Mister Security und sein Joker

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Der Wahlkampf in Israel geht in die heiße Phase. Im letzten Moment versucht Amtsinhaber Benjamin Netanyahu durch die Ankündigung, Teile des Westjordanlands zu annektieren, im nationalistischen Lager zu punkten…

Von Ralf Balke

Es sind genau die Bilder, die kein Kandidat auf ein hohes Regierungsamt in Israel wirklich braucht, erst recht nicht so zu kurz vor dem eigentlich Wahltermin am 17. September. Denn als Ministerpräsident Benjamin Netanyahu am Dienstag Abend in Ashdod vor Anhängern seinen großen Auftritt haben soll und auf seine Herausforderer verbal einzudreschen beginnt, erklingen die Sirenen. Es ist Alarmstufe Rot, Raketen aus dem Gazastreifen, abgeschossen von der Hamas oder dem Islamischen Dschihad, fliegen in Richtung der keine 30 Kilometer nördlich von der Palästinenserenklave gelegenen Hafenstadt. Sofort muss Netanyahu seine Rede unterbrechen und begibt sich wie die meisten anderen der Anwesenden auch in einen Schutzraum. Aber auf einem Video ist zu sehen, wie die Bodyguards des Ministerpräsidenten ihn geradezu von der Bühne schubsen, um ihn in Sicherheit zu bringen. Zwar ist der Spuk nach wenigen Minuten wieder vorbei, weil das Abwehrsystem Iron Dome die Geschosse aus Gaza vom Himmel holen konnte. Und auch seine Rede vermochte Netanyahu wieder aufnehmen, weshalb er unmittelbar nach dem Auftritt auf Twitter auch schrieb: „Großartige Unterstützung in Ashdod. Ihr müsst wählen gehen, um eine links-arabische Regierung zu verhindern.“

Doch für seine politischen Gegner waren diese Szenen ein gefundenes Fressen: Mister Security, wie der Ministerpräsident gerne genannt wird, musste vor den Geschossen der Islamisten Reißaus nehmen und einen Schutzraum aufsuchen – die Außenwirkung solcher Bilder ist verheerend. „Eine Alarmstufe Rot heute Abend in Ashdod, und das während Netanyahu auf der Bühne steht, ist ein Alarmzeichen für alle Bürger Israels. Netanyahu hat abgewirtschaftet und kann die Bühne verlassen“, kommentierte Yair Lapid aus dem Führungsduo von Blau-Weiß, der derzeit größten Oppositionspartei, den Vorfall. Auch sein Mitstreiter Benny Gantz, der gerne auf Netanyahus Sessel Platz nehmen möchte, meldete sich zu Wort. „Sie haben den Ministerpräsidenten dazu gezwungen, einen Bunker aufzusuchen.“ Ex-Generalstabschef Gabi Ashkenasi, ebenfalls für Blau-Weiß im Wahlkampf unterwegs, dagegen hätte seinen zeitgleich stattfindenden Auftritt im nahen Ashkelon trotz Raketenalarm nicht feige unterbrochen. „Er blieb auf der Bühne und redete weiter als ob nichts passieren würde“, so Gantz voller Stolz. „Wir haben keine Angst, weder vor der Hamas, noch vor der Hisbollah. Wir stehen zu unseren Verpflichtungen, wir sind da.“ Nun könnte man darauf verweisen, dass die Vorschriften von Pikud HaOref, was auf Deutsch so viel wie Heimatfront-Kommando bedeutet, auch für Politiker von Blau-Weiß gelten. Darin heißt es ganz unmissverständlich, dass alle Personen beim Ertönen der Sirenen sofort einen Schutzraum aufzusuchen haben – Ashkenasi hat also einfach nur leichtsinnig und regelwidrig gehandelt. Und ob Lapid oder Gantz in einer ähnlichen Situation sich anders verhalten hätten als Netanyahu, darüber darf gerne spekuliert werden.

Der Vorfall in Ashdod bot Kritikern sowohl von Links als auch von Rechts erneut die Gelegenheit, Netanyahus Politik gegenüber den im Gazastreifen regierenden Islamisten in Frage zu stellen. Denn seit über einem Jahr wiederholt sich folgende Choreographie: Mal ist es die Hamas, mal der Islamische Dschihad, die Raketen auf Israel feuern, unter denen vor allem der Süden des Landes zu leiden hat. Israel reagiert daraufhin mit gezielten Angriffen auf Einrichtungen der beiden Islamistenorganisationen, drosselt beispielsweise die Lieferung von Treibstoff und schränkt die Fischereizone für palästinensische Fischer ein. Beruhigt sich die Lage wieder, lockert Israel die Zügel wieder und erlaubt sogar die Weitergabe von Unterstützungsgeldern aus Katar an die Hamas über sein Territorium. Auf diese Weise will Netanyahu den Konflikt deckeln und vermeidet gezielt alle weiteren Eskalationen. Das aber deuten seine politischen Kontrahenten wiederum als Schwäche und Konzeptlosigkeit. Ihr Hauptkritikpunkt: Israel Abschreckungspotenzial würde darunter leiden und man sei erpressbar geworden. „Die Ereignisse von heute beweisen, dass Netanyahus Politik, die für eine Kapitulation vor dem Terror steht, völlig gescheitert ist“, erklärte unmittelbar nach dem Raketenalarm in Ashdod Avigdor Lieberman. Der Vorsitzende der Partei Israel Beitenu war bis Ende vergangenen Jahres Verteidigungsminister im Kabinett Netanyahus und hatte die Regierung aus Protest gegen genau diese seiner Meinung nach zu „softe“ Haltung gegenüber den Islamisten verlassen.

Und weil gerade Wahlkampf in Israel ist, weiß Netanyahu auch, dass seine Gaza-Politik ihm Stimmen kosten könnte. Insbesondere die Konkurrenz durch Lieberman, der sich neuerdings als Sprachrohr all jener zu positioniert, die eher nationalistisch eingestellt sind, aber von der Bevormundung im Alltag durch die Haredim die Nase voll haben, dürfte ihm zu schaffen machen. Zwischen neun und elf Sitze in der Knesset könnte Israel Beitenu laut Meinungsumfragen am 17. September erhalten, im Vergleich zu dem Ergebnis vom 9. April eine glatte Verdopplung. Auch das neue Rechtsaußenbündnis Yamina mag für enttäuschte Wähler des Likuds zunehmend eine Option sein. Kein Wunder, dass Ex-Bildungsminister Naftali Bennett den Vorfall in Ashdod gleichfalls zum Anlass nahm, Netanyahu zu attackieren. Er sprach von einer „nationalen Demütigung“ und erklärte: „Die Hamas hat ihre Furcht vor Israel verloren. Israels Sicherheit kann nur durch die gezielte Tötung der Hamas-Führung wieder hergestellt werden und nicht durch Pressekonferenzen.“ Den Umfragen zufolge käme Yamina aktuell auf neun bis zehn Sitze, auch das eine deutliche Steigerung gegenüber den Wahlen im April, als Bennett und die ehemalige Justizministerin Ayelet Shaked mit ihrer eigenen Partei Die Neue Rechte an der 3,25 Prozent-Hürde gescheitert waren und die Allianz aus der ehemaligen nationalreligiösen HaBeit HaYehudi und der ultrarechten Tkuma-Partei unter dem Namen Union der rechten Parteien auf gerade einmal fünf Sitze kam. Yamina als gemeinsame Plattform aller drei Rechtsparteien kann wohl zwischen acht und zehn Abgeordnete in die nächste Knesset entsenden, so die Auguren.

Der Likud dagegen schwächelt leicht in den Umfragen. Im April hatte man 35 Mandate bekommen, wozu nach der Fusion mit der wirtschaftsliberalen Kulanu Partei von Finanzminister Moshe Kahlon noch vier weitere Sitze in der Knesset hinzukamen. Doch aktuell liegt die Partei von Ministerpräsident Netanyahu bei 31 bis 32 Mandaten. Zwar sieht es bei der Konkurrenz von Blau-Weiss nicht viel besser aus, sie kam im April auf 35 Sitze und dürfte laut Meinungsforschern am 17. September ebenfalls zwischen 30 und 32 Mandate erhalten. Vor genau diesem Hintergrund ist denn auch die Ankündigung von Netanyahu am Dienstag zu verstehen, dass er im Falle eine Wahlsiegs Teile der Westbank annektieren würde. „Heute verkünde ich meine Intention, nach der Bildung einer neuen Regierung die israelische Souveränität auch auf das Jordantal sowie die Region nördlich des Toten Meeres anzuwenden“, so der Ministerpräsident. „Dies ist eine einmalige historische Gelegenheit, die israelische Souveränität auf unsere Siedlungen in Judäa und Samaria sowie auf andere wichtige Regionen auszudehnen. All das soll im Sinne unser Sicherheit, unseres historischen Erbes und für unsere Zukunft geschehen.“ Um welche Siedlungen es sich dabei handeln könnte, darüber ließ er sich nicht aus. „Aus Respekt vor Präsident Trump und dem großen Vertrauen in unsere Freundschaft warte ich mit diesem Schritt bis zur Bekanntgabe seines politischen Konzepts.“ Gemeint ist der ominöse amerikanische Friedensplan für den Nahen Osten, über den eigentlich nichts Genaues bekannt ist. Erst nach den Wahlen in Israel will der US-Präsident mit den Details rausrücken.

Natürlich ist Netanyahus Ankündigung nur eine bloße Absichtserklärung und nichts anderes. Es ist quasi ein Joker, den er kurz vor dem Urnengang aus dem Ärmel gezogen hat, um gegen die Konkurrenz im rechten Lager beim Wähler zu punkten. Wer die Annexion von Gebieten im Westjordanland will, muss halt den Likud wählen, so die Botschaft. Und sollte Netanyahu gewinnen, so kann er sich nach den Wahlen wieder ganz anders dazu äußern, insbesondere aufgrund der Tatsache, dass US-Präsident Trump vielleicht mit seinem Vorhaben nicht ganz einverstanden ist, weil es wohl keinerlei vorherigen Absprachen dazu gab. „Netanyahu missbraucht die engen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Israel und beschädigt sie dadurch“, warnte bereits Benny Gantz. „Er ruiniert dadurch auch die Beziehungen zu der jüdischen Gemeinschaft in den USA, und das ist völlig unakzeptabel. Unsere Verbindungen sind strategischer Natur, das Verhältnis sehr eng und für uns lebenswichtig. All das basiert auf gemeinsamen Interessen und keinesfalls auf irgendwelche Deals, die mit dem Wahlkampf zu tun haben.“
In der der Tat sollte Netanyahu nicht allzu blind auf die Unterstützung aus Washington bauen. Anders als im Wahlkampf im Frühjahr war der amerikanische Präsident in den vergangenen Monaten nicht gerade durch Gefälligkeiten zugunsten des Ministerpräsidenten aufgefallen. Weder gab es etwas Vergleichbares wie die Anerkennung der israelischen Souveränität über den Golan durch Washington im März, noch stießen die jüngsten Absichten, Teile des Westjordanlands zu annektieren, dort auf Begeisterung.

Eher das Gegenteil ließ sich beobachten. Trump erklärte plötzlich mehrfach seine Bereitschaft, sich mit Hassan Rouhani, dem Präsidenten des Irans, zu treffen, und das, obwohl vor wenigen Tagen Netanyahu mit neuem Geheimdienstmaterial über bis dato unbekannte iranische Nuklearanlagen aufwartete. Auch der jüngste Rauswurf des Nationalen Sicherheitsberaters John Bolton sollte als Alarmsignal gedeutet werden, schließlich verstanden sich dieser und Netanyahu bestens, beide forderten ein energischeres Durchgreifen gegen die Mullahs. Zu sehr befürchtet man in Jerusalem nun eine Wiederholung dessen, was bereits im Atomstreit mit Nordkorea zu beobachten war: Erst eine kriegerische Rhetorik seitens des US-Präsidenten, daraufhin mehrere Treffen mit dem Diktator, der alle Absprachen missachtete und munter weiter Raketen testete, was zu keinerlei Konsequenzen führte. Vielleicht dämmert es einigen ja jetzt, dass die ganzen amerikanischen Wohltaten in jüngster Vergangenheit wie die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt womöglich einen politischen Preis haben, von dem man aber erst nach Bekanntgabe des Nahostfriedensplans Genaueres erfährt. Ob der Ministerpräsident in Israel dann noch Benjamin Netanyahu heißt und die geplante Annexion von Teilen des Westjordanlands überhaupt ein Thema ist, das weiß man erst nach dem 17. September.

Bild oben: Premier Netanyhu, 2015, (c)  Foreign and Commonwealth Office