Israels „Problemjuden“

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Immer mehr Juden machen Aliyah. Doch ihre Zuwanderung nach Israel trifft nicht überall auf Begeisterung. Denn in den Augen des Innenministers und des Oberrabbinats sind viele von ihnen keine „richtigen“ Juden. Und ihre Zahl wächst kontinuierlich, wie aktuelle Statistiken belegen…

Von Ralf Balke

Harmonie ist nicht unbedingt das Wort, das einem zuerst einfällt, wenn es um das Verhältnis von Aryeh Deri und den Israelis russischer Herkunft geht. Erst im Frühjahr polterte der Innenminister, der zugleich einer der führenden Köpfer der sephardisch-orthodoxen Shass-Partei ist, gegen Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. „Es ist heute nahezu unmöglich, durch die Flure des Einwanderungsministeriums zu gehen, ohne Russisch zu können“, erklärte er im März auf einer Wahlveranstaltung in der Küstenstadt Ashdod. „Schluss damit! Man sollte dort endlich auch anfangen, Französisch, Amharisch oder andere Sprachen zu benutzen.“ Mit einem Seitenhieb gegen seinen politischen Konkurrenten Avigdor Lieberman von der Israel Beitenu-Partei, der selbst aus Moldawien stammt, forderte er, dass das Einwanderungsministerium nicht mehr – so zumindest seine Behauptung – exklusiv den Zuwanderern aus Russland oder der Ukraine zur Verfügung stehen sollte, sondern auch denen aus anderen Ländern wie Frankreich oder Äthiopien.

Aber dann holte Deri noch einmal richtig aus. „Es ist sowieso schon ärgerlich genug, dass hunderttausende Israelis, die dank des Rückkehrgesetzes aus der ehemaligen Sowjetunion einwandern konnten, gemäß unserer Religionsgesetze keine richtigen Juden waren. Und die Tatsache, dass sie nun hier leben, finde ich äußerst bedauerlich.“ Damit hat Deri in der ihm ganz eigenen Art ein Thema von gewaltiger gesellschaftlicher Sprengkraft angesprochen – und sich zugleich den Vorwurf eingehandelt, ein Rassist zu sein. Nicht zum ersten Male übrigens, denn seine xenophoben Äußerungen sind berüchtigt. Außer russischstämmigen Israelis hatte er bereits mehrfach Arbeitsmigranten oder äthiopische Juden rassistisch beleidigt.

Das eigentliche Problem aber lautet: Das Oberrabbinat in Israel erkennt nur solche Personen als Juden an, die eine jüdische Mutter haben oder nach Kriterien, die die Orthodoxen festgelegt hatten, zum Judentum konvertiert sind. Und deshalb gelten in den Augen dieser religiösen Autoritäten – und auch von Deri – über 400.000 Israelis, von denen die Mehrheit russischer oder ukrainischer Herkunft ist, eben nicht als Juden. Zwar sind sie ganz offiziell Staatsbürger mit allen Rechten und Pflichten, zahlen Steuern und leisten Militärdienst – wenn es aber um Fragen der Eheschließung nach jüdischem Brauch oder die Beerdigung auf einem jüdischen Friedhof geht, werden sie oftmals mit diskriminierenden Regelungen konfrontiert. Bis zum Jahr 2013 war es beispielsweise üblich, gefallene israelische Soldaten, deren Status als Juden aus halachischer Sicht zweifelhaft war, nicht mit ihren Kameraden auf einem Militärfriedhof zu beerdigen, dann wurde ein Kompromiss ausgehandelt, in dem man separate Bereiche auf Militärfriedhöfen einrichtete. Und so manches Paar musste bereits nach Zypern oder ein anderes Land ausweichen, um überhaupt heiraten zu können, weil es in Israel bis dato keine Zivilehe gibt und das Rabbinat wieder einmal das Jüdischsein eines der Partner in Frage gestellt hatte.

Auch ansonsten stiftete Deri mit seinen Äußerungen Verwirrung. Erst behauptete er, dass das Innenministerium bereits potenziellen Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion DNA-Tests unterziehe, um ihre Aliyah zu erschweren. Dann wiederum erklärte der Shass-Mann, dass derart fragwürdige und erniedrigende genetische Untersuchungen zwecks Überprüfung einer jüdischen Herkunft natürlich nicht durchgeführt würden und für die Zukunft auch nicht geplant seien. Was für das Innenministerium vielleicht zutreffen mag, scheint beim Oberrabbinat bereits wohl gang und gäbe zu sein. Laut dem ITIM-Institut, einer Organisation, die Israelis bei Problemen mit den religiösen Autoritäten hilft, wurden in jüngster Vergangenheit immer wieder Israelis, die aus der ehemaligen Sowjetunion stammen, dazu aufgefordert, sich einem solchen DNA-Test zu unterziehen, um belegen zu können, dass sie auch „genetisch jüdisch“ seien. Von mindestens 20 Paaren ist dabei die Rede. Darauf angesprochen, erklärte David Lau, Israels aschkenasischer Oberrabbiner, dass es sich nur um „Einzelfälle“ gehandelt hätte. „Es ist bedauerlich, dass zahlreiche Einwanderer, die auf Basis des Rückkehrgesetzes das Recht hatten, nach Israel zu kommen, nach den Regeln der Halacha nicht als Juden gelten können“, begründete auch Lau mit dem Verweis auf das israelische Gesetz, das es jeder Person mit einem jüdischen Großelternteil ermöglicht, nach Israel einzuwandern und dort zu leben, diese DNA-Tests.

Dabei ist das Rückkehrgesetz so etwas wie das raison d’être des jüdischen Staates. Seit seiner Gründung investiert Israel in großem Maße finanzielle und personelle Ressourcen, um Juden aus aller Welt die Einwanderung zu ermöglichen und sie in die Gesellschaft zu integrieren. An den Zahlen misst sich auch der Erfolg dieses urzionistischen Prinzips: So hat sich seit 2008 die Zahl der Neubürger von rund 15.500 auf zuletzt 29.500 pro Jahr beinahe verdoppelt. Rund zwei Drittel dieser Einwanderer stammt mittlerweile entweder aus Russland oder der Ukraine. Laut Sergio DellaPergola, einem der renommiertesten Demographie-Experten in Israel, dürfte mehr als die Hälfte von ihnen aus halachischer Sicht aber keine Juden sein. „Wir können hier ein sehr typisch jüdisches Migrationsmuster wiedererkennen“, erklärt der Professor, der an der Hebräischen Universität lehrt. „Personen mit einem eher ausgeprägt jüdischen Bewusstsein waren die ersten, die in den 1990er Jahren die Möglichkeit zur Aliyah wahrnahmen. In der zweiten Phase dann ist die Gruppe der Zuwanderer deutlich diverser. Konkret heisst das, dass der Anteil von Familien mit nichtjüdischen Angehörigen steigt.“ Die Zahl der Juden, die derzeit noch in Russland leben und halachisch jüdisch sind, veranschlagt er auf ungefähr 172.000. Doch aufgrund der Regelungen des Rückkehrgesetzes hätten über 600.000 Russen die Option, nach Israel auszuwandern. Ähnlich sieht es in der Ukraine aus. Rund 50.000 Menschen wären aus der Sicht des Oberrabbinates eindeutig Juden, mehr als 200.000 könnten aber aufgrund eines jüdischen Eltern- oder Großelternteils Aliyah machen.

2017 stellten Russland und die Ukraine zusammen rund 49 Prozent aller Neubürger, 2018 waren es bereits 57 Prozent und in der ersten Hälfte des Jahres 2019 sogar 68 Prozent, so die aktuellen Statistiken. Zum Vergleich: 2008 waren es nur 25 Prozent. Allein deshalb fallen DellaPergolas Einschätzungen zufolge derzeit mittlerweile 426.700 Israelis, also etwas weniger als fünf Prozent der Gesamtbevölkerung, unter die von der staatlichen Statistikbehörde geschaffenen Kategorien „andere“ oder „keine Religionszugehörigkeit“. Aber nicht nur ihnen werden wesentliche Grundrechte wie die Eheschließung vorenthalten, sondern auch ihren Nachkommen. Denn wenn Frauen unter eine der beiden Kategorien fallen, sind ihre Kinder in den Augen der religiösen Autoritäten ebenfalls keine „richtigen“ Juden. Und die Zahl solcher „Problemjuden“ wird wohl weiter anwachsen. In wenigen Jahren könnten es wohl eine halbe Million und mehr sein. Denn das repressive politische Klima in Russland sowie die oftmals prekären Verhältnisse in der Ukraine, die im Zusammenhang mit dem militärischen Konflikt im Osten des Landes stehen, den Russland vom Zaun gebrochen hat, sorgen dafür, dass die Einwanderungszahlen aus diesen beiden Ländern sprunghaft angestiegen sind. Man spricht deshalb bereits von dem Phänomen der „Putin-Aliyah“.

„Viele dieser Zuwanderer lebten in Russland und der Ukraine als Juden oder wurden als solche behandelt“, bringt es Xenia Svetlova, eine ehemalige Knesset-Abgeordnete der Zionistischen Union und selbst aus der Exsowjetunion stammend, auf den Punkt. „Sie müssen sich nun in Israel als Bürger zweiter Klasse fühlen.“ Eine Studie des Israel Democracy Institutes aus Jerusalem bestätigt diese bittere Ironie. „In manchen Fällen wurden sie in den Herkunftsländern mit Antisemitismus konfrontiert, weil man dort über den Vater die Religionszugehörigkeit festlegte“, schreiben Yedidia Stern und Netanel Fisher, ihre Autoren. „Deshalb wurden sie als Juden diskriminiert und nun werden sie hier nicht als solche anerkannt.“ Eine nachträgliche Konversion in Israel, um den Ansprüchen des Oberrabbinates zu entsprechen, kommt angesichts des Versagens des staatlichen Systems auf diesem Gebiet für Mehrheit dieses Personenkreises kaum in Frage, so die Analysten. Denn während die Gruppe derer, die unter die ominöse Kategorie „andere Religionszugehörigkeit“ fallen, im Jahr um rund 10.000 Personen anwächst, können aus Kapazitätsgründen und anderen Hindernissen nur insgesamt 1.800 diesen Konversionsprozess durchlaufen. Bis dato beträgt die Gesamtzahl derer, die das Prozedere auf sich genommen hat, ungefähr 24.000. „Auf Basis dieser Daten kann man durchaus von einem Scheitern des Ansatzes sprechen“, heißt es weiter in der Studie.

Zudem empfindet ein nicht geringer Teil von ihnen dieses Angebot als eine Beleidigung und Entwürdigung durch die israelischen Behörden. Schließlich hätten sie sich immer schon als Juden empfunden, weshalb der Konversionsprozess auf Ablehnung stösst. Dies gilt vor allem für die von den Forschern des Israel Democracy Insistutes als „Generation 1,5“ bezeichnete Gruppe derer, die als Kinder eingewandert waren und – angefangen von der Schule bis hin zum Militär – eine vollständige israelische Sozialisation erfahren hatten. Die Jewish Agency, die dieses Jahr ihren 90. Geburtstag feiert und die Einwanderung von Juden organisiert, ist sich der Probleme durchaus bewusst. Man habe sich ebenfalls um eine Erleichterung der Konversionsprozesse bemüht, wäre aber stets am Widerstand der Orthodoxen gescheitert, heißt es von dort. Viel bemerkenswerterweise sind in diesem Kontext aber die Attacken eines Aryeh Deri als auch des Oberrabbinates auf das Rückkehrgesetz. Sie stellen damit das Prinzip von Israel als einem „safe space“ für Juden in Frage und befinden sich damit zugleich in ziemlich schlechter Gesellschaft – nämlich angefangen von allen antizionistischen Gruppen bis hin zu den Palästinensern, die das Rückkehrgesetz unisono als „rassistisch“ diskreditieren und versuchen, damit an einem der Grundpfeiler des Staates Israels zu rütteln.

Bild oben: Screenshot der Webseite von Israel Beiteinu