www.hagalil.com/2012/02/willy-cohn/
https://www.hagalil.com/2010/05/oberammergau/
https://www.hagalil.com/2009/04/brauchtum/
https://www.hagalil.com/2011/01/passau/
https://www.hagalil.com/2009/06/ritualmordbeschuldigungen-2/
https://www.hagalil.com/2009/05/ritualmordbeschuldigungen/
http://www.judenundbayern.de/01judenineuropa.html